Die weiterführende Literatur zu interkultureller Kommunikation ist zahlreich, fast unübersehbar, jedoch zumeist auf Kommunikation im Ausland ausgerichtet. Beispielhaft seien folgende sehr unterschiedliche Werke genannt:
Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation: Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, 3. Aufl., Stuttgart 2012.
Kumbier/Schulz von Thun, Interkulturelle Kommunikation: Methoden Modelle Beispiele, 6. Aufl., Reinbek 2006.
Müller/Gelbrich, Interkulturelle Kommunikation, München 2013.
Kasuistik:
Letzter Auslöser, dieses Buch zu schreiben, war ein Erlebnis des Autors in einem Unterbringungsverfahren. Eine junge Afghanin, der ethnischen Gruppe der Hazara zugehörig, war nach einem Suizidversuch in das Krankenhaus eingeliefert worden. Eine tragfähige ärztliche Diagnose war von der Gutachterin nicht zu erhalten. Es war durch den Ehemann bekannt, dass die Betroffene, die gerade kurz vorher aus einem anderen EU-Land nach Deutschland gekommen war, bereits in dem anderen Land neuroleptisch und antidepressiv behandelt worden war. Der Richter begab sich in Begleitung eines erstklassigen Dolmetschers (ein gebürtiger Iraker, der u. a. als Dolmetscher für Farsi arbeitet) und einer Verfahrenspflegerin in das Unterbringungskrankenhaus und versuchte, die Betroffene anzuhören. Der Ehemann der Betroffenen, der für die Betroffene sichtlich der wichtigste Halt in der Anhörungssituation war, war anwesend. Trotz Erklärungsversuchen seitens des Richters und des Dolmetschers war ersichtlich, dass die Betroffene nicht in der Lage war, die Situation zu verstehen. Das Anhörungsgespräch führte der Richter über den Dolmetscher fast ausschließlich mit dem Ehemann der Betroffenen. Der Dolmetscher, der merkte, dass die Betroffene selbst nicht zu reden imstande war, wandte sich deshalb an den Ehemann. Die Kommunikation brach zusammen, als die Verfahrenspflegerin den Dolmetscher scharf aufforderte, er möge die Betroffene selbst befragen und nicht deren Ehemann. Die vollständige Überforderung der Betroffenen war deutlich. Eine Aussage war von ihr nicht zu bekommen. Es konnte nicht einmal ermittelt werden, ob die Betroffene freiwillig bereit war, im Krankenhaus zu bleiben.
Kommunikation ist vielschichtig. Durch Blicke, Worte, Gesten, durch die Haltung, selbst durch scheinbare Teilnahms- oder Regungslosigkeit teilen wir dem Empfänger – gewollt oder nicht gewollt – viel über unser Selbstverständnis, unsere Meinung oder unsere Gefühlslage mit.
Dabei funktioniert Kommunikation wechselseitig, d. h. der Empfänger ist zugleich Sender einer Nachricht, jede Nachricht provoziert zwangsläufig ein Feedback. Und über das Feedback empfängt der Sender auch Auskünfte über die anderen.
Die Kommunikation funktioniert dann gut, wenn die Nachricht so ankommt, wie sie gemeint war. Und genau hier liegt die Schwierigkeit interkultureller Kommunikation. Da die Art, wie Kommunikation funktioniert, stark kulturabhängig ist, werden ganz unterschiedliche Codes für unterschiedliche Inhalte gebraucht. Dies gilt für die verbale und in noch viel stärkerem Maß für die nonverbale Kommunikation.
Denn der Sinn einer gewollt oder ungewollt übermittelten Nachricht ist immer vom kulturellen und sozialen Kontext abhängig, in dem die Nachricht produziert und übermittelt wird. In unterschiedlichen kulturellen Kontexten wird also der gleichen Verhaltensweise eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen.
Berücksichtigt man zudem, dass jede Nachricht einen inhaltlichen und einen Beziehungsaspekt aufweist, wird die interkulturelle Kommunikation noch schwieriger. Beziehungsaspekt meint, dass jede Nachricht auch Aufschluss darüber gibt, wie der jeweilige Absender der Nachricht seine Beziehung zum Empfänger definiert. So simple Dinge wie der Hinweis auf den kürzesten Weg von einem Ort zum anderen beispielsweise können als Kritik, Befehl oder netter Tipp gemeint oder verstanden werden. Viel hängt vom Ton ab, in dem dieser Hinweis gegeben wird und von der Körpersprache, die ihn begleitet.
Man muss nicht der These mancher Kommunikationswissenschaftler folgen, dass in deutschen Kommunikationszusammenhängen das gesprochene Wort nur weniger als zehn Prozent der Kommunikation ausmacht und Ton, Mimik und Gestik die Kommunikation dominieren.53 Gleichwohl können Ton, Mimik und Gestik eine überragende Bedeutung bekommen, wenn der Betroffene die deutsche Sprache schlecht spricht.
Körpersprache ist zwischen den Kulturen aber ebenfalls sehr unterschiedlich. Mimik kann völlig anders gedeutet werden. Für einen Russen ist es in einem „offiziellen“ Zusammenhang nicht üblich Mimik zu zeigen. Oft hat ein Russe geradezu „zwei Gesichter“: das private und das offizielle. Auch wenn die Anhörung im privaten Umfeld stattfinden sollte, wird der Richter eher selten das private Gesicht zu sehen bekommen.
Bei einem Zuwanderer aus China wird man aufgrund der kulturellen Herkunft auch bei Gesprächen über ernste oder tragische Inhalte möglicherweise auf einen lächelnden Betroffenen treffen. Das wird in einem deutschen Zusammenhang sicherlich als unangemessen interpretiert werden, entspricht aber der chinesischen harmonieorientierten Art der Kommunikation.
Zudem werden in vielen Kulturen die Sach- und die Beziehungsebene in der Kommunikation nicht so scharf getrennt wie in der deutschen.
Wenn Kommunikation zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen stattfindet, ergibt sich die besondere Situation, dass oft unterschiedliche Standardisierungen der Kommunikation verwendet werden. Damit verbunden sind in unterschiedlichen Kulturen auch andere Standardisierungen des Denkens, des Fühlens und auch des Handelns.54
Standardisierung der Kommunikation meint, dass bestimmte Zeichen gebraucht werden, die die Mehrheit der Gruppe versteht und gebraucht. Hierzu gehören nicht nur sprachliche Formeln oder Höflichkeitsrituale, sondern selbst Begriffe, die vordergründig betrachtet leicht zu übersetzen sind, weisen eine kulturelle Dimension auf, die von einem Angehörigen einer anderen Kultur nicht immer verstanden werden kann. Beispielsweise kann das Wort Familie unterschiedlich verstanden werden, das Wort Freund, aber auch das Wort Liebe oder das Wort Hass kann verschiedene Ausprägungen eines Gefühls ausdrücken. Und selbst mit so scheinbar eindeutigen oder wertfreien Worten wie Stadt oder Wald können sehr unterschiedliche Konnotationen verbunden sein. Denn das Verständnis vieler Begriffe ist in unterschiedlichen Kulturen verschieden standardisiert.
Für die interkulturelle Kommunikation ist es wichtig, sich darauf einzustellen, dass auch Gefühle anders standardisiert sind. Gerade im Betreuungsverfahren kann dies bedeutsam sein. Gefühle wie Trauer, Scham, Anteilnahme oder Freude werden in verschiedenen Kulturen nicht nur unterschiedlich geäußert, sondern auch unterschiedlich empfunden.
Nach Auernheimer beinhaltet interkulturelle Kommunikation vier Dimensionen:
- Machtasymmetrien
- Kollektiverfahrungen
- Fremdbilder, ethnische Grenzziehungen
- die Differenz der Kulturmuster.55
Alle diese Dimensionen hängen miteinander zusammen. Sie prägen das Bild vom Gegenüber.
Im Betreuungsverfahren wird sich der Betroffene und werden sich auch dessen Angehörige zumeist als die Machtlosen wahrnehmen. Richter und übrige Beteiligte der Kommunikation werden als die Mächtigen wahrgenommen. Insofern überlagert die Rolle im Verfahren die interkulturelle Dimension der Machtasymmetrien. Diese Wahrnehmung entspricht auch durchaus den realen Verhältnissen. Letztlich ist es der Richter, der entscheidet, wie das Verfahren ausgeht.
Dieses Machtungleichgewicht vermischt sich in der Kommunikation und in der Wahrnehmung mit Erfahrungen mit deutschen Behörden, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, aber durchaus auch mit positiven Erfahrungen, die man etwa durch deutsche Unterstützer erhalten hat. Andererseits bringt auch der deutsche Vertreter der Behörde, der einheimische Richter oder Betreuer eigene Erfahrungen und Fremdbilder mit ein.
Was dabei am häufigsten zu Missverständnissen führt, ist die Differenz der Kulturmuster. Unterschiedliche Verhaltenserwartungen und insbesondere kulturgeprägte und fremdbildgeprägte Auffassungen darüber, was das Gegenüber von einem selbst an Verhalten erwarten könnte, können zu skurrilen Situationen und vermeidbaren Missverständnissen führen. Dies soll in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet werden.
Diese differierenden Kulturmuster können auf verschiedenen Ebenen der Kommunikation zu unterschiedlichen Erwartungen und diesen folgend zu Missdeutungen des tatsächlichen Verhaltens führen.
Während in individualistisch geprägten Kulturen wie den westeuropäischen eher erwartet wird, dass unabhängig von der sozialen Stellung und dem formalen Rang ein Sachproblem von dem erörtert wird, der die höchste Kompetenz aufweist, oder den es konkret angeht, kann in einer kollektivistischen, traditionsorientierten Kultur das Gegenteil erwartet werden. Hier soll die Angelegenheit mit dem erörtert werden, der den höheren sozialen Rang aufweist. So kann die Situation ergeben, dass der Ehemann für seine Ehefrau oder der Vater für die Tochter spricht.
In einer...