Berufsschule in der Krise.
Zur aktuellen Situation der berufskundlichen Schulen
»Ars sine scientia nihil est«, die Kunst ist nichts ohne die Wissenschaft. Das wussten schon die Kirchenbauer Mitte des 12. Jahrhunderts: Nachdem diverse Bauten eingestürzt waren, wurden für Dombaumeister, aber auch für Handwerker wie Steinmetze schriftliche didaktische Standardisierungen geschaffen, die man als frühe Qualitätssicherungsinstrumente betrachten kann (Lipsmeier 2014, S. 7). Der Bildungsforscher Antonius Lipsmeier vertritt damit die These, dass eine Diskussion um die Qualität beruflicher Bildung krisenevoziert ist: Veränderung entsteht erst dann, wenn der Leidensdruck groß genug ist. So zog auch die Lehrlingsbewegung, eine soziale Protestbewegung von Auszubildenden des dualen Ausbildungssystems zwischen 1968 und 1972, eine Debatte über die Qualität des Ausbildungssystems nach sich. Im Fahrwasser der Bewegung entstand 1969 das erste Berufsbildungsgesetz.
Und heute? Es scheint wieder an der Zeit, die Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems auf den Prüfstand zu stellen. Diesmal jedoch nicht, weil systemimmanente Schwächen einer Überarbeitung bedürfen. Diesmal sind es die Menschen und die Gesellschaft, die sich derart gewandelt haben, dass die Möglichkeiten zur individuellen Entwicklung jedes Einzelnen, aber auch zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik, die allesamt im Berufsbildungssystem bereits angelegt sind, weiter und anders ausgeschöpft werden müssen. Berufsbildung muss heute neu gedacht werden. Dabei ist es vor allem die Berufsschule, die im Laufe der Zeit aufs Abstellgleis geraten ist. In ihr steckt das Potenzial, unser gutes Ausbildungssystem zu einem sehr guten zu machen. Nur leider bleibt sie in Reformen und Initiativen meist außen vor. Dieses Buch richtet sich an alle, die mit beruflicher Ausbildung zu tun haben: Ausbilder und Unternehmer, Berufsschullehrer und Bildungspolitiker. Es soll Mut machen, die Berufsschule als Reformlabor und Impulsgeber zu betrachten und nicht als mehr oder weniger lästiges Anhängsel einer vor allem betrieblich orientierten Ausbildung. Sie ist die am meisten vernachlässigte Schulform in Deutschland – und hat gerade deshalb die Chance, zum Motor für Veränderungen zu werden. Zahlreiche Praxisbeispiele aus mehreren Bundesländern zeigen, wie das gehen kann.
Permanentes Bildungs-Upgrade, stärkere Akademisierungstendenzen sowohl in Berufen als auch in Bildungsbiografien, die Entwicklung hin zur Industrie 4.0: Das duale Ausbildungssystem, ein deutsches Erfolgsmodell, ist unter Druck geraten. Die Inhalte der Ausbildungsberufe werden immer anspruchsvoller, ebenso die Wünsche der Chefs an zukünftige Auszubildende. Die Zahl der Ausbildungsberufe und der Lehrlinge sinkt. Die Anzahl der Studenten liegt seit dem Jahr 2009 über der der Auszubildenden. 2,13 Millionen junge Menschen waren damals an den Universitäten eingeschrieben, aber nur 2,11 Millionen junge Erwachsene wählten eine Berufsausbildung. In den Jahrzehnten davor hatte es immer mehr Auszubildende als Studierende gegeben. 2012 studierten bereits mehr als 2,5 Millionen junge Menschen an einer Hochschule, aber nur 1,98 Millionen hatten einen Ausbildungsvertrag unterschrieben. Und die Differenz ist weiter gewachsen: Im Wintersemester 2015/2016 sind so viele Studierende wie noch nie an den deutschen Hochschulen eingeschrieben: nach ersten vorläufigen Ergebnissen rund 2,8 Millionen. Damit erhöhte sich die Zahl der Studierenden im Vergleich zum Wintersemester 2014/2015 um rund 60.000. Die Zahl der Auszubildenden hingegen sank auf 1,4 Millionen.
Betrug die Studienanfängerquote im Jahr 2000 nur 33 Prozent, so erreichte sie 2013 einen Rekordwert von 57 Prozent. Damit wurde das Ziel, das sich Bund und Länder 2008 auf dem Dresdner Bildungsgipfel gesetzt hatten, nämlich die Quote der Studienanfänger bis 2015 auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu erhöhen, weit übertroffen. Auch wenn man die Studienanfängerquote um den Effekt doppelter Abiturjahrgänge und den Anteil der Studenten aus dem Ausland bereinigt, liegt sie 2013 noch immer deutlich über 40 Prozent (vgl. Arp 2015). In Deutschland droht – gemessen am OECD-Durchschnitt – zwar keine Akademikerschwemme, jedoch fehlen immer mehr Menschen in der beruflichen Ausbildung: Wenn sich der Zulauf an die Hochschulen fortsetzt, müssen die Unternehmen in Deutschland laut der Bertelsmann Stiftung in 15 Jahren mit rund 80.000 Lehrlingen weniger auskommen. Noch größer würde die Lücke durch den demografischen Wandel – dieser lässt die Zahlen in allen Bereichen der nachschulischen Bildung sinken. So sei 2030 nur noch mit rund 700.000 Schulabgängern zu rechnen – 2011 waren es noch 880.000. Weil darunter immer mehr Abiturienten sind, die an die Universitäten drängen, werde der Rückgang dort weniger spürbar sein: Die Studie geht davon aus, dass die Erstsemesterzahlen nur gering absinken, auf dann rund 485.000.
Es scheint, als habe die Lehre als Einstieg in eine berufliche Karriere ihren Zenit überschritten. Zumindest steckt sie als Institution in einer ernsten Krise.
»Es gibt eine Fehlwahrnehmung, dass man nur mit Abitur und Studium ein anständiger Mensch in Deutschland ist. Das müssen wir ändern«, sagte Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel Ende 2015. In der Frage, wie Unternehmen, Bildungspolitik und Gesellschaft dieser Krise begegnen sollen, richtet sich der Fokus fast immer auf die betriebliche Seite der Ausbildung. Der zweite Teil des dualen Systems jedoch, die beruflichen Schulen, bleibt in den Debatten außen vor. Ein folgenreicher Fehler: Denn diese Schulform bietet, auch wenn sie von der Krise genauso betroffen ist wie die betriebliche Seite, Veränderungs- und Reformpotenzial, das permanent übersehen wird. Die Berufsschule segelt gewissermaßen im Schatten der großen anderen Schulformen – was einerseits dazu führt, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht angemessen wahrgenommen wird, ihr andererseits aber auch ungeahnte und selten ausgeschöpfte Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Und nicht nur das: Die Berufsschule hat, vielleicht als einzige Schulform, die Chance, zum Brückenbauer zu werden zwischen immer weiter steigenden Bildungsansprüchen an die Jugendlichen und den Erfordernissen einer Wirtschaft, die einerseits Auszubildende sucht, andererseits aber auch selbst immer größere Anforderungen an ihre Mitarbeiter stellt – und stellen muss. Mit anderen Worten: Die Berufsschule kann, wenn engagierte Lehrer und Unternehmen Hand in Hand arbeiten, sowohl die Schullandschaft mit Reformimpulsen erneuern als auch die duale Ausbildung zu einem zeitgemäßen Karriereeinstieg weiterentwickeln; einem Karriereeinstieg, der durch modularisierte Bildungsanteile dem einzelnen Schüler die Möglichkeit bietet, einen hochgradig individualisierten und differenzierten Qualifikationsweg zu beschreiten und damit den vermeintlichen Gegensatz von praktischer Ausbildung oder akademischer Orientierung zu durchbrechen und zu überwinden.
Aktuelle Probleme
Berufliche Schulen begleiten junge Menschen beim Übergang in die Arbeitswelt und vermitteln ihnen eine berufliche Grundbildung oder einen berufsqualifizierenden Abschluss. Das institutionalisierte Berufsbildungssystem mit den stark involvierten Berufsschulen ist aus diversen Gründen als Erfolgsmodell zu bewerten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sagt: In wenigen OECD-Ländern hat das Berufsbildungssystem einen so hohen Stellenwert wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Menschen mit Berufsabschluss in diesen Ländern, räumt die Organisation ein, »weisen überdurchschnittliche Beschäftigungsquoten auf, insbesondere die jüngeren Erwachsenen« (OECD 2014). Viele Berufsschullehrer berichteten im Zuge der Recherche zu diesem Buch, dass die Berufsschule »das große Plus« in der deutschen Bildungslandschaft sei. Es sei das Merkmal der deutschen Facharbeiter, dass sie eine Vorstellung von der ethischen, übergeordneten Dimension ihrer Tätigkeit hätten – dass sie also Bildung in einem über die unmittelbare Handlungsqualifikation hinaus verstandenen Sinn mitbringen. Die Zeit, die Berufsschüler mit Inhalten verbringen, die nur mittelbar mit ihrer späteren Tätigkeit zu tun haben, mache die Gesellschaft zu mehr als nur einer Ansammlung von Arbeitern und Akademikern. Es ist immer wieder zu hören, dass eine Vorstellung von Genese, Entwicklung und Zukunft des eigenen Berufsstandes nicht nur die eigene Entwicklung, sondern auch letzten Endes das Wirtschaftswachstum befördere. All dies findet in der Berufsschule statt, dort wird die Grundlage für diese Art von Reflexionsfähigkeit gelegt. Sie ist der Motor der Facharbeiterschicht.
Die duale Ausbildung ermöglicht zudem einen schnellen Berufseinstieg. Die Merkmale staatlich anerkannter Ausbildungsberufe sind im Berufsbildungsgesetz (BBiG) und in der Handwerksordnung (HwO) festgelegt. Zur Ausbildungsdauer (§ 5 Abs. 1 BBiG bzw. § 26 Abs. 2 HwO) heißt es dort, sie »soll nicht mehr als drei und nicht weniger als zwei Jahre betragen«. Diese Regelung wurde unverändert vom vormaligen Berufsbildungsgesetz, das 1969 erlassen wurde und bis zur Novellierung 2005 gültig war, übernommen. Damit ermöglicht die duale Ausbildung einen schnellen Berufseinstieg und erspart lernunwilligen Schülern ein langes Schulbankdrücken. Die Ausbildung konzentriert sich zudem passgenau auf einen bestimmten Beruf. Das klare Berufsbild ermöglicht einerseits bereits früh eine hohe Fachkompetenz in den Betrieben, andererseits halten sich die Schüler nicht mit dem Lernen von unanwendbarem Wissen auf.
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