1. Was ist Sprache?
Wie lernen wir sprechen?
«Die Grundlage der Kreativität eines Volkes ist seine Sprache», betonte der französische Dichter Stendhal. Sprache ist ein System von Symbolen, mittels derer wir uns unserer Umgebung mitteilen können; unsere Gedanken, Gefühle und Wünsche drücken wir – wenn auch nicht ausschließlich – durch Sprechen aus. Sprache hat mit Macht zu tun, mit Gefühlen, Sprache kann ausgrenzen und einschließen. Sprache beeinflusst nicht nur, wie wir die Dinge um uns herum benennen, sondern auch, wie wir die Welt sehen und wie wir von der Welt, von den anderen gesehen werden. Sprache dient der Kommunikation: Wir sprechen miteinander, um uns mitzuteilen, um Informationen zu erhalten, um zu beeinflussen oder zu überzeugen.
Sprache hat auch eine soziokulturelle Komponente, wie der Anthropologe Edward Sapir als Erster hervorgehoben hat. Sprache, sagt er, ist eine erworbene, kulturelle Fertigkeit, man wird in sie hineingeboren und von ihr geprägt.[4]
Dass die Voraussetzungen für das Entstehen von Sprache im Gehirn liegen, daran gibt es keinen Zweifel. Dass diese bei der Geburt bereits vorhanden sind, ist anzunehmen. Ob und wie das angeborene Talent sich entfaltet, hängt von der unmittelbaren Umgebung ab, in die der Säugling hineingeboren wird.
Nur durch die Interaktion mit anderen sprechenden Wesen wird die angeborene Sprachfähigkeit zur Sprechfertigkeit. Um diese zu entwickeln, muss das Kind nicht nur Bedeutungen aus dem Schwall von Lauten herausfinden, von dem es umgeben ist, es muss auch Worte entziffern und die Regeln erkennen lernen, die die Wortreihen zu Sätzen werden lassen. Es muss die stilistischen Feinheiten seiner Muttersprache erfassen, um sein Sprachverhalten allen Lebenslagen anzupassen. Und es muss natürlich eines mitbringen: die Lust und Neugierde, mit seiner unmittelbaren Umgebung zu kommunizieren, sich seiner Umwelt mitzuteilen.
Vom ersten Schrei zum Lallen
Die Urform des Sich-Mitteilens ist der Schrei. Der Schrei des Neugeborenen ruft die Mutter (oder eine andere Bezugsperson) herbei, durch Schreien drückt das Neugeborene Hunger, Schmerzen oder Unwohlsein aus. Die Mutter reagiert instinktiv mit der richtigen Geste, um ihr Kind zu beruhigen. Hier wird der Grundstein für die Sprache gelegt: mit dem «Sich-aufeinander-Einstimmen», dem «accordage affectif»[5] von Mutter und Säugling beginnt der Spracherwerb.
Beim Sprechenlernen lernt das Kind nicht nur, wie man Dinge benennt, es lernt auch die wichtigsten Kommunikationsformen, wie Fragen, Berichten, Benennen, Überzeugen. Die situationsspezifische Sprachfertigkeit, das heißt Kenntnis davon, wie man Sprache der Situation angemessen anwendet, erwirbt das Kind durch den Kontakt mit den Menschen in seiner Umgebung. Gleichzeitig erwirbt es Schritt für Schritt ein ganz spezifisches Sprachwissen: Es lernt, wie man sich in einer bestimmten Sprache ausdrückt, und zwar in der, die in seiner Umgebung gesprochen wird. Dieses Sprachwissen kann einfach sein – in einsprachiger Umgebung – oder vielfältig, wenn verschiedene Bezugspersonen mit dem Kind verschiedene Sprachen sprechen.
Wie wir gesehen haben, ist das Sprechenlernen ein Vorgang, der seinen Urantrieb in der Bindung zur Mutter findet, lange bevor das Kind selbst anfängt, zu sprechen. Bis dahin hat es einen langen Weg zurückzulegen: Bevor Laute zu Bedeutungseinheiten und zu Worten geordnet werden, müssen Töne oder Lautfolgen aus dem «Lautbrei» abgegrenzt werden, dem das Kind ausgesetzt ist. Um die Fähigkeit der Lautunterscheidung des wenige Tage alten Neugeborenen weiß man seit mehr als 30 Jahren. Seitdem benutzt man in der Forschung eine ebenso einfache wie geniale Methode, die auf dem starken Saugbedarf von Babys beruht. Das Baby bekommt einen Schnuller, der an ein Messinstrument angeschlossen ist und die Saugintensität misst. Ist das Baby gesättigt, ist es eine kurze Zeit für neue Eindrücke aufnahmebereit, was sich an der Intensität seines Saugens am Schnuller erkennen lässt. Diese Tatsache nutzt man aus, um die Reaktion von wenige Tage alten Babys auf verschiedene Töne zu beobachten. Hört der Säugling einen unbekannten Ton, saugt er interessiert am Schnuller. Sobald das Interesse nachlässt und das Saugen schwächer wird, wird ein neuer Ton gespielt. Dank dieser Methode hat ein französisches Forscherteam gefunden, dass Neugeborene ein sehr feines Gehör haben. Schon im Alter von wenigen Tagen sind sie imstande, den Unterschied zwischen den Phonemen «p» und «b», «t» und «d» oder «g» und «k» herauszuhören. Ein Phonem ist die kleinste lauttragende Einheit, die ein Wort von einem anderen unterscheidet. Neugeborene von drei Tagen sind also imstande, einen Phonemwechsel wie in /d/ ank und /t/ ank oder in /b/ ein und /p/ ein zu erkennen!
Säuglinge reagieren ebenfalls stark auf den Rhythmus und die Sprechmelodie, in der Fachsprache Prosodie genannt. Dank der unterschiedlichen Sprechmelodie erkennen Säuglinge mit wenigen Tagen die Stimme ihrer Mutter unter anderen Frauenstimmen heraus. Sie sind auch imstande, ihre Muttersprache von einer anderen, phonologisch entfernten Sprache zu unterscheiden. Französische Neugeborene reagieren zum Beispiel anders auf Französisch als auf Russisch oder Japanisch!
Noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass Säuglinge in den ersten Monaten fähig sind, Laute zu unterscheiden, die nicht in ihrer Muttersprache vorkommen. Britische Babys können etwa den deutschen Ü-Laut erkennen, der im Englischen nicht vorkommt, während englischsprachige Erwachsene dazu unfähig sind. Letztere hören den phonetischen Unterschied nicht mehr. Die Fähigkeit, Laute zu unterscheiden, die nicht in der Umgebungssprache vorkommen, geht bereits mit dem Ende des ersten Lebensjahres verloren. Zwischen zehn und zwölf Monaten findet eine Neuordnung im Gehirn statt, was zur Folge hat, dass die perzeptiven Fähigkeiten sich dann nur noch auf die Laute der Muttersprache konzentrieren.
Im Laufe der ersten Wochen werden die Schreie des Babys differenzierter, es kann sich nun auch über Gurren, Quietschen und Juchzen mitteilen. Die erste Lallphase, in der das Baby mit seinen Artikulationsorganen und seiner Stimme experimentiert, geht mit etwa sechs Monaten in die zweite Lallphase über, in der es durch Lautfolgen wie «bababa», «mamagaga» auf die sprachlichen Anregungen seiner Umwelt reagiert. In den ersten Wochen und Monaten gurrt, quietscht und brabbelt das Baby in Lauten, die in verschiedenen Sprachen vorkommen. Aber sehr schnell erkennt man eine Spezialisierung des Lallens, sodass Babys in verschiedenen Sprachumgebungen auch verschiedene Töne von sich geben. Ein japanisches Baby bildet zum Beispiel in den ersten Wochen noch die Laute «l» und «r», obwohl es diese Unterscheidung im Japanischen nicht gibt. Bereits mit sieben Monaten kann man im Lallen chinesischer Babys den Singsang der chinesischen Sprache erkennen, während die eher monotonen Lautfolgen russischer und amerikanischer Babys dem Russischen bzw. Amerikanischen gleichen.
Die französische Psycholinguistin B. Boysson-Bardies[6] hat das Brabbeln von acht bis zehn Monate alten Babys aus französischen, englischen, algerischen und kantonesischen Sprachgruppen aufgenommen und Erwachsenen vorgespielt. Die französischen Zuhörer waren in der Lage, das französische Babylallen problemlos aus allen anderen herauszuhören.[7] Über die Ergebnisse wurde damals unter dem hübschen Titel «Babys babbeln in ihrer Muttersprache!» in allen Zeitungen berichtet.
Zur selben Zeit, in der die Säuglinge ihre Lalltöne der Muttersprache anpassen, erfolgt eine weitere Spezialisierung des Gehirns, das nun lediglich noch die Töne der Umgebungssprache unterscheidet. Das Ohr funktioniert sozusagen wie ein Filter, der nur noch solche Töne durchlässt, die in der Umgebungssprache existieren oder ihr ähnlich sind. Diese Veränderung ist weniger ein «Verlust» der Unterscheidungsfähigkeit von Phonemen als eine Spezialisierung der Wahrnehmungsfähigkeit des Kleinkinds. Nur dadurch, dass sich das Hirn auf die vorhandenen Laute konzentriert, ist eine optimale Auswertung und Entwicklung der Muttersprache garantiert.
Man könnte nun meinen, mit dem Verlust der Unterscheidungsfähigkeit weiterer Laute verschwinde auch die Fähigkeit, Fremdsprachen richtig zu erlernen – dieses Argument wird oft von den Befürwortern des frühkindlichen Sprachenlernens benutzt.
Mittlerweile weiß man allerdings, dass diese Beeinträchtigung der Unterscheidungsfähigkeit nicht unwiderruflich ist. Ein ausgedehntes Training und intensives Üben helfen auch Erwachsenen, die im Säuglingsalter verlorenen Fähigkeiten neu zu erwerben! Ein Japaner kann zum Beispiel mit einiger Ausdauer und Übung wieder lernen, zwischen /l/ und /r/ zu unterscheiden.
Es bleibt also noch Hoffnung für erwachsene Fremdsprachenlerner, mögen sie sich auch als noch so «unbegabt» einstufen, wie das etwa bei unseren französischen Nachbarn der Fall ist, wo die «Unfähigkeit», Fremdsprachen zu lernen, fest im Kollektivbewusstsein verankert ist.
Der erste Wortschatz
Im Alter zwischen 8 und 10 Monaten – also geraume Zeit, bevor es selbst das erste...