Renate und ich entdecken die Langsamkeit, die Stunden kleben auf der Stelle. In der Kunst des Müßiggangs sind wir beide reichlich ungeübt. «Carpe diem – nutze den Tag», theoretisch würden wir die Redewendung sofort unterschreiben, aber praktisch gesehen sind wir im ziellosen Zeitvertreib blutige Anfängerinnen. Wir, die wir in unseren Jobs von Termin zu Termin hetzen, Stapel von Arbeit auf den Tischen haben, genau wissen, wo wir heute sind, was morgen ansteht und wie die nächsten Wochen aussehen werden, nämlich: Artikel schreiben, Beiträge schneiden, telefonieren, recherchieren, Interviews machen. Seit Jahren fliegen wir durch die Zeit. Der Journalismus ist ein rastloses Geschäft, aber wir lieben den Job. Selbst im Urlaub ließen wir bisher unsere Seelen nicht unter Zitronenbäumen oder am Meer baumeln, sondern liefen uns neugierig die Absätze auf den Kopfsteinpflastern von Paris, Barcelona, Budapest, Lissabon, Istanbul, London oder New York schief. Museen, Ausstellungen, Kirchen, die interessantesten Bars der Stadt – vor uns war nichts sicher. Und nun? Wir versuchen die Sekunden, Minuten, Stunden, Tage auf Trab zu bringen, sie mit Sinnvollem zu füllen. Die Angst ist ein müder Taktgeber. Schlimme Dinge ziehen sich zäh wie Teer, Schönes rast so schnell vorüber wie ein Formel-1-Bolide. Und wir haben seit fast einer Woche das Gefühl, dass uns überhaupt nichts Schönes erwartet. Nicht jetzt, vielleicht nie mehr. Heute ist der 2. September, der Tag vor der Wahrheit.
Noch immer bin ich in Frankfurt. Morgens zu schlapp, um aufzustehen, und zu wach, um weiterzuschlafen. Das geht seit dem Tag von Renates Anruf in Saarbrücken so, der das alte Leben versenkte. Mein Kopf denkt sich heiß, die Gedanken rasen über die Nervenautobahnen, während mein Körper flach wie eine Flunder liegen bleibt. Ich verharre in einer Art Schwebezustand, die Gedanken kommen, die Gedanken gehen, und auf meiner Brust sitzt ein mächtiges Tier. Wenn ich den Tag anblicke, sehe ich nur Beängstigendes. Ich überlege, wie oft ich schon in dieser Stadt war und wie leicht sich das Leben anfühlte, wenn wir am Mainufer entlangschlenderten, verrückte Klamotten und Schuhe in kleinen Läden erstanden, die Nasen bei einem Espresso in die Sonne steckten. Ich erinnere mich an die schicke Bar im zweiundzwanzigsten Stock, wo wir mit dem Glasaufzug in den Himmel fuhren und einen Rotwein mit Blick auf die bunte, glitzernde Skyline nahmen. Jedes Mal kehrte ich beflügelt von meinen Frankfurter Ausflügen zurück.
Renate schleift sich aus dem Bett, wuchtet sich unter die Dusche, setzt wie ein Roboter Tee auf, lässt sich auf den Küchenstuhl plumpsen – wie pure Lebenslust klingt das aus dem Zimmer nebenan nicht. Wie auch. Es sind die letzten Stunden vor der Gewissheit. Morgen erfahren wir mehr. Da helfen auch nicht die flackernden Kerzen, die ich nach dem Aufstehen angezündet habe – mitten im Sommer als Trost –, auch nicht die Musik von Amy McDonald und das gelbe Sonnenblumenmeer auf dem Küchentisch. Das ist der einzige Ruhepunkt fürs Auge, denn die ganze Küche sieht aus, als hätte ein heftiger Sturm durch sie hindurchgefegt und schon lange kein Besen mehr. Ungespülte Gläser, Tassen, Teller, Flaschen ohne Wein, Zeitungen von gestern und vorgestern, ungeöffnete Briefe, Kleider auf dem Boden. Das Chaos spiegelt meinen inneren Zustand wider. Renates wahrscheinlich auch. Wir pressen Käsebrote, Gurken und Tomaten in den flauen Magen, beginnen wieder zu reden, da, wo wir am Abend aufgehört haben. Es geht um die schlechten 50 Prozent, und das ist lähmend, bedrückend, verstörend. Wir haben viele Fragen, die ohne Antwort bleiben.
«Wovon lebe ich eigentlich, wenn ich nicht mehr arbeiten kann?», fragt Renate. «Und wie zahle ich dann meine Miete?»
Ratlos schüttele ich den Kopf und sage, dass sie mit ihrer Krankenkasse und ihrem Chef telefonieren muss, wenn sich der Verdacht bewahrheitet. Am wichtigsten ist es, gesund zu werden. Geld hin oder her. «Ich helfe dir, das schaffen wir schon zusammen!» Renate ist freie Mitarbeiterin, mit dem Krankheitsfall haben wir uns nie beschäftigt.
«Wer hilft mir, wenn eine Chemotherapie ansteht?», fragt meine Schwester weiter. «Auf meine Kollegen und Freunde kann ich nicht unbedingt bauen, die haben alle ihre Jobs, ihr Leben – und das funktioniert in Frankfurt nur, wenn man gesund ist.»
«Glaubst du das wirklich?», frage ich und versuche zu trösten. «In der Krise zeigt sich oft, wie gut die Freundschaften sind. Das wird sich alles finden, und ich bin ja auch noch da.» Sollte es kritisch werden, so habe ich es mir ausgemalt, werde ich nach Frankfurt oder sie zu mir nach München ziehen – eine Chemotherapie könnte sie auch in der Isarstadt machen, schließlich gibt es dort drei große Kliniken, das würde sich schon irgendwie lösen lassen. Ich bin wild entschlossen, das Atelier von Jürgen und mir auszuräumen und in eine Krankenstation zu verwandeln, wenn es sein müsste.
Immer schwieriger werden Renates Fragen: «Was wird das für ein Leben sein mit einer Krankheit, die nicht wie eine Grippe nach sieben Tagen vorbei ist? Wie viel von meinem alten Dasein habe ich dann noch?» Das Schlimme ist, dass sie keine Symptome hat, woran eine schwere Krankheit zu erkennen wäre. Sie fühlt sich vollkommen gesund. Wenn nur der mistige Knoten nicht wäre. «Wie wird sich das anhören, wenn die Ärztin sagt: ‹Sie haben Brustkrebs›? Oder sagt sie das überhaupt so? Was werden wir in diesem Moment denken, wie wird sich das anfühlen? Werden wir schreien, weinen, Wutausbrüche haben oder es ganz still aufnehmen?»
Zu viele Fragen, zu wenige Antworten. Wir haben Angst vor uns selbst. Heute ist der letzte Tag ohne das Wissen. Der Postmann bringt zwei Pakete für meine Schwester. Fränkische Weingläser, die sie vor gut einer Woche in Volkach, einem kleinen Weinort, bei einem Ausflug mit Achim erstanden hat. «Das war einer der letzten guten Tage», erzählt sie. Begeistert schüttelt sie die braunen Boxen, es klirrt in jedem Paket – was jedoch nichts Gutes verspricht. Jeweils ein Glas pro Sendung ist in spitze, scharfe Splitter zerbrochen, die anderen fünf sind heil. «Ach komm, Scherben bringen Glück», meint Renate, während mich ein seltsamer Gedanke durchfährt: «Bei jedem von uns ist eine Brust kaputt, ist doch klar», sage ich erschreckt. «Quatsch! Blödsinn!», antwortet meine Schwester energisch.
Achim will mit uns an diesem Tag das Schöne suchen gehen. Erst seit einem Monat kenne ich ihn, Renate hat ihn mir vorgestellt, ich mochte ihn sofort. Er holt uns ab mit seinem alten grauen Benz, will uns ablenken, über die Zeit hinweghelfen, vielleicht auch einfach nur mit uns sein. Ein Vergnügen ist das bestimmt nicht für einen Mann, der den ganzen Tag über lustige Dinge nachdenkt, denn unser Gemütszustand ist so zerbrechlich wie das fränkische Glas.
«Hallo, ihr zwei», sagt er zur Begrüßung, während er uns umarmt. «Habt ihr schon Pläne gemacht, wohin es gehen soll? Ihr seht gut aus, ihr beiden.» Achim tastet sich vorsichtig an unsere Stimmungen heran. Er ist ein Mensch, der das Leben gerade aufsaugt wie ein Schwamm, nachdem er sich von einer langen Liebe getrennt hat. Bei ihm denke ich an eine Blume, die verdurstet, ja vertrocknet war und endlich gegossen wird. Die Rose von Jericho kann Jahre überdauern, ganz ohne Wasser. Aber wenn man sie befeuchtet, erwacht sie zum Leben. In unserem Blumenwasser sind derzeit leider nur Substanzen, die jede Pflanze eingehen lassen. Das war mal anders – da waren Nähe, Spaß, Freundschaft, Aufregung und Begegnungen drin.
Mir ist es egal, wohin es geht und wie lange es dauert. Ich habe eine Woche freigenommen, auch mehr, wenn es sein muss. Hauptsache, wir bewegen uns. Ich wünsche mich weg von diesem Wirrwarr, weg vom weißen Verband um Renates Brust, der aus der dunkelblauen Bluse ragt – denn der sagt, dass das alles wirklich wahr ist. Dennoch fühle ich mich als Teil eines furchtbaren Films, bei dem ich mich immer wieder frage, wie wir beide da bloß hineingeraten sind.
Wir klettern ins Auto, Renate schweigt, ich auch, was Achim verunsichert und ihn auch verstummen lässt. Er, der eigentlich am liebsten ohrenbetäubend lacht und dabei meckert wie eine Ziege. Es geht langsam los, sein Lachen schwillt minutenlang an und endet dann in einem furiosen Fortissimo, wie bei Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps. Er erreicht garantiert Dezibelwerte wie ein startendes Flugzeug. Wie ich das vermisse, wie lange habe ich das nicht mehr gehört.
Wir fegen auf der Überholspur über die Autobahn, rechts Wohnmobile, Lkws, dicht an dicht. Achim sieht schlecht, er hat minus sieben Dioptrien, nur ein Maulwurf hat noch weniger Augenlicht.
Achim tritt vorsichtig auf die Bremse, so richtig weiß er sich nicht zu verhalten, das spüre ich. Aber ich bin nicht in der Lage, mich wie üblich am Gespräch zu beteiligen. Wortfetzen fliegen an meinem Ohr vorbei, ich fühle Ingrids...