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Hochbegabung

Erkennen, Verstehen, Fördern

AutorFranzis Preckel, Tanja Gabriele Baudson
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2786
Seitenanzahl127 Seiten
ISBN9783406653346
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Gibt es «von Natur aus» hochbegabte Kinder? Wie und woran lassen sie sich erkennen? Außergewöhnliche Leistungen, so die These der beiden Psychologinnen, basieren stets auf mehreren Ursachen. Neben angeborenen Fähigkeiten sind dies langfristig angelegte Lern- und Übungsprozesse. Erfolg versprechen sie aber nur dann, wenn die Person motiviert ist und an die eigenen Fähigkeiten glaubt. Ohne Stimulation und Förderung verkümmern auch die besten Anlagen.

Prof. Dr. Franzis Preckel, geb.1971, studierte in Münster und Green Bay (Wisconsin). Seit 2006 ist sie Professorin an der Universität Trier und Leiterin des Lehrstuhls für Hochbegabtenforschung und -förderung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Intelligenz und Hochbegabung sowie Prädiktoren von Leistungen. Franzis Preckel ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dr. Tanja Gabriele Baudson, geb.1976, ist Diplompsychologin und Romanistin. Nach verschiedenen Studien- und Forschungsaufenthalten, u.a. an der Pariser Sorbonne und in Nishinomiya/Japan, forscht sie aktuell am Lehrstuhl für Hochbegabtenforschung und -förderung der Universität Trier zu Hochbegabung und Kreativität, pädagogisch-psychologischer Diagnostik und aggressivem Lehrerverhalten.

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Leseprobe

2. Erkennen von Hochbegabung


Wie man Hochbegabte erkennt, das ist eine der Kernfragen, wenn es um das Thema Hochbegabung geht. Verständlicherweise wünschen sich gerade Eltern und Lehrkräfte klare Hinweise auf Merkmale, an denen sie ablesen können, ob sie es mit einem hochbegabten Kind oder Jugendlichen zu tun haben. Wie in Kapitel 1 beschrieben, beinhaltet die Definition von Hochbegabung immer auch eine Entscheidung darüber, für welchen Bereich diese Einschätzung gelten soll: Die Frage «Hochbegabt wofür?» (z.B. Sport oder Mathematik) muss also beantwortet werden. Je nach Antwort gelten dann andere Merkmale als Indikatoren für Hochbegabung. Allgemein gültige Kennzeichen kann es nicht geben. Das Konzept einer universellen Begabung spielt heute so gut wie keine Rolle mehr.

«Hochbegabt» versus «nicht hochbegabt» – zwei Welten?

Manchmal liest man, dass Hochbegabte sich von nicht Hochbegabten nicht nur quantitativ im Sinne von «früher, schneller und effizienter desselben» unterscheiden, sondern auch qualitativ, dass sie also beispielsweise anders denken, andere Bedürfnisse haben und sich insgesamt anders entwickeln. Diese Annahme ist durchaus plausibel, insbesondere, wenn man an außergewöhnliche Fälle wie Michael Kearney denkt. Sie ist jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen zeigen die meisten Forschungsergebnisse, dass sich Hochbegabte und nicht Hochbegabte eher graduell unterscheiden; kaum etwas deutet auf systematische, also für alle gültige qualitative Unterschiede hin. In einer Untersuchung zum mathematischen Problemlösen zeigten beispielsweise 475 mathematisch hochbegabte Neunjährige ähnliche Leistungen und Herangehensweisen wie 230 durchschnittlich begabte Dreizehnjährige (Threlfall & Hargreaves, 2008). Auch andere Untersuchungen fanden heraus, dass hochbegabte Kinder bereits solche Strategien einsetzen und flexibel handhaben können, die eigentlich erst bei erwachsenen Experten zu erwarten sind, und dass sie auch bereits über ein vergleichbares Faktenwissen verfügen (Shore, 2000). Das weist eher auf eine beschleunigte Entwicklung der Hochbegabten hin als auf qualitative Unterschiede.

Dennoch ist zu beachten, dass Entwicklungsvorsprünge und insbesondere eine so erstaunlich beschleunigte Entwicklung wie die von Michael Kearney zu besonderen Lebenssituationen führen können. Michael etwa teilte deutlich weniger Interessen mit Gleichaltrigen. Auch wenn die Fähigkeiten Hochbegabter besser im Sinne quantitativer Vorsprünge zu beschreiben sind, können sich durchaus im Laufe der Entwicklung qualitativ andere Situationen für Hochbegabte ergeben (in Kapitel 3 werden wir dieses Thema wieder aufgreifen). Diese möglichen Besonderheiten in der Lebenssituation lassen aber keine Rückschlüsse auf persönliche Besonderheiten zu.

Eine qualitative Unterscheidung von Hochbegabten und nicht Hochbegabten würde zudem suggerieren, dass wir es hier mit zwei unterschiedlichen Gruppen zu tun haben, die sich untereinander stark ähneln – im Sinne von «Hochbegabte versus der Rest». Hochbegabte sind aber keine homogene Gruppe. Ganz im Gegenteil scheint mit steigender Begabung die Vielfalt an Begabungsschwerpunkten und Persönlichkeitskonstellationen zu wachsen. Selbst wenn man Hochbegabung mit hoher Intelligenz gleichsetzt, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für Begabungsprofile. Am deutlichsten wird diese Heterogenität in systemischen Modellen abgebildet. Die Hochbegabten gibt es nicht.

Um Hochbegabung zu erkennen, benötigt man also keine völlig neuen Kategorien, sondern kann auf den Merkmalen aufbauen, die für viele Menschen kennzeichnend sind. Dies sollte sich auch in unserem Sprachgebrauch widerspiegeln. Wir erleben sehr oft, dass man von Hochbegabten in Abgrenzung zu Normalbegabten spricht. Sind Hochbegabte nicht normal? Diese Frage wollen wir am Beispiel der Intelligenzverteilung in der Bevölkerung klären.

Abbildung 6: Standardnormalverteilung der Intelligenz

Die Verteilung der Intelligenz wird oft über eine sogenannte Standardnormalverteilung wie in Abbildung 6 veranschaulicht. Die mit «Abweichungs-IQ-Skala» bezeichnete horizontale Achse zeigt die Ausprägung der Intelligenz an. Der Abweichungs-Intelligenzquotient (kurz: der IQ) gibt an, wie sehr die Leistung einer Person in einem Intelligenztest nach oben oder nach unten vom Durchschnitt einer Bezugsgruppe abweicht, die für diese Person repräsentativ ist (für einen zehn Jahre alten Jungen z.B. alle Zehnjährigen). Die Intelligenz einer Person wird damit nicht im Vergleich zu allen anderen Personen eingeordnet, sondern immer im Vergleich zu denen, die mit ihr in wesentlichen Merkmalen wie Alter oder Muttersprache übereinstimmen. Die durch die vertikalen Achsen abgeteilten Flächen unter der Kurve geben die prozentuale Häufigkeit an, mit der die jeweiligen IQ-Werte in der Bezugsgruppe vorkommen. Unabhängig davon, welche Bezugsgruppe nun gilt, ist der mittlere Wert immer ein IQ von 100 und die Verteilung der IQ-Werte annähernd so wie in Abbildung 6 dargestellt. Für das Vorliegen einer Hochbegabung wird häufig ein IQ von 130 und höher als Grenzwert genannt. Solche hohen Werte kommen zwar eher selten vor (nur in gut zwei Prozent der Fälle), sind nach der Normalverteilung aber zu erwarten. In diesem Sinne ist Hochbegabung normal, da sie in das zu erwartende Spektrum menschlicher Möglichkeiten fällt. Um Hochbegabte von anderen Begabungsgruppen abzugrenzen, wäre es also besser, von «nicht Hochbegabten» oder «durchschnittlich Begabten» anstatt von «Normalbegabten» zu sprechen. Sprache schafft Realität und kann so auch zur Verfestigung falscher Vorannahmen über Hochbegabte beitragen (vgl. Kapitel 3). Wie zudem bereits oben erwähnt, ist Hochbegabung eher im Sinne quantitativer als qualitativer Merkmalsunterschiede zu verstehen. Damit ist jede Grenzwertsetzung (auch die eines IQ von 130 oder höher) nicht naturgegeben, sondern in gewissem Maße willkürlich. Ab einem solchen Grenzwert beginnt keine «neue Welt»; es geht vielmehr um graduelle Unterschiede.

2.1 Informationsquellen


Aktuell identifiziert man Hochbegabung meist über Merkmale der Person – was eine gewisse Schieflage mit sich bringt, wenn man sich vor Augen führt, wie komplex das Thema in neueren Hochbegabungsmodellen abgebildet wird. Die meisten Verfahren zur Erkennung von Hochbegabung berücksichtigen Umwelt- und Entwicklungsaspekte sowie die hier denkbaren Interaktionen nicht oder kaum. Hier besteht also noch Handlungsbedarf! Personenbezogene Merkmale wie Intelligenz, Kreativität oder Motivation lassen sich jedoch bereits sehr gut mit den Verfahren der psychologischen Diagnostik einschätzen; Leistungen sind zudem je nach Umfeld relativ leicht feststellbar. Auch wir werden uns bei der Vorstellung der Informationsquellen auf Merkmale der Person konzentrieren. Dabei sollte aber mitgedacht werden, dass diese sich immer in einem bestimmten sozialen, physikalischen oder pädagogischen Umfeld entwickeln.

Informationsquellen unter einer Entwicklungsperspektive

Beim Erkennen von Hochbegabung muss man berücksichtigen, dass Menschen sich entwickeln und verändern. Hochbegabung im Kindesalter ist etwas anderes als Hochbegabung im Erwachsenenalter. Entsprechend gibt es auch keine zuverlässigen frühen Anzeichen für eine Hochbegabung (auch nicht frühes Lesen oder Schreiben). Bei Säuglingen scheint am ehesten das Aufmerksamkeitsverhalten, bei Kleinkindern die Neugierde, die Interessen sowie die Sprachentwicklung mit den späteren Denkfähigkeiten zusammenzuhängen. In der Kindheit kann Hochbegabung als ein noch eher undifferenziertes hohes Potenzial für viele Bereiche verstanden werden. Zwar können sich auch hier schon relative Stärken andeuten (z.B. Sprache, Aufmerksamkeit, Motorik), doch ist die Entwicklung insgesamt durch einen großen Spielraum (Plastizität) gekennzeichnet. Mit zunehmendem Alter und insbesondere im Jugendalter differenzieren sich dann die Begabungsbereiche stärker aus. Interessen bestimmen, womit jemand seine Zeit verbringt – und meist interessiert einen das, was man gut kann. Übungsgelegenheiten sind nicht in allen Bereichen gleichermaßen vorhanden, sondern je nach Umwelt in unterschiedlichem Maße verfügbar. Leistungen werden damit zunehmend bereichsspezifischer. Diese Prozesse führen dazu, dass man sich auf wenige Tätigkeitsbereiche konzentriert. Im Erwachsenenalter nimmt diese Fokussierung oft noch zu. Hochbegabung im Erwachsenenalter kann daher auch als hochdifferenzierte Expertise, also als Resultat langjähriger Übung und Erfahrung in einem bestimmten Bereich, verstanden werden (Dai, 2010).

Für das Erkennen von Hochbegabung folgt aus dieser entwicklungsbezogenen Perspektive, dass es bei Kindern vorwiegend darum geht, ihr Potenzial mit einem breiten Suchfokus zu entdecken, anstatt spezielle Fähigkeiten aufzudecken. Bei älteren Kindern und Jugendlichen sollten zunehmend unterschiedliche Begabungsbereiche und auch bereits entwickelte Fähigkeiten und Leistungen beachtet werden. Jedoch können Begabung und Leistungen auch auseinanderklaffen, was das Erkennen von Hochbegabung besonders schwierig macht (siehe...

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