EINLEITUNG:
ANNÄHERUNGEN AN ANTONIUS
Wüstenvater, Weiser, Wundertäter
Ägypten, irgendwann in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts nach Christus. Zwei Männer begegnen sich in der Einsamkeit der Wüste, Hilarion aus Palästina und Antonius aus Ägypten. Zwischen ihnen entspinnt sich ein knapper Dialog:
Abbas Antonius sprach zu Abbas Hilarion: «Zu guter Stunde bist du gekommen, du Morgenstern, der in der Frühe aufstrahlt!» Da sagte Abbas Hilarion zu ihm: «Friede sei mit dir, du Lichtsäule, die den Erdkreis erleuchtet!»[1]
Wer auch immer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, Wüstenväter seien ungehobelte Gesellen und besäßen keine Umgangsformen, wird hier eines Besseren belehrt. Natürlich gab es raue Gesellen unter den frühen Eremiten, und mancher Besucher aus den zivilisierten Städten und Gegenden Ägyptens kehrte irritiert, ja sogar beschämt von der Direktheit und Schnörkellosigkeit ihrer Sprüche nach Hause zurück. Doch verbarg sich darin stets ein Körnchen der Wahrheit, die sich aus dem Leben in der Wüste, allein mit Gott, speiste. Hier – und nur hier – war nach Ansicht der «Altväter» gottgemäßes Leben möglich. Und wo zwei von diesen Altvätern aufeinander trafen, blitzte ein Lichtstrahl dieser geistlichen Weisheit auf. Zugleich wurde die Verbundenheit zwischen Menschen erhellt, die sich ihren Titel abbas durch lange, harte und entbehrungsreiche Askese erworben hatten. Bis heute fasziniert diese Art christlichen Lebens viele Menschen, auch wenn damals wie heute die allerwenigsten von ihnen selbst in der Wüste hätten leben mögen. Von antiken Lebensbeschreibungen über mittelalterliche Bilderzyklen bis in die moderne Ratgeberliteratur lässt sich die Faszination der Wüste nachverfolgen.
1 Die Wüstenväter Antonius (links) und Amun (rechts) auf einer Wandmalerei im Apollonkloster Bawit, Ägypten, 8. Jahrhundert
Wenn die Väter (und Mütter) der Wüste ein Ziel nicht erreicht haben, dann ist dies die absolute Abgeschiedenheit von den Menschen. Ihr Ruf und auch ihr Ruhm verbreitete sich seit der Mitte des 4. Jahrhunderts über das Römische Reich und darüber hinaus. Unter ihnen war und blieb der abbas Antonius der berühmteste. Sogar fromme Männer wie Hilarion, die selbst asketische Schüler hatten, nahmen die Pilgerreise durch den Nahen Osten auf sich, um ihn zu treffen. Seinerzeit kamen Pilgerreisen zu heiligen Menschen und ihren Wohnstätten regelrecht in Mode, und Antonius und der Berg, auf dem er lebte, spielten dabei eine zentrale Rolle – bis heute: Seit anderthalb Jahrtausenden ist die Wohnhöhle des Antonius – ganz gleich, ob der Ort historisch korrekt lokalisiert ist – eine Wallfahrtsstätte.
Warum löst Antonius damals wie heute solche Faszination aus? Die Gebete zum Antoniusfest der byzantinischen Kirche machen deutlich, was bis heute das Besondere an diesem Einsiedler ist:
Von göttlichem Glanze bestrahlt,
in allerhellster Weise die Mönche erleuchtend,
warst du Lichtgeber und Urheber
der ersten Lebensweise in der Wüste,
auch der Leiden kundigster und ehrwürdiger Arzt,
Urbild und Inbegriff der Tugend,
unser Erzieher und Vater Antonius.[2]
Vorreiter (oder eher: Vorläufer) auf dem Weg in die Wüste, Vorbild in der Askese, Heiler und Wundertäter: Antonius ist die prägende Gestalt der Frühzeit des eremitischen Mönchtums. Nicht nur sein Berg wurde schon zu seinen Lebzeiten zur Pilgerstätte für «Heiden» und Christen, für Bischöfe, Mönche und Kleriker, Frauen und Männer. Mit den von ihm überlieferten Sentenzen beginnt die Sammlung der Apophthegmata Patrum, der «Wüstenvätersprüche»; und mit der Lebensbeschreibung, die Bischof Athanasius von Alexandria unmittelbar nach Antonius’ Tod verfasste, beginnt die christliche Heiligenbiographie. Durch die Übersetzung dieser Vita Antonii ins Lateinische und in die Idiome des christlichen Orients entfaltete Antonius eine Wirkung über Sprachen und Kulturen hinweg, die ihn zu einer wahrhaft «ökumenischen» Persönlichkeit macht, nicht nur für die orthodoxen Kirchen und die römisch-katholische Kirche, sondern auch für evangelische Christen. Zwar übten Luther und seine Zeitgenossen Kritik an der Ansicht, das Leben als Mönch sei in höherem Maße als das Leben «in der Welt» für das Seelenheil förderlich. Dennoch konnte Antonius auch hier als vorbildlicher Christ – gelegentlich sogar kritisch gegen die Mönche – in Anspruch genommen werden. Und über Konfessionsgrenzen hinweg fanden und finden sich seither zahlreiche Bewunderer von Antonius’ Lebensstil, Weisheit und Bedürfnislosigkeit.
Das religiöse, manchmal auch feuilletonistisch gefärbte Interesse an den frühchristlichen Asketen speist sich – wie es scheint – vor allem aus ihrer Distanz zu den Errungenschaften der damaligen (und auch der heutigen) Zivilisation und aus dem Umstand, dass diese Distanz die Voraussetzung für eine außergewöhnliche, ja sogar «spannende» Lebensform darstellt. Das suggeriert jedenfalls der Titel Als die Religion noch nicht langweilig war, unter dem der Journalist und ehemalige Dominikaner Hans Conrad Zander ein farbenfrohes, teils grelles Bild von den Einsiedeleien, Eremitenkolonien und Klöstern im antiken Ägypten und Syrien zeichnet. Dort habe mehr Rummel als Kontemplation geherrscht, so dass Antonius’ Ideal tatsächlich kaum verwirklicht worden sei. Denn der Verfasser bekennt: «Persönlich halte ich es mit dem Archetyp Antonius: Alleinsein als ungezähmtes Abenteuer.»[3] Tatsächlich entpuppe sich der Einsiedler aber leider bei näherem Hinsehen «als ‹stella deserti›, als ‹Star der Einsamkeit›, als Disney-Einsiedler zum Anfassen»; und die Attraktivität der Wüste habe in der Antike vor allem in dem Umstand gelegen, dass sich hierher niemals der Steuereintreiber verirrt habe.[4] Die Lektüre der Vita Antonii und der Apophthegmata Patrum lohne sich dennoch: «Das Abenteuer der Wüstenväter ist Europas klassische religiöse Unterhaltung!»[5] Und in der Tat: Heiligenviten wurden schon in der Spätantike als erbauliches Entertainment gelesen. Ob mit dem «Abenteuer der Einsamkeit» aber der Kern des Rückzugs in die Wüste getroffen ist, wird zu fragen sein.
Ganz anders, nämlich pastoral, motivieren die Theologen Günther Schulz und Jürgen Ziemer ihren Versuch, die Menschen der Moderne zum Gespräch mit den «Wüstenvätern und Wüstenmüttern», wie sie in den Apophthegmata Patrum begegnen, einzuladen:
Wenn es irgendwo einen Ort gibt, an dem Menschen versucht haben, ihren Glauben authentisch zu leben, dann hier. Dazu gehört gerade auch das Wissen um die Möglichkeit des Scheiterns, die Erfahrung zeitweiliger geistlicher Leere und seelischer Finsternis. Mit all dem ist es leicht möglich, an moderne Sehnsüchte und Erfahrungen anzuschließen.[6]
Erschlossen werden soll die Wüste als «Ort der Freiheit» und als «Ort der Stille»;[7] und entgegen dem weit verbreiteten Eindruck, das Leben in der Einöde sei so etwas wie asketischer Hochleistungssport, halten die Autoren die Wüste für einen Ort, an dem den damaligen Menschen und ihren heutigen Nachfolgern «das Heil als Geschenk widerfährt».[8] Das Eremitentum birgt also geradezu reformatorisches Potenzial; damit wird die ökumenische Anschlussfähigkeit einer Gestalt deutlich, die sich für ihr Auftreten einen Winkel weit außerhalb der bewohnten Welt, der «Oikoumene», gesucht hat.
Schließlich wurde der Einsiedler auch zu einem wandlungsfähigen Sujet der bildenden Kunst der Moderne. Am Übergang vom späten Mittelalter zur Neuzeit treten Antonius’ Kämpfe mit den Dämonen und Versuchungen des Teufels, die ihn von seinem Weg zum Heil abbringen sollen, in den Vordergrund. Hieronymus Bosch und seine Zeitgenossen begründeten eine Ikonographie, die Antonius’ Alleinsein mit Gott und sich selbst als Grundzug eremitischer Spiritualität in den Hintergrund drängt und stattdessen die Wüste als Tummelplatz von Fabelwesen, materiellen Verlockungen und verführerischen Frauen in Szene setzt – mit einem Asketen, der zwischen Teilnahmslosigkeit und expressiver Angefochtenheit schwankt.[9] Die Versuchungen sind gewiss schon in der Vita Antonii präsent, werden aber erst in der neuzeitlichen Kunst bis hin zu Max Ernst und Salvador Dalí zu einem eigenständigen Thema. Die Gestalt des Antonius löst sich damit von ihrer religiösen Sinndimension und wird zum Medium, dass die Bedrohungen in der modernen Lebenswelt künstlerisch zu verarbeiten erlaubt. Der Weg in die Wüste bietet auch nach über anderthalb Jahrtausenden ein noch nicht annähernd ausgeschöpftes Reservoir an geistigen und geistlichen Anstößen für menschliches Denken und Erfahren – auch da, wo von einer Wüste im eigentlichen Sinne keine Rede sein...