2. Entwicklung, Quellen und Methoden
Recht entsteht nicht im luftleeren Raum. Auch «neue» Normen fügen sich in vorhandene Lebenskontexte und Gewohnheiten ein und können diese ihrerseits längerfristig prägen. Die Entwicklung des islamischen Rechts ist aufs Engste mit der dynamischen Entfaltung der islamischen Herrschaft seit dem frühen 7. Jahrhundert verknüpft. Eine maßgebliche Zäsur bildet dabei die Übersiedlung Muhammads und einer Schar seiner Getreuen von seiner Geburtsstadt Mekka in die nördlich gelegene Oase Yathrib, die später den Namen Medina (Stadt des Propheten) erhielt. Mit dieser sogenannten Hidschra (Auswanderung) im Jahr 622 begann die machtpolitische Etablierung des islamischen Gemeinwesens – zunächst in Medina, wenig später schon auf der gesamten arabischen Halbinsel und weit darüber hinaus. Dadurch stellten sich neue Aufgaben, bedurfte ein funktionsfähiges Gemeinwesen doch verlässlicher Rahmenbedingungen für menschliches Zusammenleben, Austausch und Konfliktlösung.
Bevor die berufenen Instanzen das Recht anwenden können, muss es zunächst ermittelt werden. In heutigen Zeiten umfangreicher, ja überbordender rechtlicher Regelungen für fast alle Lebensbereiche mag dies banal klingen. In der Vergangenheit stellte sich hier eine häufig schwer zu bewältigende Aufgabe. Gesetzliche Regelungen gab es nur wenige, immer wieder wurden Fälschungen von Normen in Umlauf gebracht, und die Meinungsvielfalt ließ belastbare einheitliche Beurteilungsgrundlagen oft kaum erkennen. So ist das traditionelle islamische Recht denn auch alles andere als ein klar konturiertes Gesetzeswerk. Vielmehr handelt es sich um ein in hohem Maße komplexes System von Regeln über die Auffindung von Normen und deren Interpretation, das zudem von einer Fülle wirksamer sozialer Ausgleichsmechanismen flankiert wird.
Insbesondere in der Frühzeit überwog wohl ein erhebliches Maß an eigenständiger Rechtsfindung nach «gesundem Menschenverstand» (so darf man die Fachvokabel «Ra’y» hier zunächst verstehen). Zudem übernahm man in großem Umfang Normen und Verwaltungsstrukturen der neu unterworfenen Territorien. Seit dem 8. Jahrhundert scheint das Bedürfnis nach einer stärker gesicherten und «authentischeren» Normengrundlage gewachsen zu sein. Insbesondere bei der erstarkenden Fraktion derer, die sich neben dem Koran maßgeblich oder ausschließlich an den von Muhammad überlieferten Worten und Taten (Sunna) orientieren wollten, erhielt Rechtsfindung nach «Ra’y» eine negative Konnotation. Ab dem 9. und 10. Jahrhundert verfestigten sich inhaltlich vor allem bei den Sunniten die einmal entwickelte Normenlehre und auch weite Bereiche konkreter Rechtsgebiete wie Familien- und Erbrecht, Vertragsrecht und Strafrecht. Richtungweisend wurden insbesondere die rechtstheoretischen Werke des bedeutenden Juristen Muhammad ibn Idris al-Schafi’i (gest. 820), der sich intensiv mit den Ansichten anderer bedeutender Gelehrtenzirkel befasst hatte. Die Dogmatisierung der Rechtsquellenlehre in seinem Schlüsselwerk al-Risala wirkte maßstabbildend auch für andere sunnitische Richtungen und bis in die Schia hinein. Dennoch verblieben erhebliche, zum Teil grundlegende Meinungsunterschiede.
Zugleich bildeten sich aus den bestehenden Gelehrtenzirkeln verschiedene Schulen (Madhahib, Sing. Madhhab) heraus, von denen vier im sunnitischen und drei im schiitischen Spektrum bis heute existieren: Bei den Sunniten sind es die hanafitische, malikitische, schafiitische und hanbalitische Schule, die nach den später als Gründerväter angesehenen Persönlichkeiten Abu Hanifa (gest. 767), Malik (gest. 795), al-Schafi’i (gest. 820) und Ahmad ibn Hanbal (gest. 855) benannt wurden. Bei den Schiiten haben sich neben der dominierenden Richtung der Zwölfer-Schia oder Dscha’fariya die ismailitische Siebener-Schia und die zaiditische Fünfer-Schia erhalten. Die Aufspaltung zwischen Sunna und Schia erfolgte, nachdem ’Ali, der Vetter und Schwiegersohn Muhammads, nach dessen Tod nicht zu seinem Nachfolger eingesetzt worden war; die weitere Aufsplitterung der Partei (Schi’a) ’Alis ergab sich aus der unterschiedlichen Anerkennung der Nachfolger Muhammads (Imame) in der schiitischen Führungsgenealogie.
Die islamische Normenlehre hat sich über annähernd 1400 Jahre in einem Raum von Marokko bis Indonesien entwickelt. So ist auch das islamische Recht keineswegs ein präzises Gesetzbuch, sondern ein höchst komplexes System von Normen und Regeln, welche die Auffindung und Interpretation der Normen erst möglich machen. Dieser letztgenannte Bereich, die «Usul al-Fiqh» («Wurzeln der Normenlehre»), ist der Schlüssel zum Verständnis des islamischen Rechts. Dabei finden sich erhebliche Unterschiede zwischen sunnitischen und schiitischen Schulen, die zudem ein großes Maß an innerem Meinungspluralismus kennen. Dies und damit auch eine Ergebnisvielfalt ist ein Markenzeichen des islamischen Rechts. Das eine, festgelegte islamische Recht gibt es nicht.
Insgesamt besteht indes weitgehend Einigkeit über die Hauptquellen des Rechts. An erster Stelle steht der Koran, soweit er Rechtsnormen enthält. Im Gefolge der Hidschra nach Medina zeigte sich ein inhaltlicher Wandel in den koranischen Offenbarungen. Waren die Normen in den mekkanischen Versen noch vorwiegend religiös-ethisch bestimmt, finden sich in den medinensischen Offenbarungen (im Koran werden die zeitlichen Zuordnungen angegeben) nun auch einige rechtliche Aussagen, insbesondere zum Familien- und Erbrecht sowie zu Teilen des Straf- und des Vertragsrechts. Zusammengenommen haben allerdings nur einige Dutzend Verse des Koran rechtlichen Gehalt.
Eine weitere Quelle bilden die sogenannten Hadithe (Überlieferungen; die Gesamtheit der Überlieferungen wird als «Sunna» bezeichnet) von Muhammad, soweit sie als authentisch anerkannt werden. Allerdings sollen nur solche Überlieferungen normativ wirken, die Muhammad in seiner Eigenschaft als Prophet betreffen, nicht hingegen diejenigen, die sich auf sein Leben als fehlbarer Mensch beziehen.
Der Begriff der Sunna wird nicht völlig einheitlich verstanden. In etwa bezeichnet er die etablierte, für richtig erachtete Praxis. Zu beachten ist jedoch, dass in der Frühzeit verbreitet unter den Sunniten und in der malikitischen Schule auch noch später die in Medina geübte Praxis sowie diejenige der Prophetengenossen zur Sunna gerechnet wurden.
Die großen Sammlungen solcher Überlieferungen entstanden bis zum Ende des 9. Jahrhunderts. Ihre Authentizität wird von der traditionellen Hadithwissenschaft vor allem anhand der Überliefererkette (Isnad) überprüft, die ununterbrochen bis auf Muhammads Zeitgenossen zurückgehen muss. Die ganz überwiegende Mehrzahl der als authentisch angesehenen Hadithe stützt sich nur auf einen oder wenige Überlieferer auf einer Zeitstufe und ist deshalb in ihrem normativen Gewicht eingeschränkt. Beispielsweise sprach sich der vormalige Rektor der Azhar-Universität Schaltut unter anderem deshalb gegen die Todesstrafe für Apostaten aus, weil das einschlägige Hadith («tötet den Apostaten») nur auf einer schmalen Überlieferungsbasis stehe und deshalb keine derart schwerwiegende Rechtsfolge begründen könne. Auf Hadithe gehen etwa Regelungen zur Unterscheidung des einseitigen Scheidungsrechts des Ehemannes (sog. Talaq) und das spezifische Scheidungsrecht für Ehefrauen (Chul’), Strafunmündigkeit bei (koranischem) Diebstahl für Personen unter 6 Handspannen Körpergröße, Sanktionsfreiheit der Tötung eines Vergewaltigers und die Nichtanwendbarkeit koranischen Diebstahlsrechts auf Nicht-Muslime zurück.
Bei den Zwölfer-Schiiten hat sich weitgehend die Auffassung etabliert, dass neben den Prophetenüberlieferungen die normative Praxis der «unfehlbaren» zwölf Imame als Nachfolger des Propheten erfasst sein müsse; manche zählen dazu auch Fatima, Muhammads Tochter und Ehefrau des Kalifen Ali. Andererseits erkennen die Schiiten manche Hadithe nicht an, die auf die aus schiitischer Sicht als «falsch» eingestuften ersten drei Kalifen (Nachfolger) und ihre Hauptunterstützer zurückgehen. Dies führt z.B. zu einem frauenfreundlicheren Erbrecht, weil damit im sunnitischen Recht anerkannte Hadithe ausgeschlossen werden, welche die Töchter und Enkelinnen gegenüber den männlichen Seitenverwandten benachteiligen.
Als weitere, Koran und Sunna nachgeordnete Rechtsquellen weithin anerkannt sind zudem Gelehrtenkonsens (Idschma), Analogie und Umkehrschluss (Qiyas), wobei die Schiiten den Qiyas als Institut ablehnen, jedoch entsprechende Schlussverfahren in anderem Kontext anwenden. Beim Konsens war und ist vor allem umstritten, wer am Zustandekommen beteiligt sein muss: die örtlichen oder regionalen Gelehrten, alle Muslime, alle Gelehrten oder eine Mehrheit der Gelehrten. Zudem besteht die Frage, ob ein einmal gefundener Konsens auch spätere Generationen bindet. Letzteres wird von den Schiiten seit Jahrhunderten mehrheitlich abgelehnt, die darüber hinaus keinen Konsens gegen den Willen des unfehlbaren Imam, des aus schiitischer Sicht einzig rechtmäßigen Herrschers, anerkennen. Auch im sunnitischen Bereich ist immer wieder strittig, ob ein Konsens...