Da diese Arbeit sich auf die lebensweltorientierte Jugendarbeit und auf die Frage nach den Chancen und Grenzen des Web 2.0 für diese konzentriert, wird in diesem Kapitel die aktuelle Lebenswelt der Jugendlichen und deren Herausforderungen skizziert. Wie es um die Affinität der Jugendlichen zum Internet, insbesondere der Web 2.0-Anwendungen steht, wird unter Betrachtung der Ergebnisse aus zwei repräsentativen Studien erarbeitet.
Die Lebenswelt der Jugendlichen, die scheinbar zwischen den Welten schweben, gestaltet sich unübersichtlich. Eine nie endende Phase der Orientierung in der Flut der Möglichkeiten - jedoch ohne Anlegestelle auf der steht: Sie sind jetzt erwachsen, bitte aussteigen! Der folgende Blick auf die aktuelle Lebenswelten der Jugendlichen gleicht einem schweifen über die spätmoderne Gesellschaft und dem Versuch den Jugendlichen mit seinen Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben in den Fokus zu nehmen. Jugend wird in dieser Arbeit als eigenständige Lebensphase des Menschen verstanden. Jugend ist nicht am konkreten Alter fest zu machen, scheint aber zu expandieren. Anerkannt ist, dass der junge Mensch in diesem Lebensabschnitt, elementare Voraussetzungen für ein selbstständiges Handeln in der Gesellschaft erwirbt.
Eine wichtige Triebfeder des gesellschaftlichen Wandels war und ist die Technik, die den Menschen mehr und mehr in die Position bringt, sich selbst in den vielfältigen Lebensfeldern[19] zu verorten, an denen er, zumindest für eine Phase, nach- oder nebeneinander teilnimmt. Auch in der Freizeit spiegeln sich diese Teilungsprozesse in sprunghaftem und zeitweisen besuchen diverser Aktivitäten wieder. Angebote sind in jedem Lebensbereich bzw. Lebensfeld vielfältig vorhanden. Unter Angebote sind alle Wahlmöglichkeiten materieller[20] und immaterieller Art[21] zu verstehen, zwischen denen der (junge) Mensch wählen kann, wenn er dazu in der Lage ist. Die Problematik dabei ist, dass dazu Ressourcen materieller und immaterieller Art notwendig sind. Die Wählmöglichkeiten im materiellen Bereich sind abhängig vom sozialen Milieu bzw. vom finanziellen Faktor. „(D)ie wachsende Ungleichheit im Zugang der Menschen zu materiellen, sozialen und symbolischem Kapital, die gleichzeitig auch zu einer ungleichen Verteilung von Lebenschancen führt“ (Keupp, 2005, S. 8), ist im Kontext der aktuellen Entwicklung des Internets und seiner medialen Angebote und Eigenschaften geneauer zu betrachten. (vgl. Keupp, 2008, S. 153-173; vgl. Keupp, 2005, S. 1-20)
Der immaterielle Bereich, der nach Keupp einer ungleichen Verteilung der Ressourcen in der Gesellschaft unterliegt, ist gerade wegen des „symbolische(n) Kapitals“ (Keupp, 2005, S. 8) besonders interessant, auch für die Jugendhilfe und der Entdeckung von Ressourcen, da für die Jugendlichen die Bildungsangebote, kulturelle Angebote und Medienangebote zumindest in digitaler Form verfügbar sind.
Der Jugendliche steht dem „Angebot“ gegenüber, sich in diese „hochgetaktete“ Leistungsgesellschaft zu integrieren, die Möglichkeiten, Ressourcen, Bedürfnisse und Notwendigkeiten abzuwägen um die Lebensbereiche (Beruf, Partnerschaft, Freizeit, Bildung etc.) in ein Gleichgewicht zu bekommen und vor diesem Hintergrund noch eine Idee von der (eigenen) Zukunft zu entwickeln, ohne die Vergangenheit außer Acht zu lassen.
Das Bildungs- und Erziehungssystem steht vor der Herausforderung, Kinder und Jugendliche auf diese Veränderungen vorzubereiten. Andererseits sind junge Menschen heute zunehmend selbst gefordert, sich um die Aneignung von zukunftsfähigen Schlüsselkompetenzen zu bemühen. Bezogen auf die Sozialisation junger Menschen interessiert – neben diesen allgemeinen Entwicklungen in der „Informationsgesellschaft” – das Aufwachsen in Medienwelten.
In dieser fluiden Gesellschaft[22] scheint das Individuum orientierungslos und der Segmentierung, dem „Disembedding“ und den beschleunigten gesellschaftlichen Prozessen[23] hilflos ausgeliefert. Alle Charakteristika der postmodernen Gesellschaft gleichen einer Sturmflut an Herausforderungen für den jungen Mensch. Eine Möglichkeit diese Herausforderungen anzunehmen und zu bearbeiten ist die Suche nach „Ersatzstrukturen“ in der Gemeinschaft der Peer-Group, vermehrt auch in medialen „Räumen“.
Diese digitalen Interaktionsräume, die je nach technischer Hard- bzw. Software über den auditiven, visuellen, audiovisuellen oder über die Symbole einen medialen bzw. virtuellen Raum zwischen einem oder mehreren Individuen herstellen. Durch die hochinnovative Medientechnik stehen für alle genannten Übertragungsweisen entsprechend leistungsfähige Geräte zur Verfügung. Die Jugendlichen bewegen sich zumeist in mehreren dieser virtuellen Räume, wenn nicht gleichzeitig, dann hintereinander.
Die Möglichkeit zur Erweiterung des öffentlichen Raumes durch die Aneignung der digitalen Kommunikationsräume bieten neben dem herkömmlichen Handy inzwischen multifunktionale, multimediale mobile Kleincomputer, die bis auf den kleineren Bildschirm nahezu alle Funktionen, also auch die Web 2.0-Anwendungen, ausführen können, wodurch auch diese „Räume“ zu mobilisiert werden. Den Jugendlichen sind durch die medialen Netzwerke zum einen als vermehrt digital kommunizierende „Netzwerkkultur“ zu sehen, die aufgrund der medienkonvergenten Geräte bei Bedarf über einen, inzwischen mobilen, multimedialen Kommunikations- und Informationspool verfügen. Welche neuen Bedürfnisse haben die jungen Menschen der Spätmoderne? (vgl. Keupp, 2004, S. 8 und 11; vgl. Keupp, 2005, S. 1 - 20; vgl. Keupp, 2008, S. 272 - 286; vgl. Röll, 2010 A, S. 23–30; vgl. Röll, 2010 B, S. 38-43)
Aus der Beschreibung, wie sich die spätmoderne Lebenswelt der Jugendlichen gestaltet, sind die Herausforderungen und Aufgaben für ein Gelingen der Sozialisation ablesbar. Welche Bedürfnisse entstehen haben die Jugendlichen und welche Ressourcen werden benötigt?
Die Bedürfnisse der Jugendlichen wurden durch die Studie Circuits of cool[24] ermittelt:
Erlebnsiorientierung
Wunsch nach Zugehörigkeit
Eigene Identität entwickeln
Freiheit und Unabhängigkeit
Umgang mit Sexualität
Streben nach Status
Das Konzept der bedürfnisorientierten Jugendarbeit, das Ende der 70er Jahre von Damm entwickelt wurde, stimmt nach Röll nahezu mit diesen grundlegenden Bedürfnissen überein. (vgl. Röll, 2010 A, S. 30) Röll hat den in der Studie „Circuits of Cool“ genannten Aspekt der Suche nach Sicherheit und Orientierung nicht aufgeführt. Dieses Bedürfnis ist für die weitere Arbeit, in diese Zusammenstellung als gleichberechtigter Aspekt zu integrieren.
Sicherheit und Orientierung
Ressourcen zur gelingenden Identität
Keupp arbeitete im Zuge seines Konzeptes einer Patchwork-Identität eine Reihe an Ressourcen heraus, die für ein gelingende Identität notwendig sind. Diese haben nach Keupp keinen Anspruch auf Vollständigkeit:
Einen kohärenten Sinnzusammenhang durch eine eigene Lebenserzählung erlangen
Die Fähigkeit zum „boundary management“[25]
Sie brauchen „einbettende Kulturen“, soziale Netzwerke und soziale Kompetenz
Materielle Basissicherung als Zugangsvoraussetzung zu den Lebenschancen
Erfahrung der Zugehörigkeit
Kontext der Anerkennung als Voraussetzung zur gelingenden Identitätsarbeit
Beteiligung am alltäglichen interkulturellen Diskurs
Zivilgesellschaftliche Basiskompetenzen, z.B. in Projekten des bürgerschaftlichen Engagements erwerben (vgl. Keupp, 2005, S. 20)
Sind diese Ressourcen für einen Menschen verfügbar und werden aktiviert und entwickelt, ist nach Keupp die Konstruktion und von Identität auch auf dem Boden spätmoderner Gesellschaft möglich. Bei einem gelingenden Entwicklungsprozess stellt sich die „Lebenskohärenz“ bzw. das „Kohärenzgefühl“[26] ein. Die Bedingung an das Individuum ist eine hohe „Such-, Experimentier- und Veränderungsbereitschaft“. (Keupp, 2005, S. 14)
Im Gegensatz zur Moderne ist in der spätmodernen Gesellschaft eine deutliche Steigerung der individuellen Mitwirkung gefragt, was sowohl Chancen als auch Gefahren für den Einzelnen birgt. Bei einem Vergleich der Bedürfnisse der Jugendlichen, die von der Studie „Circuits of cool“ ermittelt wurden, ist das zentrale Grundbedürfnis der Jugendlichen eine eigene Identität aus dem Überschuss an Optionen[27] zu finden. Alle anderen Aspekte aus den aufgeführten Bedürfnissen sind die Prämisse für eine soziale Identität. Das Streben nach Status...