Jahrzehntelang profitierte die evangelische Kirche von steigenden Kirchensteuereinnahmen. Allein zwischen 1975 und 1992 stieg das Aufkommen aus dem acht- bis neunprozentigen Zuschlag zur Einkommensteuer – bereinigt um den Anstieg der Verbraucherpreise (!)–um 38,1%. 1 Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich dieser Trend jedoch umgekehrt. Bis 2005 sank das Kirchensteueraufkommen im Durchschnitt aller Gliedkirchen der EKD real um 32,1 % und lag nach zwischenzeitlicher Erholung 2011 26,4 % unter dem von 1992. 2 Dabei sind die Landeskirchen im Süden der Bundesrepublik weniger betroffen als die im Norden und Westen Deutschlands. 3 Am schwierigsten stellt sich die finanzielle Situation der Landeskirchen in den ostdeutschen Bundesländern dar. 4
Die Ursachen für diese Entwicklung sind neben der schlechten Beschäftigungslage der 1990er Jahre vor allem in der staatlichen Steuerpolitik zu suchen. Die größten Einzelfaktoren bilden die Absenkung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer zwischen 1999 und 2005 und die nicht genau bezifferbaren Folgen der durch die Einführung des Solidaritätszuschlags ausgelösten Kirchenaustrittswellen. Hinzu kommen die kumulativen Auswirkungen früherer Kirchenaustritte. 5 Ließen sich erste Einnahmeausfälle noch mithilfe von Einzelmaßnahmen kompensieren, lösten weitere Rückgänge zu Beginn des letzten Jahrzehnts auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens Rückbau- Reorganisierungs- und Neuorientierungsprozesse von zum Teil erheblichem Umfang aus, wie die folgenden Beispiele zeigen.
I. Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen
Auf Ebene der gesamtdeutschen Zusammenschlüsse führten die sinkenden Einnahmen unter anderem zur Umwandlung des traditionsreichen »Allgemeinen Deutschen Sonntagsblatts« in das monatlich den wichtigsten überregionalen Zeitungen beiliegende Magazin »Chrismon« und zur Zusammenlegung der Verwaltungsämter von EKD, VELKD und UEK. Die Auswirkungen auf die kirchengemeindliche Arbeit, übergemeindliche Einrichtungen und kirchliche Verwaltungsämter seien hier exemplarisch an Beispielen aus der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche (NEK) beschrieben. 6
Die NEK ist verglichen mit anderen Landeskirchen überdurchschnittlich von Einnahmeausfällen betroffen. Das Kirchensteuernettoaufkommen kletterte von 1990 bis 1992 zunächst von 308.870.000 € auf 380.180.000 € und schrumpfte dann bis 2004 auf 273.400.000 €. Das bedeutet preisbereinigt einen Rückgang gegenüber 1990 um 32,7%, gegenüber 1992 um 41 %. Bis 2008 stieg es wieder auf fast 380.000.000, um bis 2010 wieder auf 346.800.000 € zu sinken. Damit lagen die Kirchensteuereinnahmen der NEK real noch etwa 21,7 % unter denen von 1990 und 31,4 % unter denen von 1992. 7
Diese Einnahmerückgänge hatten umfangreiche Kürzungsmaßnahmen zur Folge. So gingen zwischen 1993 und 2007 rund 10 % der Pfarrstellen und 32 % der hauptamtlichen Kirchenmusikerstellen verloren. 8 Die Personalstellen anderer, im Wesentlichen durch Kirchensteuern finanzierter kirchlicher Berufsgruppen, wie Mitarbeitende im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, Küsterinnen und Küster, Sekretärinnen, Reinigungskräfte, Hausmeister oder Landschaftsgärtner, werden statistisch nicht erfasst, dürften aber zu mehr als 50 % weggefallen sein.
Die von Personalstellenkürzungen betroffenen Arbeitsfelder sind in vielen Fällen mit den übrig gebliebenen Stellenanteilen in die regionale Verantwortung mehrerer Kirchengemeinden übergegangen. Darüber hinaus zwangen die sinkenden Finanzen sehr kleine ländliche und großstädtische Kirchengemeinden zur Aufgabe ihrer Selbstständigkeit. Dadurch sank die Gesamtzahl der Kirchengemeinden in Nordelbien zwischen 1990 und 2009 von 676 auf 594. 9 Die Anzahl der Kirchenkreise und mit ihnen die der Verwaltungsämter reduzierte sich 2009 durch Zusammenschlüsse von siebenundzwanzig auf elf, die der pröpstlichen Stellen von dreißig auf achtundzwanzig. 10
Was die abnehmenden Kirchensteuereinnahmen für die kirchengemeindliche Arbeit bedeutet, sei im Folgenden an zwei Fälle verdeutlicht. 11 Einer kleinen Kirchengemeinde im ländlichen Schleswig-Holstein wurde bis 2001 vom Kirchenkreis eine ganze Pfarrstelle zugewiesen. 2001 kürzte die Kirchenkreissynode im Rahmen der Anpassung des Pfarrstellenplans an das gesunkene Kirchensteueraufkommen die Pfarrstelle zunächst auf 75 %, 2010 auf 50 %. Mit den übrigen Stellenanteilen nimmt der Pfarrstelleninhaber Aufgaben in den ebenfalls von Pfarrstellenkürzungen betroffenen Nachbargemeinden wahr. Gleichzeitig nahm die Kirchensteuerzuweisung des Kirchenkreises an die Kirchengemeinden ab dem Haushaltsjahr 2003 um 25 % ab. Die Sachkosten machen einen so geringen Anteil des Haushalts aus, dass in diesem Bereich kaum Effizienzgewinne zu erzielen sind. Deshalb sah sich der Kirchenvorstand auch im Blick auf das eigene Budget zu Personalstundenkürzungen gezwungen, da sonstige Einnahmen wie Mieten, Pachten, Kirchgeld, Spenden und Kollekten die Ausgaben nur zu etwa 15 % abdecken. Die Küster- und die Kirchenmusikerstelle wurden um je ein Drittel gekürzt, die Stelle des Landschaftsgärtners ganz gestrichen, die nötige Pflege der Grundstücke auf ein Minimum reduziert und auf Honorarbasis vergeben, Friedhof und Kindertagesstätte zur Entlastung des Pfarrstelleninhabers in Kirchengemeindeverbände eingebracht. Die Anzahl der Gottesdienste musste in regionaler Abstimmung mit den Gottesdienstzeiten der umliegenden Gemeinden zunächst auf drei, später auf zwei Sonntage im Monat reduziert werden. Die in der Kirchengemeinde anfallenden Verwaltungsarbeiten werden inzwischen ehrenamtlich erledigt.
Ein zweites Beispiel: Zwischen 1978 und 1998 sank die Zahl der Gemeindeglieder von vier Gemeinden eines großstädtischen Stadtteils durch Kirchenaustritte und demographische Veränderungen von 38.000 auf 17.000. Aufgrund abnehmender Einnahmen beschlossen die Kirchenvorstände 1998, sich zu einer Kirchengemeinde zusammenzuschließen. Um Personalstellen nicht stärker als nötig kürzen zu müssen, entschied der Kirchenvorstand 2005, zwei der vier Kirchen zu verkaufen. Die eine befindet sich heute in Privatbesitz und dient als Event-Location und Café, das Grundstück der anderen wurde zur Hälfte von einem privaten Investor erworben und neu mit Eigentumswohnungen bebaut. Die durch den Verkauf erzielten Einnahmen flossen in die Bauerhaltung von zwei der im Besitz der Gemeinde verbliebenen Kirchen, den Umbau der dritten in eine Kindertagesstätte sowie in den Abbruch eines nicht mehr sinnvoll zu erhaltenden Pastorats und seinen Neubau. Dort sind neben der Wohnung für die Pastorin auch Gewerbeflächen und Mietwohnungen vorgesehen. Um zusätzliche Einnahmen zu erzielen, vermietet die Kirchengemeinde ihre Kirchen- und Gemeinderäume. Von den acht Pfarrstellen im Jahr 2003 sind acht Jahre später noch sechs übrig geblieben, eine weitere halbe Pfarrstelle wird in den kommenden Jahren wegfallen. Von den drei Kirchenmusikerstellen des Jahres 2003 existieren noch eineinhalb. Die Sekretärinnen- und Küsterstellen wurden halbiert. Nur die überwiegend drittmittelfinanzierten Personalstellen im sozialdiakonischen Bereich konnten erhalten werden. Die Kirchengemeinde arbeitet derzeit mit Unterstützung des Kirchenkreises daran, zur Finanzierung von Personalstellen Stiftungen aufzubauen, um sich unabhängiger von der Kirchensteuerzuweisung zu machen.
Typisch an diesen beiden Beispielen ist der hohe Anteil an Personal- und Gebäudekosten, die institutionelle Einbettung in das landeskirchliche und kirchenbezirkliche Gefüge der Finanzverteilung und die damit gegebene Abhängigkeit von Entscheidungen übergemeindlicher Ebenen über Personal-, Kirchensteuerzuweisungen und Bedarfszuschüsse. Eigene Einnahmen aus Pachten, Mieten, Stiftungen, lokalen Kirchensteuern oder Spenden sind vorhanden, decken in der Regel aber nur einen kleinen Teil der Ausgaben. Die Entscheidungsspielräume für Effizienzgewinne sind also von vornherein begrenzt. Sinkende Kirchensteuereinnahmen können überwiegend nur durch den Rückbau von Personalstellen und den Verkauf von Gebäuden bewältigt werden.
Auch die Kirchenkreise und die landeskirchliche Ebene blieben von Rückbaumaßnahmen nicht verschont. Die nordelbischen Dienste und Werke mussten Ausgabenkürzungen von bis zu einem Drittel verkraften. 12 Der nach den Kürzungswellen übrig gebliebene Bestand an Einrichtungen wurde in sieben Fachabteilungen zusammengefasst, auf wenige Standorte konzentriert, die anderen Gebäude einschließlich des Predigerseminars und der evangelischen Akademie (!) verkauft. Die Landeskirche verlegte die Vikarsausbildung in die Räume des Pastoralkollegs, reduzierte die Vikariatsplätze von jährlich rund neunzig auf unter zwanzig und beschränkte die Ausbildung für Diakoninnen und Diakone auf die Evangelische Hochschule am Rauhen Haus. Ähnlich verfuhren die Kirchenkreise mit ihren überwiegend kirchensteuerfinanzierten Einrichtungen. Im Bereich der kirchlichen Verwaltungsarbeit sollen durch die Zusammenlegung von Kirchenkreisverwaltungsämtern, die Standardisierung von Verwaltungsaufgaben und die Vereinheitlichung der EDV Kosten gesenkt werden. Ende Mai 2012 schlossen sich die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche gemeinsam mit der Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs und der Pommerschen Evangelischen Kirche, die als selbstständige...