Wie Wasserwellen?
Als der deutsche Rechtswissenschaftler Josef Kohler im Jahr 1880 einen dreihundertfünfzigseitigen Wälzer zum Autorrecht[1] publizierte, war das Deutsche Reich knapp ein Jahrzehnt jung, genauso jung wie die reichseinheitliche Regelung des literarisch-musikalischen Urheberrechts von 1870.[2] Die rechtswissenschaftliche Systematisierung dieses Rechtsfeldes hatte eben erst begonnen.[3]
Kohler gehörte zu jenen Juristen, die im 19. Jahrhundert das Recht der Erfinder (Patentrecht) und Autoren (Copyright im angelsächsischen Sprachraum, Droit d’auteur im französischen Sprachraum und Urheberrecht im deutschen Sprachraum) als Wissenschaft begründeten. Er hob diese Rechtsbereiche dezidiert von den frühneuzeitlichen Privilegien (»Gnadengaben«)[4] ab und prägte das Konzept der »immateriellen Güter«.[5] Die immateriellen Güter waren für Kohler wirtschaftliche Güter«,[6] weil deren Schöpfung »Arbeit« darstelle: »Die philosophische Begründung des Eigenthums und des Immaterialgüterrechts liegt in der Arbeit, richtiger in der Güterschöpfung; wer ein neues Gut schafft, hat das natürliche Recht daran.«[7] Er begründete die Schöpfung qua Arbeit mit Rekurs auf John Locke, aber insbesondere auch mit Rückgriff auf die Moralphilosophen und Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie Adam Smith, David Ricardo, Jean-Baptiste Say und Frédéric Bastiat.
Die Eigentumsrechte seien mit Luft, gasartigen Stoffen und mit der »Wasserwelle«[8] vergleichbar. Er beschrieb die immateriellen Güter anhand der Analogie des »fließenden Wassers« als zeitlich befristete Rechte: So wie die Rechte an Wasser an die späteren Ufernachbarn weiterfließen würden, seien auch die Autorrechte »momentane« Rechte, die nach Gebrauch an Dritte übergehen. Der Vergleich mit dem Wasser als einem »eminenten Kulturfaktor«[9] ist aufschlussreich: Das fließende Wasser war der fluide Rohstoff der Elektrizität und die Antriebskraft der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Bereiche, denen immaterielle Güter in der Vorstellung Kohlers hinsichtlich ihres Fortschrittspotentials in nichts nachstanden. Die von Kohler angesprochene »momentane« Zeitdauer ist allerdings so momentan nicht, wenn man bedenkt, dass im Deutschen Urheberschutzgesetz von 1870 der Schutz dreißig Jahre währen sollte. Kohler verstand die immateriellen Güter überdies ausschließlich als Rechtsansprüche von Individuen. Deren Persönlichkeit verbinde sich in einem Akt der Schöpfung mit Sachen und erlaube ihnen die alleinige Verfügung über das Geschaffene: »Er [der Autor, MD] allein soll bestimmen, ob wie und inwieweit es veröffentlicht und aller Welt zugänglich gemacht werden soll.«[10]
Kohlers Schriften zum Autorrecht sind von Juristen bis in die Gegenwart gelobt, manchmal in Frage gestellt und oft zitiert worden, weil sie die Probleme jener Zeit schärfer als andere juristische Kommentare analysierten und mit Lösungsvorschlägen versahen. Sie sind aus historischer Perspektive gerade deshalb interessant, weil sie das Recht ihrer Zeit beobachteten und durch Interpretationen prägten. Sie eröffnen die Möglichkeit, einen Beobachter zu beobachten, und damit die Veränderungen, die er wahrnimmt und in einer eigenen Sprache fasst, der historischen Analyse zugänglich zu machen.[11]
Der seit 1888 als Professor an der Humboldt-Universität in Berlin lehrende Kohler arbeitete sich in einer Übergangszeit der Rechtswissenschaft an den Traditionen seines Faches ab. Er gehörte zu jenen Juristen, die sich von der durch Friedrich Carl von Savigny verkörperten »historischen Schule« abgrenzten und Recht als »ein der Kultur gemässes und ihren Fortschritten folgendes Recht« verstanden.[12] Das Recht an »immateriellen oder unkörperlichen Gütern« und das »Recht an Ideen literarischer, künstlerischer oder industrieller Art« galten Kohler als Ausdruck eines »industriellen Zeitalters« und einer »Kultur der Gegenwart«.[13] Dass er sich dabei ausgiebig mit Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtsvergleich und kulturanthropologischen Themen[14] beschäftigte, ist aus dieser Suche nach neuen Begriffen und Konzepten für eine Zeit im Wandel zu verstehen. Er untermauerte die Gültigkeit und Universalität der von ihm formulierten Rechtskategorien nicht wie viele seiner Zeitgenossen primär mit Referenz auf das römische Recht, sondern durch eine Fülle von Beispielen aus dem französischen, angelsächsischen, spanischen und außereuropäischen Recht.[15] Das Autor- und Patentrecht und die Rechte der Post, der Telegraphie und des Eisenbahnverkehrs interessierten ihn besonders, weil sie neu waren und er mit ihnen auch die Hoffnung auf völkerrechtliche Prinzipien verband.[16] Als er am Vorabend des Ersten Weltkriegs letztmals seine Vision einer »Vergesellschaftung der Nationen« und der Weltwirtschaft unter »vernünftigen Bahnen« skizzierte, erscheint dies ex post einerseits als Akt der Verzweiflung. Gleichzeitig werden auch die Grenzen von Kohlers Rechtsuniversalismus sichtbar:[17] Die ›Welt-Vergesellschaftung‹ war für Kohler ein Projekt der »christlichen Völker im Verein mit den erst neulich hervorgetretenen, von europäischer Bildung durchtränkten Ostasiaten«. Die »Staaten des Islams« mit ihrer »Einfachheit des Dogmas« und »einleuchtender Art der Verheißung« waren von Kohlers universalistischen Konzepten hingegen ausgeschlossen.[18] Für diese Staaten sah er eine »indirekte Herrschaft« mittels »Protektionsverhältnis« und »Finanzkontrolle« vor.[19]
Die Urheberrechte wurden im deutschsprachigen Raum im Jahr 1896 gemeinsam mit den Patent-, Muster- und Firmenschutzrechten und der Thematik des unlauteren Wettbewerbs in der Zeitschrift Gewerblicher Rechtschutz und Urheberrecht (GRUR) erstmals in einen kontinuierlichen rechtswissenschaftlichen Diskussionszusammenhang integriert.[20] Dass Josef Kohler den ersten Text der ersten Nummer verfasste, zeigt das Renommee, das er genoss.[21] Die Urheberrechte wurden im Kontext eines sich konstituierenden Wirtschaftsrechts entwickelt und ausschließlich in einem engen Kreis von Interessengruppen debattiert. Das Editorial der ersten Nummer von GRUR erläuterte die Motive für die Zeitschriftengründung: »Der deutsche Verein zum Schutze des gewerblichen Eigentums hat es sich zur Aufgabe gemacht, unter Mitwirkung seiner Mitglieder selbst die Erfahrungen und Anschauungen der deutschen Interessentenkreise zu ermitteln, das gesammelte Material zu verarbeiten und die hierbei gewonnenen Ergebnisse der öffentlichen Erörterung zu übergeben. Ist auf diese Weise eine Frage durch das Abwägen verschiedener Interessen so geklärt, dass man annehmen kann, einen den Gesamtinteressen entsprechenden Standpunkt gefunden zu haben, so ist es eine weitere Pflicht des Vereins, den gesetzgebenden Körpern des Reiches diejenigen Anträge zu unterbreiten, in denen die Bedürfnisse und Wünsche der deutschen Industrie- und Handelswelt zum Ausdruck kommen.«[22]
Das Ende des Copyrights?
Fast ein Jahrhundert nach Erscheinen von Kohlers Buch zum Autorrecht fand im Jahr 1966 an der Columbia University in New York unter dem Titel »An Unhurried View of Copyright« eine Vorlesungsreihe des an der Harvard Law School lehrenden Juristen Benjamin Kaplan statt.[23] War Kohlers Kommentierung der Autorrechte zu Beginn einer juristischen Karriere erschienen, sprach Kaplan mit dem Gewicht des etablierten Experten. Hatte Kohler seine Erörterung kurz nach der Verankerung des ersten nationalen Urheberrechts in Deutschland verfasst, äußerte sich Kaplan mitten im langwierigen Revisionsprozess des amerikanischen Copyright Act of 1909 in den 1960er Jahren, der erst mit dem Copyright Act of 1976 zu einem vorläufigen Abschluss kam. Hatten der Buchdruck, die Lithographie und die Fotografie noch Kohlers Autorrechtswelt geprägt, beschäftigten sich die Juristen und Richter inzwischen mit der Frage, wie das Copyright in Hinblick auf Radiowellen, Fotokopierer, Kabelfernsehen und Computer zu regeln sei. Während der deutsche Jurist eine systematische Begründung des neu kodifizierten Autorrechts vorgelegt hatte, übte der amerikanische Rechtswissenschaftler Kritik an der Entwicklung des Copyrights. Kaplans Hauptkritik zielte einmal auf die in der Revision vorgesehene Verlängerung der Schutzfristen. Sie bot ihm Anlass, jene von Kohler prosaisch mit einer Wasserwelle verglichene Zeitspanne in Frage zu stellen, für die dem Autor das exklusive Recht der Verfügung über sein Werk zufiel: »Shall I now say in candor that I have sometimes dared to think even the fifty-six years is too much?«[24] Zudem sah er die im Copyright zentralen Kategorien »Persönlichkeit« und »Individualität« durch das Aufkommen von Fotokopien und Informationssystemen erschüttert: »With mutations of machines, already imaginable, that foreshadow symbiotic relationships with the human brain, ideas of individuality and personality in relation to intellectual accomplishment may themselves be...