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E-Book

Parallele Leben

Eine persönliche Geschichte

AutorAmos Kollek
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783104025841
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Das beeindruckende, unterhaltsame Leben eines polyglotten Intellektuellen zwischen Jerusalem und New York. In seiner Autobiographie verarbeitet der international anerkannte Filmemacher und Autor Amos Kollek seine persönliche Lebensgeschichte und seinen kreativen Werdegang zu einem Stück israelischer Zeitgeschichte. Die bestimmenden Pole seines Lebens waren seine Eltern: seine starke Mutter Tamar, für die das Leben im Kibbuz stets das Ideal war, und sein charismatischer, lebensfroher Vater Teddy, der als Bürgermeister von Jerusalem zur internationalen Berühmtheit wurde. Amos Kollek setzt immer wieder seinen Werdegang in Beziehung zum Leben seiner Eltern. Er erzählt ungewöhnlich offen von seinen prägenden Erfahrungen als Sohn, Schriftsteller, Ehemann und Künstler.

Bevor Amos Kollek, geboren 1947, zum Film kam, war er schon ein arrivierter Schriftsteller, dessen erster Roman ?Don't ask me if I love? gleich ein Bestseller wurde. Kollek, der einer der bekanntesten und angesehensten Independent-Filmemacher ist, wurde vor allem durch seine in New York - seiner zweiten Heimat - angesiedelten Filme (u.¿a. ?Sue - Eine Frau in New York?, ?Bridget?, ?Fast Food, Fast Women?) bekannt. Besonders in Europa wird er von der Kritik und dem Publikum mit Preisen und Anerkennung ausgezeichnet. Er arbeitete u.¿a. mit Hanna Schygulla, Alec Baldwin, Debbie Harry und mit Faye Dunaway. Zuletzt erschienen im Fischer ­Taschenbuchverlag sein Roman ?Es geschah in Gaza? und ?Ein Leben für ­Jerusalem? (zus. mit Teddy Kollek).

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Leseprobe

Kapitel eins Teddys Tod


Teddys Tod


Am Morgen des 2. Januar 2007 hatte ich um neun Uhr einen Termin bei einer jungen Psychotherapeutin in Jerusalem, um – ausgerechnet – über meine Beziehung zu meinem Vater zu sprechen. Um zehn nach neun klingelte mein Handy, und Doktor Lavi, der meine Eltern im Altersheim betreute, sagte mir, mein Vater sei soeben gestorben.

Ich legte auf und erzählte es der Therapeutin. Ihre Reaktion war erstaunlich. Sie sagte: »Also, Ihre Sitzung dauert noch fünfunddreißig Minuten. Würden Sie gerne darüber reden, was Sie jetzt empfinden?« Ich sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. Mein Vater war gerade gestorben! Und da sollte mir nichts Besseres einfallen, als mit dieser Therapeutin über meine Gefühle zu reden? Ich dankte ihr und ging zu meinem Auto, um zur Wohnung meiner Eltern zu fahren. Meine Mutter saß in ihrer kleinen Küche beim Frühstück. Sie wusste es noch nicht. Ich ging in das Zimmer meines Vaters und schloss die Tür hinter mir. Er lag auf dem Rücken, den Mund weit offen. Ich saß ungefähr fünf Minuten an seinem Bett, sah ihn nur an und berührte ihn. Ich strich über sein Gesicht. Seine Wange fühlte sich an wie aus Gummi. Ich versuchte, den Moment ganz auf mich wirken zu lassen und die Nähe zu meinem Vater zu spüren, aber ich empfand gar nichts. Dann verließ ich das Zimmer und rief meine Schwester an. Sie lebte damals außerhalb Jerusalems und sagte, sie würde sofort kommen. In der Küche setzte ich mich zu meiner Mutter an den Tisch. Sie sah mich an, während sie aß.

»Mama, ich muss dir etwas sagen«, fing ich an.

Sie nickte. »Ja.«

Ich sagte nur: »Mama, Teddy ist tot.«

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, während sie mich unverwandt anstarrte. Ich wusste nicht, ob sie verstanden hatte, was ich ihr gerade erzählt hatte.

Sie waren zweiundsiebzig Jahre lang zusammen gewesen.

Eine lange Zeit.

Schließlich fragte sie: »Wirklich?«

Ich antwortete: »Ja. Im Schlaf. Er musste nicht leiden. Bald werden Leute kommen.«

Immer noch sah sie mich nur an. Ich glaube, mehr sagte sie nicht. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos.

Die kleine Wohnung füllte sich rasch mit Menschen. Meine Schwester kam. Der langjährige Chauffeur und enge Freund meines Vaters Nahum Ben Netanel. Meine Frau Osnat. Freunde der Familie. Offenbar hatte man die Todesnachricht bereits im Radio gemeldet.

Meine Schwester, die ebenfalls Osnat heißt, hatte eine Kamera mitgebracht. Sie ging in das Zimmer meines Vaters und betrachtete ihn eine Weile. Dann fing sie an, ihn aus allen möglichen Perspektiven zu fotografieren. Sein Gesicht, seine Hände, seine Arme, Beine und Füße. Ich glaube, die Aufnahmen sollten ihr dabei helfen, ihn ganz genau im Gedächtnis zu behalten und nichts zu vergessen. Sie liebte und bewunderte unseren Vater mehr als jeder andere.

Das israelische Kabinett beschloss in einer Sondersitzung, meinen Vater mit einem Staatsbegräbnis zu ehren, auf dem Herzlberg, in jenem Teil des Friedhofs, der den »Großen der Nation« vorbehalten ist – eine beispiellose Anerkennung, die einem Bürgermeister eigentlich nicht zustand. Ehud Olmert, der meinen Vater bei den Bürgermeisterwahlen von Jerusalem 1993 geschlagen hatte, war jetzt Ministerpräsident und leitete die Sondersitzung. Ich hatte das Gefühl, die Entscheidung kam vor allem auf sein Betreiben zustande, vielleicht als Ausgleich dafür, dass er Teddys Karriere ein Ende gesetzt hatte.

Ein Staatsbegräbnis erforderte eine Menge Vorbereitungen und folgte einem strengen Protokoll. Am Abend rief man meine Schwester und mich in die Knesset, das israelische Parlament, um uns über den Ablauf zu informieren und zu Rate zu ziehen. Das Begräbnis sollte am folgenden Morgen stattfinden, damit Ministerpräsident Olmert daran teilnehmen konnte, bevor er nach Amerika flog.

So bald.

Mir blieb keine Zeit, um nachzudenken oder mir über meine Gefühle klarzuwerden. Ich lief auf Autopilot. In den Tagen nach dem Tod meines Vaters, die von hektischer Betriebsamkeit erfüllt waren, beobachtete ich meine Mutter Tamar. Besucher kamen, um ihr zu kondolieren. Sie sagte nichts oder sehr wenig. Ich hatte keine Ahnung, ob sie begriff, was passiert war. Sie weinte nicht. Ihr Gesicht verriet keine Regung. Sie wirkte wie immer, nur ein bisschen stiller.

Die Beerdigung war ein bedeutendes Ereignis. Alles, was Rang und Namen hatte, nahm daran teil.

Ehud Olmert, Shimon Peres, die Parlamentspräsidentin Dalia Itzik und ich hielten Trauerreden. Ich hatte meine kurze Abschiedsrede am Vorabend geschrieben, rasch, aber mit viel Gefühl und Bedachtsamkeit. Ich wusste, dass es bewegende Worte waren, schließlich war ich ein Schriftsteller. Wenn ich nicht einmal eine gute Trauerrede auf meinen Vater zustande brachte, was taugte ich dann in meinem Beruf?

Zu Beginn sagte ich, Teddy Kollek sei kein einfacher Vater gewesen, und ich endete mit den Worten:

»Am Abend, bevor mein Vater starb, saß ich an seinem Bett. Er lag bereits im Koma, aus dem er nicht mehr aufwachte. Ich betrachtete ihn. Ich umklammerte seine Schulter, seine Hand, seinen Arm. Selbst mit fünfundneunzig war er immer noch kräftig. Ich wusste, dass ich für immer von ihm Abschied nahm. Und während ich seine Schulter, seine Hand und seinen Arm berührte, dachte ich: Vielleicht geht ein wenig von seiner Kraft auf mich über. Ich hoffe es zumindest.«

Dann kehrte ich an meinen Platz zurück. Ich spürte, dass die Zuhörer bewegt waren. Viele richteten den Blick auf mich. Ich hatte noch nie zuvor öffentlich in Israel gesprochen.

Nach der Beisetzung, als man den Sarg ins Grab gesenkt und mit Erde bedeckt hatte, trat Verteidigungsminister Ehud Barak zu mir, schüttelte mir die Hand und sagte, meine Trauerrede habe ihn sehr berührt. Das erwähne ich deshalb, weil Ehud Barak der höchstdekorierte Soldat in der Geschichte der israelischen Armee ist. Er führte das Kommando über die Sayeret Matkal, eine Spezialeinheit der Streitkräfte mit Schwerpunkt Terrorabwehr, er war Generalstabschef, Verteidigungsminister und Ministerpräsident gewesen. Er galt als harter, nüchterner und unnahbarer Mensch, aber ich empfand großen Respekt für ihn. Einige Jahre zuvor war ich für einen einzigen Tag von New York nach Israel geflogen, um ihm bei der Ministerpräsidentenwahl meine Stimme zu geben. Helden hatte ich schon immer bewundert, und deshalb bedeutete mir unser kurzes Gespräch am Grab meines Vaters sehr viel.

Meine Nichte Shira und meine Tochter Avigayeel legten den Kranz der Familie am Grab nieder. Sie wirkten beide traurig und würdevoll. Shira, das älteste Kind meiner Schwester, war damals Soldatin und trug ihre Uniform. Meine Mutter, die im Kreis der Familie saß, wirkte vollkommen unbeteiligt, als ginge sie das alles gar nichts an. Ich hatte keine Ahnung, ob sie wusste, dass sie an Teddys Beerdigung teilnahm.

Ihr Zustand veränderte sich auch in den darauffolgenden Monaten nicht. Meine Mutter empfing Beileidsbesucher, sagte sehr wenig und erwähnte nie den Namen meines Vaters. Sie wirkte absolut emotionslos, wie erstarrt – und sehr ruhig. Wenn ein Besucher sagte, wie wundervoll und großartig mein Vater gewesen sei und was für einen Verlust sein Tod für den Staat Israel und für Jerusalem bedeute, starrte sie ihn nur an und sagte kein Wort.

Auch später fragte sie nie nach meinem Vater. Sie erkundigte sich nicht, was mit ihm passiert sei und warum er nicht zu Hause war. Sicher, sie war bei seiner Beerdigung gewesen, warum sollte sie fragen? Aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass sie gar nicht wusste, was dort vor sich gegangen war, oder dass sie es ganz tief in ihrem Unterbewusstsein vergraben hatte. Sie begleitete uns nicht, als wir gemäß der jüdischen Tradition dreißig Tage nach seinem Tod sein Grab besuchten. Es war ein kalter Wintertag, und wir fanden, sie sollte lieber keine Erkältung riskieren. Trotzdem war es seltsam, dass sie überhaupt keine Reaktion zeigte. Sie verhielt sich, als wäre nichts passiert und als hätte sich nichts geändert.

Soweit ich weiß, ist Tamar nie in sein Zimmer gegangen, um ihn zu suchen. (Meine Schwester meint allerdings, unsere Mutter habe in den ersten Jahren nach seinem Tod gelegentlich in seinem Zimmer und im Foyer nach ihm gesucht. Vielleicht hat sie recht. Im Großen und Ganzen fuhr Tamar einfach mit ihrem normalen Alltagsleben fort, wenn auch in etwas gedämpfter – aber nicht deprimierter – Stimmung, als wäre Teddy Kollek nie Teil ihres Lebens gewesen. Seine Fotos, die überall im Wohnzimmer hingen, schienen sie nicht zu interessieren. Das war ziemlich grotesk. Manchmal betrachtete sie andere Bilder an der Wand, Gemälde und alte Karten von Jerusalem, aber ich glaube hauptsächlich deshalb, weil sie groß waren und in Augenhöhe hingen. Insgesamt machte sie einen relativ teilnahmslosen Eindruck. Sie aß ihre Mahlzeiten, nahm ihre Tabletten und ruhte viel. Wenn meine Schwester oder ich sie besuchten, schien sie sich zu freuen, aber manchmal wirkte sie auch vollkommen gleichgültig. Das Thema Teddy kam nur zur Sprache, wenn meine Schwester oder ich eine Bemerkung machten. Dann starrte sie uns mit leerer Miene an. Von Zeit zu Zeit nickte sie. Das war alles.

5. Februar 2011

Bis zum heutigen Tag, mehr als vier Jahre nach Teddys Tod, habe ich nicht die leiseste Ahnung, was Tamar mitbekommt, was sie denkt oder fühlt. Zwei Frauen kümmern sich liebevoll um sie. Sie isst regelmäßig. Manchmal versucht sie, mithilfe einer Lupe, die wir ihr gekauft haben, zu lesen, aber nicht sehr lange, weil sie sehr schlecht sieht. Sie besucht...

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