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Geburt der Gegenwart

Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert

AutorAchim Landwehr
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783104029405
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wenn die Zukunft vorherbestimmt ist, hat die Gegenwart keine Bedeutung - über die Entstehung unseres modernen Zeitempfindens Ein Leben ohne Termine ist heute kaum vorstellbar. Zeit ist ein kostbares Gut, das verwaltet und genutzt sein will. Doch die Zeit ist vor allem eine Idee. Lange glaubte man, die Apokalypse und das Reich Gottes stünden kurz bevor - wozu also die Gegenwart gestalten, da man damit die Zukunft doch nicht verändern kann? Der renommierte Historiker Achim Landwehr erzählt, wie sich diese Zeitvorstellungen im 17. Jahrhundert wandelten und Gegenwart und Zukunft allmählich an Bedeutung gewannen: Kalender boten nun Platz für persönliche Einträge, Zeitungen berichteten vom Hier und Heute, und mit Versicherungen sorgte man für das Morgen vor. Die überraschende Geschichte von der Geburt eines neuen Zeitwissens, durch das sich die Welt ebenso grundlegend wandelte wie durch die großen Entdeckungen von Galilei bis Newton.

Achim Landwehr, geboren 1968, lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Einführung ?Historische Diskursanalyse? (2009) ist ein wichtiges Standardwerk für Studierende. Bei S. Fischer erschien von ihm 2014 ?Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert?. 2012 erhielt er für seinen Beitrag ?Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung? den Essaypreis der Zeitschrift »Werkstatt Geschichte«. Er betreibt einen Geschichtsblog unter www.achimlandwehr.wordpress.com

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Leseprobe

Finale Kalkulationen


Es gab nicht nur ein Ende. Es gab eine Vielzahl an Endzeitvorstellungen, die zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschten und die vor allem den jeweiligen Bedürfnissen unterschiedlicher konfessioneller und sozialer Gruppen angepasst waren. Das Ende der Welt, wie man sie kannte, war zwar stets der zentrale Bestandteil – darüber hinaus gab es aber große Meinungsverschiedenheiten darüber, wann das Ende kommen würde, wie es konkret vonstattengehen sollte und wer auf welche Weise davon betroffen wäre.[91]

Mathematische Annäherungen können verdeutlichen, wie bedeutsam und konkret für die Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts das Ende der Welt war. Zwar wurde regelmäßig wiederholt, dass die näheren Umstände zukünftiger Entwicklungen mehr als ungewiss seien, und es war theologisch recht heikel, sich in entsprechenden Mutmaßungen zu ergehen. Doch war das Verlangen, Näheres über das drohende Finale zu erfahren, unübersehbar. Hierauf verwendeten die Menschen eine nicht unerhebliche Menge an Zeit und Energie. Grundlage war die weithin geteilte Überzeugung von der begrenzten Zeit, die der Welt überhaupt zur Verfügung stand. Auf der Grundlage biblischer Angaben und heilsgeschichtlicher Überlegungen wurden für die Dauer der Schöpfung in etwa 6000 Jahre veranschlagt – abgeleitet aus den sechs Schöpfungstagen sowie aus dem Umstand, dass für den Schöpfer tausend Jahre wie ein Tag seien (2. Petrus 3,8). Aufgrund der – sehr schwierigen – Summierung alttestamentarischer Generationenfolgen kam man auf einen Schöpfungszeitpunkt, der circa 4000 Jahre vor Christi Geburt gelegen haben musste, so dass der Welt nach dieser Zeitenwende noch etwa 2000 Jahre zur Verfügung standen.

Solche Berechnungen zum Alter und zur noch währenden Dauer der Welt wurden auch jeder Käuferin und jedem Käufer eines Kalenders mit der größten Selbstverständlichkeit präsentiert. Denn zu den standardisierten Basisinformationen eines Kalenders gehörte die heilsgeschichtliche Einordnung des jeweiligen Jahres. Im Kalender des Mathematikers und Astronomen David Froelich (15951648) für das Jahr 1651[92] findet sich beispielsweise folgende, in dieser Form typische Zusammenstellung:

»Im Jahr nach der heiligen Geburt deß Sohns Gottes 1651 [Jahre].

Von Erschaffung der Welt 5600 [Jahre].

Von der Sündflut 3944.

Vom Leiden/Sterben und Aufferstehung Christi 1618.

Vom Anfang des Julianischen Calenders 1695.

Von dem Newen und durch den Pabst Gregorium XIII. corrigirten Calender 69.

Von der beharrlichen Regierung des H. Römischen Teutschen Reichs durch die hochlöblichsten Oesterreichischen Ertzhertzöge das 213.

der Kayserlichen Regierung Ferdinandi III. das 15.

der Königlichen Ungerischen Crönung das 26.

der Böhmischen das 24.

Von Anfang des jetzigen Teutschen Krieges das 33. Jahr«[93]

Insbesondere unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts ging man jedoch davon aus, dass die letzten 1000 dieser etwa 6000 Jahre währenden Haltbarkeit um der Gnade willen verkürzt würden (Matthäus 24, 22), so dass das Ende der Welt nicht erst 2000 Jahre nach Christi Geburt, sondern bereits jetzt, im 16. Jahrhundert stattfinden würde. Und für ebendiese unmittelbar zu erwartende Apokalypse fanden die Zeitgenossen in ihrer Gegenwart mehr als genug Hinweise: Seuchen, Naturkatastrophen, Kriege, bedrohliche Kometen, aber insbesondere der Zustand der päpstlichen Kirche waren mehr als deutliche Fingerzeige, wohin die Reise ging.[94]

Es gab sehr prominente Vertreter einer mathematisierenden Eschatologie. Einer der im 16. Jahrhundert sicherlich einflussreichsten war Martin Luther, der sich auf die Weissagung des Propheten Elia bezog. Demnach sollte die Welt dreimal 2000 Jahre dauern: 2000 Jahre vor Verkündung der Zehn Gebote, 2000 Jahre unter dem göttlichen Gesetz und 2000 Jahre unter dem Messias. Für Luther bedeutete diese Berechnung aber nicht, dass das Jüngste Gericht erst im Jahre 2000 nach Christi Geburt kommen würde und damit aus der Perspektive des 16. Jahrhunderts noch Jahrhunderte hinausgeschoben werden musste. Er nahm vielmehr eine Beschleunigung der Endzeit an – eine fast schon modern anmutende Idee der Temposteigerung. Er fand nicht nur entsprechende Bibelstellen, die besagten, dass die letzten Tage um der Auserwählten willen verkürzt würden, sondern extrapolierte aus dem Umstand, dass Jesus vor seiner Auferstehung nicht volle drei, sondern nur zweieinhalb Tage tot gewesen sei, die Regel, dass man das letzte Jahrtausend halbieren müsse. Die Welt würde demnach nicht 6000, sondern nur 5500 Jahre dauern – ein Zeitraum, der laut Luther dem Jahr 1540 nach Christus entsprach. Hält man sich vor Augen, dass Luther diese Berechnung in ebendiesem Jahr 1540 anstellte, kann man erahnen, wie sehr er (und andere) das Weltende nicht nur als unmittelbar bevorstehend ansahen, sondern geradezu herbeisehnten.[95]

Ähnliche Berechnungen finden sich im 16. und 17. Jahrhundert allenthalben, wobei die zeitliche Einordnung apokalyptischer Erwartungen zunehmend präziser gestaltet wurde. Die prophezeiten Ereignisse wurden einer immer detaillierteren Terminplanung unterworfen und zugleich mit exakteren Bestimmungen hinsichtlich vergangener und gegenwärtiger Ereignisse verknüpft.[96] Zahlreiche Stimmen warteten während des 16. Jahrhunderts mit Terminierungen des Weltendes auf, wobei sich die Daten zum Ende des 16. Jahrhunderts verdichteten. Die Jahre 1577, 1578, 1580, 1581, 1584, 1588, 1604, 1618 oder 1623 wurden unter anderem genannt. Keine herausragende Rolle spielte hingegen das Jahr 1600 als markanter Punkt einer Jahrhundertwende. Diesem Aspekt ließen die Zeitgenossen offensichtlich noch keine größere Aufmerksamkeit zukommen.[97]

Dass all diese Daten ohne apokalyptische Ereignisse verstrichen, brachte ihre Befürworter nicht etwa dazu, sich von ihren Vorstellungen zu verabschieden. Daniel Schaller (15501630), Pfarrer in Stendal, reagierte zum Beispiel in einer eigenen Schrift auf den Umstand, dass das prognostizierte Jüngste Gericht für das Jahr 1588 ausgeblieben war. Er veröffentlichte seine Überlegungen 1589 unter dem Titel: »Ein New Theologisch Prognosticon auff das 89. und folgende Jar. Wider die grosse Hochschedliche Sicherheit der Welt/die da meinet sie sey mit dem 88. Jahr uber den Angstberg hinueber«. Nach seiner Meinung könnte sich das Problem ergeben, dass zu viele Menschen glaubten, sie seien nun dem Ende entkommen und dürften sich über diesen Aufschub Gottes freuen – zu früh, wie Schaller betonte. Denn für ihn war es offensichtlich, dass die Welt zunehmend alterte und dass der Aufschub nur von kurzer Dauer sein konnte. Das Ende war höchstens aufgeschoben, aber sicher nicht aufgehoben.[98]

Um etwas Ordnung in die vielen unterschiedlichen Berechnungen zu bringen, unternahm es Elias Reusnerus (15551612), Professor für Geschichte in Jena, im Jahr 1600, die diversen Kalkulationen zusammenzutragen, die erstellt worden waren, um den Zeitraum zwischen dem Anbeginn der Welt und der Geburt Christi zu berechnen. Er kam dabei auf nicht weniger als 24 Vorschläge. Ein größerer Teil bewegte sich im Bereich von etwa 4000 Jahren, aber insgesamt reichte die Spanne von 3079 bis zu 5984 Jahren. Die Talmudisten gingen beispielsweise von 3374 Jahren aus, Augustinus nannte die Zahl von 5351 Jahren, Joseph Scaliger nannte 4712 Jahre als zutreffend, während Gerhard Mercator eher von 3966 Jahren ausging.[99] Mehr als ein Jahrhundert später, im Jahr 1738, erschien die »Chronologie de l’histoire sainte et des histoires étrangères«. Darin führte der Hugenotte Alphonse de Vignolles (16491744), als Exulant in Berlin lebend und dort Mitglied der Akademie der Wissenschaften, rund 200 verschiedene Datierungen des Beginns der Schöpfung an. Die höchste setzte 6894 Jahre, die niedrigste 3483 Jahre von der Erschaffung der Welt bis zur Geburt Christi an.[100]

Die Ambivalenz all dieser Endzeiterwartungen ist nicht zu übersehen. Einerseits war die stete Androhung des Jüngsten Gerichts bedeutsam für die didaktische Zielsetzung von Predigten. Andererseits bestand das Problem, dass diese Drohung ihre moralische Wirkung nur entfalten konnte, wenn das Gericht als zugleich nah und unberechenbar konzipiert wurde. Das Ende der Welt musste immer wieder als unmittelbar bevorstehendes...

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