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E-Book

Die Psychofalle

Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht

AutorJörg Blech
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783104029641
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Müde und ausgebrannt? Anstrengende und aggressive Kinder? Zerstreut und vergesslich? Lassen Sie sich nicht irre machen - Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten. Immer mehr Menschen mit Alltagsproblemen werden als psychisch krank abgestempelt - zu Unrecht! Immer öfter werden gesellschaftliche Probleme wie Arbeitsbedingungen oder das Schulsystem zu Psychomacken Einzelner gemacht - zu Unrecht! Hier ist ein Buch, das sich wehrt! Der Bestsellerautor Jörg Blech enthüllt, wie die Grenze zwischen psychisch gesund und gestört von Ärzten, Psychologen und Pharmafirmen zunehmend verschoben wird, und zeigt einen Ausweg aus der Psychofalle. Diagnose: unbedingt lesenswert.

Seit seinem Enthüllungsbuch ?Die Krankheitserfinder? hat sich der studierte Biochemiker Jörg Blech als Autor etabliert, der den Dingen auf den Grund geht. Sein Buch löste eine bundesweite Debatte über das Ausufern der Medizin aus und stand auf Platz 1 der Bestsellerliste. Das Schreiben hat Jörg Blech an der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg gelernt. Er war Wissenschaftsredakteur der ?Zeit? und ist nunmehr Mitglied der SPIEGEL-Redaktion. Seine Bestseller ?Heillose Medizin? und ?Die Heilkraft der Bewegung? sowie sein zum Klassiker gewordener Erstling ?Das Leben auf dem Menschen? erscheinen im Fischer Taschenbuch.

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Leseprobe

Gefährliche Neuroleptika


Rebecca Riley war zweieinhalb Jahre alt, als sie Pillen gegen angebliche psychiatrische Störungen bekam. Anderthalb Jahre später lag das Mädchen aus der Nähe von Boston tot auf dem Boden. Seine Eltern hatten es mit den Psychopharmaka regelrecht vergiftet. Der Tod des Kleinkinds, der weltweit Schlagzeilen machte, ist ein Extremfall, weil die überforderten Eltern die Mittel in viel zu hoher Dosis gaben. Dennoch war er ein Schock und lässt besorgte Mediziner nicht ruhen. Der US-amerikanische Psychiater Daniel Carlat etwa fragt sich, warum die Mittel überhaupt verschrieben wurden. »Wie konnte ein Psychiater nur bei einem Kind, das kaum aus den Windeln war, eine bipolare Störung und ADHS diagnostizieren? Was war die Grundlage dafür, einem so jungen Kind einen Cocktail aus so starken Medikamenten zu verschreiben?«[81]

Neuroleptika wirken psychotischen Symptomen wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen entgegen und beruhigen. Sie wurden ursprünglich vor allem zur Behandlung von Schizophrenie eingesetzt, doch seit einiger Zeit werden sie vermehrt Menschen verschrieben, die Diagnosen für psychische Störungen haben, deren Krankheitswert umstritten ist. Der Verbrauch des Arzneistoffs Risperidon etwa ist seit 2001 um mehr als 22 Prozent gestiegen. Einerseits zählen Kinder mit angeblichen Verhaltensstörungen zu den Neuroleptikakonsumenten; zum anderen steigt der Verbrauch unter alten Menschen, insbesondere wenn sie in Altenheimen untergebracht sind.

Der Einsatz von Neuroleptika soll schwierige Kinder gefügig machen und alte Menschen ruhigstellen. Doch ihre Nebenwirkungen sind heftig. Mehr noch, sie scheinen das Gehirn dauerhaft zu verändern – und können auf diese Weise psychische Störungen verschlimmern oder erst auslösen. Der US-amerikanische Autor Robert Whitaker hat beunruhigende Studien dazu in einem Buch zusammengetragen.[82] Wie ernst seine Befürchtungen genommen werden, konnte man auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in Berlin sehen. Als Whitaker über die Wirkung von Neuroleptika aufs Gehirn sprach, drängten sich die Zuhörer (die meisten von ihnen Psychiater) bis auf die Gänge und saßen auf dem Boden. Sie sahen Daten, denen zufolge Patienten, die mit Neuroleptika behandelt worden waren, häufiger wegen Rückfällen wieder ins Krankenhaus mussten. Mit anderen Worten: Die Dauermedikation macht es den Menschen offenbar schwerer, wieder gesund zu werden.

Ein ähnliches Bild ergab sich, als Forscher verglichen, wie Menschen mit Schizophrenie in armen und reichen Ländern behandelt werden. In Amerika und sechs anderen Industriestaaten erhielten 61 Prozent von ihnen Neuroleptika. In Indien, Kolumbien und Nigeria waren es nur 16 Prozent. Dennoch – oder gerade deshalb – verlief die Krankheit bei den Patienten aus den armen Ländern deutlich glimpflicher.

Wissenschaftler haben Affen die Mittel Haloperidol und Olanzapine verabreicht, um die Langzeitfolgen abzuschätzen. Die Dosis war vergleichbar mit der Dosis, die Schizophreniepatienten für gewöhnlich erhalten. Im Vergleich zu Artgenossen, die ein Scheinmedikament bekommen hatten, war das Gehirn der mit Medikamenten behandelten Affen am Ende deutlich verkleinert. Nach 17 bis 27 Monaten waren das Gewicht und das Volumen des Gehirns um 8 bis 11 Prozent geschrumpft. Der Schwund betraf alle wichtigen Areale des Gehirns, aber er war im Stirn- und Scheitellappen besonders ausgeprägt. Viele Nervenzellen erschienen gleichsam verschrumpelt.

Die US-amerikanische Psychiaterin Nancy Andreasen wiederum untersuchte mehr als 200 Schizophreniepatienten im Kernspintomographen und stellte fest, dass deren Gehirn geschrumpft war. Und der Effekt war allem Anschein nach von der Dosis abhängig: Je mehr Neuroleptika sie genommen hatten, desto größer war der Schwund. In einer anderen Studie haben Forscher die Hirnscans von 965 schizophrenen Menschen ausgewertet und ebenfalls festgestellt, dass Neuroleptika Spuren im Gehirn hinterlassen. Die Autoren dieser Übersichtsstudie schreiben: »Patienten, die Medikamente bekamen, hatten häufiger strukturelle Anomalien« in bestimmten Gehirnregionen.[83]

Der offenbar von Medikamenten ausgelöste Verlust von Nervengewebe scheint die Kognition der Betroffenen zu vermindern. Das könnte bedeuten: Die Neuroleptikakonsumenten werden dümmer und ihre Psychosen nicht los. Wäre es da für Menschen mit Schizophrenie in bestimmten Fällen nicht besser, auf die Medikamente zu verzichten?

Was nach Irrlehre klingt, das haben Mediziner vom University of Illinois College of Medicine in Chicago in einer Langzeitstudie untersucht. 15 Jahre nach der schizophrenen Episode waren 46 Prozent der Patienten, die dauerhaft Medikamente bekommen hatten, ohne Symptome. Bei Patienten, die auf Medikamente verzichtet hatten, lag dieser Wert bei 72 Prozent.

Solche Befunde werden von kritischen Psychiatern mittlerweile sehr ernst genommen. Andreas Heinz, der Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, saß der Veranstaltung vor, auf der Robert Whitaker sprach. Heinz sagt: »Neuroleptika sind oft in Akutsituationen sehr hilfreich und können Leben retten. Ihre Dosierung ist aber wegen der Nebenwirkungen so niedrig wie möglich anzusetzen und eine psychosoziale Therapie immer notwendig.« Volkmar Aderhold vom Institut für Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald glaubt ebenfalls, man könne gar nicht vorsichtig genug sein mit dem Einsatz dieser Psychopharmaka. Er sagt: »40 Prozent der Menschen aus dem Schizophreniespektrum könnten ohne Neuroleptika behandelt werden. Wir geben Neuroleptika viel zu oft, in zu hohen Dosierungen und in wissenschaftlich nicht evidenten Kombinationen.«

Umso besorgniserregender ist deshalb die sich herausschälende Praxis, diese Mittel nicht nur unruhigen Bewohnern von Altenheimen zu verschreiben (dazu später mehr), sondern auch Kindern, die gar keine Psychose haben. Der Verbrauch von Neuroleptika steigt rasant, weil manche Ärzte die Mittel gerne auch Schülern mit ODD (»Störung mit oppositionellem Trotzverhalten«) verabreichen. Das ist freilich ein Zustand, der mit so alltäglichen Dingen wie Streiten, Ärgern und Verweigern verbunden ist. Die daraus resultierende »explosionsartige Steigerung der Abgabe von Medikamenten, die bei Kindern und Jugendlichen nur mit allergrößter Zurückhaltung gegeben werden sollen und einer strengen Indikationsstellung unterliegen, ist – man kann es drehen und wenden wie man will – ein Skandal«, sagt der Psychiater Asmus Finzen: »Es gibt wohl kaum ein Kind, das nicht einige der recht ungenau beschriebenen Verhaltensweisen im Alter zwischen drei und zwölf Jahren aufweist.«[84]

Den Kindern drohen nicht nur dauerhafte Veränderungen im Gehirn, sondern auch im Rest des Körpers. Der Arzt Christoph Correll vom Zucker Hillside Hospital in Glen Oaks im Bundesstaat New York und seine Kollegen haben untersucht, inwiefern der Körper sich verändert, wenn Menschen im Alter von vier bis 19 Jahren Neuroleptika einnehmen. An ihrer Studie nahmen 272 Schüler aus einem bürgerlichen Viertel New Yorks teil, die zwar eine psychiatrische Diagnose hatten, aber noch nicht mit Neuroleptika behandelt worden waren. Den meisten von ihnen verordneten die Mediziner zwölf Wochen lang ein gängiges Medikament (Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin oder Risperidon), 15 Schüler waren in der Vergleichsgruppe ohne Medikamente.

Das Ergebnis haben die Mediziner im Fachblatt Jama vorgestellt.[85] Die Neuroleptika bewirkten, dass die Kinder und Jugendlichen beträchtliche Fettpolster ansetzten – sie wurden dicklich. Die durchschnittliche Zunahme an Körpergewicht hing vom Medikament ab und schwankte von 4,4 Kilogramm (Aripiprazol) bis 8,5 Kilogramm (Olanzapin). Während die Mitglieder in der Kontrollgruppe dünn blieben, legten die meisten Pillenschlucker mehr als 7 Prozent ihres Ausgangsgewichts zu. Die Kinder könnten für den Rest ihres Lebens an den Folgen der Neuroleptika leiden. Denn die von ihnen ausgelöste Gewichtszunahme kann Auswirkungen bis weit ins Erwachsenenalter haben. Dann drohen ihnen Fettsucht, eine erhöhte Sterblichkeit durch Herz- und Gefäßerkrankungen sowie eine Anfälligkeit für Krebsleiden.

Die schweren Nebenwirkungen der Neuroleptika haben zu einem Umdenken geführt. Manche Psychiater spotten bereits: Je weiter ein Kind sich von Biederman und Boston entferne, desto geringer sei sein Risiko, an der bipolaren Störung zu erkranken. Diese Regel hat die Schülerinnen und Schüler in Deutschland bisher recht gut geschützt. Sie bekommen die bipolare Störung bisher nur vergleichsweise selten angehängt. Die Modediagnose hat den Sprung über den Atlantik bisher nicht recht geschafft.

Bei den Erwachsenen ist das typische Merkmal der bipolaren Störung der Wechsel zwischen manischen und depressiven Phasen. Häufig macht sich die Erkrankung mit einer depressiven Phase bemerkbar, man ist in gedrückter Stimmung und ohne Antrieb. In der folgenden manischen Episode ist man aufgekratzt und in übersteigerter, guter Stimmung. Längere Unterhaltungen werden mit fremden...

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