II
Verhandlungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik – Erste Reisen für den Agrargipfel der G 20 – Vorbereitung des Projekts 2012
Mittwoch, 1. Dezember – Paris
Mein Platz im Ministerrat hat sich geändert: Ich sitze nun auf der anderen Seite, zur Rechten des Premierministers, dem Präsidenten schräg gegenüber, sodass ich mich nicht mehr vorbeugen muss, um sein Gesicht zu sehen, seine Stimmung zu erkennen oder seinen Reden beizupflichten. Jeder ehrliche Minister wird zugeben, dass die einzige Tätigkeit des Rats, abgesehen von gelegentlichen Mitteilungen, darin besteht, ernst mit dem Kopf zu nicken, um den Reden des Präsidenten beizupflichten; Pompidou sagte das, bevor er selber Präsident wurde. Das große Wandgemälde im Kabinettssaal zeigt eine vierspännige Kutsche vor einem von riesigen alten Bäumen umgebenen See, in dessen glatter Oberfläche sich ein Empire-Schlösschen spiegelt, das im Hintergrund zu sehen ist. Im Kutschwagen sitzen eine Frau in weißem Rüschenkleid und zwei Kinder. Aber weder die Frau noch die Kinder oder das kleine Empire-Schloss scheinen den Maler besonders beschäftigt zu haben: Er hat sein ganzes Talent darauf verwendet, die Äste, das rauschende Blattwerk, die Rinde der Baumstämme und die sanfte Neigung der wild wachsenden Gräser mit dem Pinsel einzufangen, als zählte einzig die Natur. Der Salon Murat, wo im Prinzip die wichtigsten Entscheidungen der Republik getroffen werden, ist also der Natur gewidmet, künstlich zwar, aber doch Natur. Der Präsident ist in Tändelstimmung. Er dehnt die Sitzung aus, indem er sich zum Schluss an den Premierminister wendet: «Wir sollten den Parlamentariern Themen vorschlagen, François. Diese leere Agenda ist idiotisch. Ich bin sicher, die Parlamentarier wären glücklich, wenn sie Vorschläge bekämen, oder? Texte. Das wäre doch was, Texte, oder?» Zum ersten Mal seit Monaten antwortet François Fillon ihm mit dem Lächeln und im Tonfall eines Mannes, der endgültig auf seinem Platz bestätigt worden ist, der nichts zu befürchten hat: «Dass sie glücklich wären, würde ich bestreiten. Immer, wenn ihnen ein Text angeboten wurde, haben sie ihn abgelehnt. Sie legen Wert auf ihre Freiheit.» – «Ja, du hast recht, François, ich sage das auch nur, um nett zu sein, nachher sollen sie doch damit machen, was sie wollen, nicht wahr? Und das deutsch-französische Gipfeltreffen, wo findet das statt?» – «In Freiburg.» – «Freiburg?» – «Ja, Freiburg, und nicht Freiburg in der Schweiz, wie ein Journalist sagt, sondern Freiburg in Deutschland.» Der Präsident stößt einen langen Seufzer aus, mustert die Runde, die er soeben für sich erobert hat. Und langsam, mit gedämpfter Stimme, wie ein Leidender, sagt er: «Die Journalisten. Weißt du, die Journalisten. Wenigstens kennt er Freiburg in der Schweiz, dein Journalist. Nein, aber wirklich! Das ist schon mal nicht schlecht! Doch, doch, glaub mir, das ist schon mal nicht schlecht. Ich bin nicht sicher, ob alle Journalisten … Freiburg in der Schweiz? Wirklich? Freiburg in der Schweiz? Nicht sicher, ob alle Journalisten, was? Ihr wisst schon, was ich sagen will.»
Mittagessen mit Alain Juppé im Hôtel de Brienne[18]. Die Meinung seiner Frau Isabelle hat ihn darin bestärkt, dass es richtig war, auf die Regierungsbank zurückzukehren. «Isabelle findet, ich sei noch nie so entspannt gewesen, also muss es gut sein.» Er, der als kühl und scharf gilt, ist in meinen Augen vor allem direkt, klar in seinem Urteil, ohne doppelten Boden, in erster Linie um Frankreich besorgt. Man sagt, er sei trocken; er ist zurückhaltend. Man glaubt, er sei eitel; er besitzt den Stolz derer, die Erniedrigungen ablehnen. Von einer als ungerecht empfundenen Verurteilung zutiefst gekränkt, hegt er ein instinktives Misstrauen gegen das riskante politische Pokerspiel um den ersten Platz. Nicolas Sarkozy nennt ihn grausam einen ewigen Zweiten. Juppé ist ein Spitzenmann, den die Mittelmäßigkeit der einen und die Feigheit der anderen gezwungen haben, seinen Platz herunterzuschrauben. Was den Sinn für die Staatsgeschäfte anbelangt, kenne ich niemanden im rechten Lager, der es mit ihm aufnehmen könnte. Seine große Schwäche liegt woanders: So klar er sich selber sieht, so blind ist er für seine Verbündeten wie auch für seine Feinde. Er unterschätzt ihren Ehrgeiz. Er achtet wenig auf ihre Fähigkeiten, sofern es keine intellektuellen sind. Im Grunde schätzt er sie nicht richtig ein, er unterscheidet sie kaum, behandelt sie alle miteinander wie eine einzige Person. Während des Essens klingt eine gewisse Müdigkeit in seiner Stimme an. Hat er schon begriffen, dass dieser Posten, ja dass überhaupt kein Posten ihm einbringen würde, was er sucht? Und dass die Macht zwar ein bisschen unmittelbares Leben mit sich bringt, ein dichteres, hektischeres Leben, aber nicht den Atem, um voranzukommen? Er weiß auch, dass er alles auf eine Karte setzt: Die Wiederwahl Sarkozys im Jahr 2012 könnte ihm die Türen zum Matignon öffnen; eine Niederlage hingegen wäre das Ende seiner nationalen Ambitionen. Nach dem Essen zeigt er mir das ehemalige Büro von General de Gaulle und schenkt mir ein Buch über das Hôtel de Brienne, wie einem Wähler aus seinem Wahlkreis, der eine Erinnerung an die Pariser Pracht bewahren möchte.
Freitag, 3. Dezember – Paris
Mittagessen im Matignon mit François Fillon und Dacian Cioloş. Seit Cioloş’ Ernennung zum Agrarkommissar der EU, die der Präsident in erbitterten Kämpfen in Brüssel – bei allgemeiner Gleichgültigkeit in Paris – durchgesetzt hat, kann ich unsere Vorstellungen von einer Regulierung der Agrarmärkte endlich voranbringen, trotz ideologischer Widerstände in den Dienststellen der Kommission. Cioloş’ Vorgängerin, die Dänin Mariann Fischer Boel, hatte einen freimütigen Liberalismus zur Schau gestellt: Sie lehnte jeden Eingriff in die Märkte ab; bremste das Streben nach Regulierung; rechnete es den Konjunkturkrisen zumindest als Verdienst an, die wettbewerbsfähigen Betriebe von den anderen zu scheiden; wetterte den lieben langen Tag gegen unsere Regierung und berief sich ständig auf das dänische Modell landwirtschaftlicher Genossenschaften, die in den großen Ebenen angesiedelt sind, als hätten die kleinen Bergbauern allen Grund, sich Sorgen zu machen. Ihre Beamten unterstützten sie gutgläubig und ohne Vorbehalt. Ob kurz- oder langfristig: Für sie haben stets die Interessen der Verbraucher Priorität. Es geht nur um den Preis der Produkte, ungeachtet ihres Ursprungs oder ihrer Herstellungsbedingungen. Der Begriff Lebensmittelsicherheit klingt in ihren Ohren wie eine französische Erfindung zum Schutz nationaler Eigeninteressen: Ich karikiere kaum. Die Ernennung des ehemaligen rumänischen Ministers Dacian Cioloş, in Brüssel für seine Frankophilie bekannt, muss ihnen daher wie ein abgekartetes Spiel vorgekommen sein. Nebenbei gesagt, wird man es noch bereuen, dass Frankreich sich derart um die sichtbarsten Posten in Brüssel bemüht, während man die eher technischen Ämter und die Abteilungen der zweiten Reihe vernachlässigt – genau den Bereich, wo unter Berufung auf Prinzipien, die wir nicht teilen, die wichtigsten Entscheidungen vorbereitet werden. Dacian Cioloş macht gegenüber François Fillon keinen Hehl daraus, wie schwierig es sein wird, Marktregulierungen in Europa durchzusetzen: «Das Problem, Herr Premierminister, besteht darin, dass es schwieriger ist, neue Instrumente einzuführen, als bestehende Instrumente zu verändern. In der GAP ist alles liberalisiert worden. Alles.» Verschmitzt fügt er hinzu: «Und meistens mit Zustimmung der französischen Regierung.» Er fährt fort: «Wenn Sie also jetzt, unter Brunos Federführung, wieder eine Regulierung wollen, ist das zwangsläufig kompliziert. Nehmen wir Joaquín Almunia[19]. Für Almunia ist es kein Problem, wenn sich auf dem Milchsektor Kartelle bilden, weil die industriellen Kartelle schon existieren. Aber wenn Sie verlangen, dass die Erzeuger sich besser organisieren können, um das Kräfteverhältnis auszugleichen, dann hat er ein Problem; ein ernstes Problem. Er lehnt ab. Er sagt, das seien unerlaubte Absprachen.» François Fillon erwidert: «Das ist vor allem Dogmatismus, oder?» – «Mag sein, aber im Kreis der Kommissare wird dieser Dogmatismus weitgehend geteilt.» – «Und die Deutschen? Kann man sich auf die Deutschen verlassen?» Dacian Cioloş lächelt: «Die Deutschen wollen eine Landwirtschaft, die genauso mächtig ist wie Ihre, Herr Premierminister; und dafür tun sie, was sie können. Also zählen sie, wie oft ich nach Frankreich fahre. Sie zählen jeden meiner Besuche, um zu überprüfen, ob ich meine Neutralität wahre. Da meine Schwiegereltern in Dijon leben, ist das etwas kompliziert!» Nach dem Essen nimmt François Fillon mich in dem kleinen roten Salon zum Park hinaus beiseite: «Die Regierung läuft besser, oder, findest du nicht? Mit dem Präsidenten jedenfalls, du glaubst es nicht: Alles ist anders. Wir werden sehen, wie lange das hält.»
Sonntag, 5. Dezember – Paris – Neu-Delhi
Wegen schlechter Wetterverhältnisse hat der Flug nach Neu-Delhi zwei Stunden Verspätung. Nathalie Kosciusko-Morizet[20] gehört zu unserer Delegation, genau wie ich wird sie sich dem Präsidenten anschließen, der bereits einen Tag früher abgereist ist. Alain Juppé dagegen musste seine Teilnahme infolge der Ereignisse an der Elfenbeinküste absagen. Mein Fenster umrahmt einen stahlblauen...