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E-Book

Ein Jahr in Rio de Janeiro

Reise in den Alltag

AutorFrauke Niemeyer
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451800566
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Welche Stadt verheißt mehr Rausch und Abenteuer? Mit 50 Kilo Übergepäck unterm Zuckerhut gelandet, lässt sich die RBB-Journalistin Frauke Niemeyer mitreißen vom Übermut der Stadt, vom Karneval der Straße und ungestümen Sambaparties mit Knutschzwang. Doch sie trifft auch Menschen, die im Kugelhagel der Drogenmafia um ihr Leben rannten. Hinreißend schön und blind brutal: Rios viele Gesichter - das Portrait einer unvergleichlichen Stadt.

Frauke Niemeyer moderierte viele Jahre beim Berliner ARD-Jugendradio 'Fritz'. Ein Stipendium der IJP ermöglichte ihr drei Monate Praktikum in Rio de Janeiro. Sie blieb ein ganzes Jahr, als Radioreporterin für die 'ARD' und die 'Deutsche Welle' und als Autorin für den 'Tagesspiegel', die 'Financial Times Deutschland' und 'DIE ZEIT'. Zur Zeit arbeitet sie als Fernseh-Reporterin beim 'rbb' und für 'ARD-aktuell'.

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Leseprobe

Maio


WIE GUT, DASS DEIN FLUGZEUG schon heute Morgen gelandet ist“, sagt meine Vermieterin Andreia gut gelaunt, während wir mit meinem tonnenschweren Gepäck zum Flughafenparkplatz wanken. „Am Abend ist die Straße hierher zu gefährlich – wegen der Banditen. Da hätte ich dich nicht abholen können.“

Ich bin vor einer Stunde in Rio de Janeiro gelandet, ich spreche nicht sehr gut Portugiesisch. Die Übersetzung des Wortes „bandidos“ indes erscheint mir unzweifelhaft: Meine Vermieterin hat mir soeben erklärt, dass sie mich wegen drohender Überfälle abends nicht abgeholt hätte. Wäre es doch besser gewesen, sich um ein Stipendium in Mainz zu bewerben? „Du hättest dann in der Wartehalle übernachten müssen, hihi“, plappert Andreia weiter, und während ich noch nach dem Witz suche bei der Vorstellung, in einem von Gangstern umstellten Flughafengebäude auf meinem Koffer zu schlafen, sind wir schon am Auto.

Ein verschrammter Kleinwagen, ich tippe auf Baujahr ’91. Vor Fahrtantritt befiehlt Andreia: „Knopf runter.“ Denn die Ausfallstraße, auf der wir nun im dichten Verkehr Richtung Stadt rollen, ist tagsüber auch nicht ohne. Das gilt jedoch, wie mir Andreia erklärt, für das gesamte Stadtgebiet. „Im Auto ist es leider nicht sicherer als zu Fuß, denn es ist ja das Auto, das die Gangster haben wollen.“ Im Kopf rechne ich die Wahrscheinlichkeit aus, mit der sich eine Gangsterbande aus hunderttausenden Autos auf Rios Straßen ausgerechnet einen knapp zwanzig Jahre alten Kleinwagen als Ziel ihres nächsten Anschlags aussuchen wird, und komme auf ungefähr null. Ich sollte versuchen mich zu entspannen.

Rio empfängt mich mit Morgensonne, die die Silhouette der Stadt in ein warmes, gelbes Licht taucht. Links von uns blicke ich auf die Baía da Guanabara, jene Bucht, die der Legende nach der portugiesische Kapitän Gonçalves 1502 versehentlich für eine Flussmündung hielt, da ihre Öffnung zum Meer hin sehr schmal ist.1 Dem Seefahrer verdankt meine Traumstadt ihren schönen Namen, „Januarfluss“ – Rio de Janeiro.

Von draußen dringt der Geruch von Kloake ins Auto. Angler bemühen sich, aus dem modrigen Wasser einen lebenden Fisch zu ziehen. Sie stehen mit dem Rücken zum Verkehr und halten ihre Ruten über die Brüstung. Dazu erläutert mir Andreia, dass man in der Bucht früher baden konnte, bis die Industrie begann, Abwässer einzuleiten. Weit entfernt vor uns liegen die Berge der Floresta da Tijuca, einer waldigen Gebirgskette, die Rios Zentrum sattgrün umrahmt. Und endlich! Jetzt kann ich ihn sehen: Auf dem Corcovado, dem höchsten Gipfel des Gebirges, steht „Cristo Redentor“ (Christus, der Erlöser), Rios monumentaler Beschützer. In siebenhundert Metern Höhe breitet die Statue ihre Arme aus, wie segnend über der Stadt. Betörend schön. Ich bin in Rio.

Eigentlich wäre mir danach, die Situation etwas auf mich wirken zu lassen. Das hier ist meine Ankunft in Rio de Janeiro, der Stadt, die nun für ein Jahr mein Zuhause werden soll. Und nicht nur das – im Grunde soll sie für ein Jahr mein Leben bestimmen. Viel mehr habe ich mir nicht vorgenommen, als hier zu leben und zu arbeiten. Aber vor allem wünsche ich mir einzutauchen in das Treiben der Cariocas, der Einwohner von Rio.2 Den Alltag kennenzulernen, die Menschen neben mir im Bus anzuschauen, ob sie verhärmt sind oder fröhlich. Ich möchte erfahren, was dran ist an Rios Klischees – ist die Copa tatsächlich der „hottest spot north of Havana“ – wie Barry Manilow schon vor dreißig Jahren sang? Gibt es das Leben als eine endlose Strandparty im Sonnenuntergang? Und wenn ja, wäre das auf Dauer überhaupt auszuhalten?

Oder werden die Restaurants und Clubs der Stadt nur von partyhungrigen Touristen bevölkert, deren Unternehmungslust der Tatsache geschuldet ist, dass sie nicht ahnen, in welche Gefahr sie sich begeben? Und jeder, der eine portugiesische Zeitung lesen kann und weiß, wie viele Drogenkriege in Rios Straßen toben, und wie oft Unbeteiligte im Kugelhagel sterben, tut nach Sonnenuntergang keinen Schritt mehr vor die Tür und bestellt beim Pizza-Service?

Zweimal habe ich Rio de Janeiro als Touristin erlebt, für ein paar Wochen nur, und beide Male eine unerklärliche Energie verspürt, die dieser Stadt innezuwohnen schien. Leidenschaft und Dynamik gepaart zu einer Kraft, die mir fast mystisch erschien, die Abenteuer versprach, Sinnlichkeit, die mich ausgelassen machte und lebenshungrig. Ein wenig ängstigte mich diese Kraft zugleich, weil sie mich so an sich zog. Im Flieger nach Hause hatte ich damals beschlossen, irgendwann zurückzukehren, um zu bleiben. Zu erleben,ob auch diese Kraft bleibt, im Alltag, ob ich sie auch mittwochs an der Bushaltestelle spüre auf dem Weg zur Arbeit, oder ob sie nur aus der Projektion der Reisenden entsteht, die vor lauter Sonne und Samba nicht wissen, wohin mit ihrer Begeisterung.

Um all das herauszufinden, bin ich wiedergekommen, mein Jahr in Rio beginnt jetzt, am 5. Mai um 9.00 Uhr. Ein Moment, den ich so kein zweites Mal erleben werde – nicht so erwartungsvoll und ahnungslos zugleich.

Statt der Angler säumen nun Straßenhändler die Fahrbahn, mit Bonbontüten im Sortiment, Zigaretten und Erdnüssen. Mein Bedürfnis, mich diesem Moment ein bisschen hinzugeben, in Verbindung mit sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf beeindrucken meine Vermieterin nicht. „Hier links siehst du ein Gebäude der Uni, wir haben mehrere in Rio, also das hier ist … und ich hab auf der …“ – selten zuvor habe ich die Bedeutung des Wortes „Redeschwall“ in solcher Perfektion umgesetzt erlebt. Mein Begehr, aus dem Fenster zu schauen und auf Standby zu schalten, wird sich nicht verwirklichen lassen. Schließlich will ich die nächsten vier Wochen als Untermieterin bei Andreia und ihren zwei Kindern leben. Da sollte ich mich an allem interessiert zeigen.

Die Umsetzung dieses an sich guten Gedankens wird schwierig: Denn Andreia redet nicht nur pausenlos, sondern auch schnell, und meinem Eindruck nach besteht das gesamte Sortiment von ihr verwandter Ausdrücke aus Variationen von „sch“. Thematisch ist sie soeben beim Hafen und seiner Historie angelangt, und falls sie sich vorgenommen hat, die dreißig Seiten Einführungskapitel meines Reiseführers, „Rio – Geschichte, Politik, Ökonomie“, bis zum Ende unserer Fahrt zusammenzufassen, so habe ich keinen Zweifel, dass ihr das gelingen wird.

Warum hatte ich während meiner Urlaube nie den Eindruck, dass die Cariocas Kommunikation mit Kamikaze gleichsetzen? Der wohl entscheidende Unterschied: Sie mussten damals mit mir englisch reden. Ein großer Teil selbst der jungen Generation tut sich mit Fremdsprachen schwer, weil sie auf den staatlichen Schulen bis heute schlecht oder gar nicht gelehrt werden. Der andere Teil, der auf teuren Privatschulen war, könnte zwar englisch reden, hat aber keine Lust, weil es für eine solche Anstrengung eindeutig zu warm ist.

Auch Andreia spricht kein Englisch, sondern weiterhin eine filigrane Vermengung von „sch“-Lauten, der ich entnehme, dass sie heute Nachmittag in der Redaktion arbeitet, und dass am Abend in der Aula des Redaktionsgebäudes der Film „A Queda“ gezeigt wird. Andreia und ich werden in den nächsten Wochen nämlich auch Kolleginnen sein. Bei ihrem Arbeitgeber, dem brasilianischen Medienkonzern „Globo“, mache ich ein Praktikum. Während der ersten drei Monate in Rio, die mir ein Stipendium finanziert, soll ich von der Redaktion der Tageszeitung „O Globo“ aus für deutsche Medien arbeiten.

Das bringt mich auf eine Idee: am späten Nachmittag einen Ausflug an meinen künftigen Arbeitsplatz zu unternehmen und dort als Abschluss meines ersten Tages unterm Zuckerhut mit lauter Brasilianern einen Nazifilm anzuschauen. Klasse. „A Queda“ heißt nämlich „Der Untergang“. Ein älterer Kinofilm, der sich rühmt, Adolf Hitler privat zu zeigen – „als Mensch“, und dem ich mich immer verweigerte. „Du hast dir den Film nie angeschaut? Warum?“, fragt Andreia, und nun sitze ich in der Falle und muss zum ersten Mal einen ganzen Satz Portugiesisch reden. Thema: Hitler. Das Dicionário ist im Kofferraum. Mein aktiver Wortschatz umfasst etwa 48 Vokabeln, die mir nun zur Verfügung stehen, um meine kritische Haltung zur Darstellung von historischen Diktatoren im Fiktionsfilm zu erklären. Zunächst muss ich Zeit gewinnen: „Acho isso dificil.“ (Ich finde das schwierig.) Na sieh mal an. Dann fallen mir doch noch drei portugiesische Ausdrücke ein – für „töten“, „nett“ und „Sekretärin“. Damit lässt sich doch was machen: „Ich weiß, wie viele Menschen Hitler getötet hat, und ich wollte noch nie wissen, ob er nett zu seiner Sekretärin war.“ Punkt und sofortige Gegenfrage, damit ich auf keinen Fall länger reden muss – als Nächstes womöglich über den Atomausstieg oder Präimplantationsdiagnostik. „Was ist das hier rechts für ein Gebäude?“, frage ich Interesse heuchelnd, und tatsächlich: Andreia übernimmt wieder.

Über meine kleine filmtheoretische Abhandlung haben wir die Stadt erreicht oder besser: Wir fahren auf einer hochgelegten Trasse über sie hinweg. Von Strand und Meer nichts zu sehen, denn Andreia wohnt in der „Zona Norte“ von Rio, der Nordzone, die sich anders als Rios Südbezirke ins Hinterland ausbreitet. Ohne Küstenzugang ist die Zona Norte eine unattraktive Wohngegend mit riesigen Armenvierteln, die auf keiner von Rio existenten Postkarte zu sehen sind. So kommt es, dass der ausländische Blick auf Rio de Janeiro immer und ausschließlich auf die reiche „Zona Sul“, die Südzone fällt: auf Zuckerhut, Cristo, Copacabana – schicke Hochhäuser, eingekeilt zwischen grünen Bergen und blauen Wellen, obwohl sie nur einen...

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