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Pilgern als eine spezifische Form von sozialpädagogischer Einzelfallhilfe

Analysiert anhand eines konkreten Falls

AutorClaudia Franke
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl126 Seiten
ISBN9783638466349
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,6, Technische Universität Dresden (Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit), 49 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Im 6. Semester meines Studiums der Sozialpädagogik hatte ich die Chance, mein Hauptpraktikum in einer 'Intensiv Sozialpädagogischen Einzelmaßnahme' (ISE) im Süden Frankreichs zu absolvieren. Ein wesentlicher Bestandteil des Konzeptes vor Ort ist es, gemeinsam mit einem bzw. einer Jugendlichen diesen Weg für einen bestimmten Zeitraum zu wandern. Das Wandern bzw. Pilgern schien durch die Nähe zur Natur und die Aktivität an sich eine wunderbare Methode, verloren gegangene und verschüttete Ressourcen wieder ins Bewusstsein zu holen. Derzeitig war eine Jugendliche vor Ort, die diesem Projekt aufgeschlossen gegenüber stand und bald wurde eine Pilgerreise mit Lisa K. und mir geplant, besprochen und vorbereitet. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Pilgern als intensivsozialpädagogische Einzelmaßnahme. Gerade was die Umsetzung von erlebnispädagogischen Intensivmaßnahmen betrifft, scheinen der Phantasie keine Grenzen gesetzt zu sein. Besonders in den letzten Jahren haben sich vielfältige Formen von intensiver Einzelbetreuung mit erlebnispädagogischen Inhalten entwickelt. Dennoch gibt es immer wieder Kinder und Jugendliche, die von den verschiedenen erzieherischen Angeboten nicht erreicht werden. Unterschiedliche Faktoren tragen dazu bei, dass Jugendliche immer schwieriger werden, d.h. es für die Betreuer immer schwerer wird, erzieherisch Einfluss auf sie zu nehmen. Auf die Frage, wie mit diesen Jugendlichen umzugehen sei, hält die öffentliche Erziehung mehrere Antworten bereit. Tatsache ist, dass dieses Klientel besondere Aufmerksamkeit braucht. Intensität und Individualität sind dabei entscheidende Faktoren. Durch besondere Zuwendung und eine individuelle, intensive Betreuung wird der Hilfeprozess durch den Kontakt zwischen Betreuer und Jugendlichen geprägt und die Wahrscheinlichkeit, den Jugendlichen tatsächlich zu erreichen und erzieherisch zu beeinflussen, dementsprechend erhöht. So soll die in dieser Arbeit untersuchte intensivpädagogische Wandermaßnahme zeigen, dass durch einen Betreuerschlüssel von 1:1 und 'rund um die Uhr Betreuung' für den Jugendlichen bei der erlebnispädagogischen Maßnahme Situationen geschaffen werden können, in denen das eigene Tun und Handeln und damit die Wirksamkeit der eigenen Handlungen und Handlungsplanung unmittelbar erkannt, reflektiert und erfahren werden können. Konkret soll damit eine Änderung des Verhaltens, ein neuer Bezug zu sich selbst und bessere Konfliktbearbeitungsfähigkeit eingeleitet werden.

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Leseprobe

II. Theoretische Grundlagen


 

II. 1. Hilfen zur Erziehung


 

II.  1.1. Erziehungshilfen für Jugendliche im Wandel


 

Die Phase der Jugend befindet sich in permanenter Veränderung und galt schon in vergangenen Zeitepochen als erlebnisreiche, aber auch schwierige Phase. In der gegenwärtigen Situation wird diese Phase zusätzlich durch gesellschaftliche Faktoren erschwert. Die gesellschaftlichen Strukturen, das vorherrschende Wirtschaftssystem und die damit verbundene Arbeitsethik sind derzeitig von einer starken Wandlung geprägt. Jugendliche sind davon besonders betroffen, da sie in der Schule unter dem Gesichtspunkt der traditionellen Arbeitsethik noch auf das Arbeitsleben hin erzogen werden. Wenn sie die Schule verlassen, werden sie allerdings oft mit einer anderen Realität konfrontiert. Letztendlich machen viele die Erfahrung, dass sie sich Mühe geben können, aber dass Arbeitsplatzverlust bzw. gar keine Chance auf einen Arbeitsplatz, wahrscheinlicher ist.[6] 

 

Dem Jugendamt als „Organ der öffentlichen Jugendhilfe“ kommt in Deutschland eine Aufgabe mit besonderer Verantwortung zu. Bis Anfang der 90er Jahre regelte das Jugendwohlfahrtsgesetz  (JWG) die rechtlichen Belange. Das bedeutete zum einen die Zuständigkeit für die Wohlfahrt der Jugend, d.h. das Jugendamt hatte die dazu erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und ggf. zu schaffen.[7] Zum anderen waren im JWG die besondere Verantwortung gegenüber dem einzelnen Kind oder Jugendlichen mit dem Grundprinzip „Die öffentliche Jugendhilfe hat jeweiligen erzieherischen Bedarf entsprechend rechtzeitig und ausreichend zu gewähren“[8] verankert. Die Formulierung zeigt, dass der im JWG formulierte Auftrag des Jugendamtes, erzieherische Hilfen im Einzelfall bedarfsgerecht, ausreichend und rechtzeitig anzubieten, viel „Ermessensspielraum“ ließ.

 

Auch wenn sich an der gesellschaftlichen Brisanz und der fachlichen Problematik des Aufgabenbereiches öffentlicher Jugendhilfe kaum etwas geändert hat, sind doch sozialpädagogische Entscheidungen und damit Ermessensspielräume in der Wahrnehmung einer „öffentlichen Verantwortung für private Lebens- und Erziehungsschicksale“ historischen Entwicklungen unterworfen.[9] Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) spiegelt die neueren Ansätze der Pädagogik und die Erkenntnisse der Sozialisationsforschung wieder. Die Angebote des neuen KJHG (verankert im SGB VIII) zu erzieherischen Hilfen sind eher als Leistungsangebote zu verstehen und nicht mehr so sehr als Erziehungseingriff. Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in Heimen oder Pflegestellen wurde abgebaut und nun gibt es einen breit gefächerten Leistungskatalog, der den erzieherischen Bedarf im Einzelfall als Auswahlkriterium vorsieht.

 

Doch trotz des „Perspektivwechsels“ steigt die Zahl von jungen Menschen, die erzieherische Hilfen in Anspruch nehmen, an.  Eine Ursache dafür ist, „dass einer immer größeren Zahl von materiell unzweifelhaft benachteiligten Eltern auch der sittliche Anstand abhanden kommt“[10] und es gegenwärtig nicht mehr selbstverständlich ist, dass man für die eigenen Kinder zu sorgen habe, egal wie schlecht es einem selbst geht. In der Literatur wird dieser Zustand auch „andere Armut“ oder „Familienmisere“ genannt.

 

Exkurs: Die andere Armut

 

Deutschland gehört zu einem der reichsten Länder der Welt. Das zeigt nicht nur das Bruttoinlandsprodukt (2004: 2,178 Billionen Euro)[11], sondern auch die Ausstattung der deutschen Haushalte mit diversen langlebigen Konsumgütern, die noch vor einigen Jahren als Luxus galten. Doch heute gehören ebenso für Menschen, welche Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, beispielsweise der Fernseher, der Computer und das Auto zur Standardausstattung, Die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen sozial Schwachen und sozial Starken geht immer weiter auseinander. Und obwohl genug finanzielle Mittel in Deutschland vorhanden sind, gelingt es nicht, alle Mitglieder dieser reichen Gesellschaft stark zu machen. Im Gegenteil: eine „neue Armut“ hat sich entwickelt, für welche finanzielle Benachteiligung möglicherweise Ursache ist, die aber darüber hinaus Merkmale, wie fehlende soziale Bindungen, gesellschaftlicher Ausschluss, mangelnde Bildung, keine Perspektiven etc. aufweist. Das Kritische dabei ist, dass hingenommen wird, wenn sich Sozialhilfemilieus verfestigen und über mehrere Generationen laufen. Einkommensarmut ist nicht das Hauptproblem, denn das deutsche System deckt die Existenzsicherung weitgehend ab. Vielmehr fehlt vielen sozial Schwachen die Stärke, um die Chancen in dieser offenen Gesellschaft wahrzunehmen. Dabei geht es nicht nur  um „Reichtumsverteilung“, sondern um persönliche Unterstützung. Es kann nicht sein, dass Eltern, je weniger sie in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen, diese umso mehr als ihr Eigentum betrachten und gegen Übergriffe von außen verteidigen. Wer eigenverantwortlich handeln soll, braucht gerade nicht die grenzenlose Freiheit einer Gesellschaft, die sich von ihm zurückgezogen hat, sondern er muss lernen, Bindungen einzugehen und Pflichten auf sich zu nehmen, für sich und andere zu sorgen. Dass das Problem nicht nur ein finanzielles ist, zeigt, dass viele Studenten auch mit einem geringen Einkommen von unter 700 Euro im Monat gut leben und zufrieden sind. Demnach spielen Perspektive und das Wissen, dass noch etwas Anderes auf einen wartet, eine Schlüsselrolle. Auch wenn es sich nicht auf den ersten Blick rechnet, sollte das durch aktivierende Sozialarbeit neben Eigenverantwortung und persönlicher Hilfe vermittelt werden. Dann würden auf längere Sicht auch die Kinder- und Jugendhilfestatistiken in Deutschland bessere Zahlen aufweisen.

 

Neben Erziehungshilfen wie der sozialpädagogischen Familienhilfe, der Tagesgruppenerziehung, Vollzeitpflege, Erziehungsbeistandschaft, Betreuungs-helfern, intensiv sozialpädagogischer Einzelbetreuung oder sozialer Gruppenarbeit, ist die Heimerziehung laut Elftem Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (mit 111.547 Fällen) nach der institutionellen Beratung nach wie vor die zahlenmäßig am Häufigsten vertretene.[12] Dennoch hat sich in der Jugendhilfe im Sinne eines Paradigmenwechsels einiges getan - auch und besonders in der Heimerziehung. Im Folgenden werde ich diese Veränderungen kurz skizzieren.

 

Das traditionelle Bild von der Heimerziehung ist eine anstaltsförmige Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in 24-Stundeneinrichtungen. Ihr Zweck ist dabei die Pflege, Betreuung, Versorgung, Erziehung und Therapie von entweder „familienlosen“ Kindern oder von Kindern, deren Eltern nicht die volle Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder übernehmen können bzw. wollen.[13]

 

Bis Mitte der 80er Jahre war die Heimunterbringung klar nominiert und bedeutete im Sinn der „stationären Erziehung“ in erster Linie einen Lebensmittelpunkt für die Kinder und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie. Es wurde lediglich grob zwischen der „freiwilligen Erzieherischen Hilfe“, der „klassischen Fürsorgeerziehung“ und örtlichen Unerbringungen nach den § 5, 6 JWG unterschieden.[14]

 

Ende der 80er Jahre wurde eine neue Qualität von Verhaltensstörung ausgemacht, wie man sie bis dahin noch nicht kannte. Dabei ging es vorrangig um Beziehungsstörungen bei den Jugendlichen, die sich durch ständige Flucht, Gewaltbereitschaft, Kriminalität und mangelnde Konfliktfähigkeit äußerten. Immer mehr Jugendliche schienen aus dem bis dahin existierenden Versorgungssystem heraus zu fallen, da die Institutionen erstens eindeutig überfordert waren und zweitens gar keine Angebote im Sinne der klassischen Heimerziehung existierten, die auf diese Jugendlichen abgestimmt waren.[15]  „Aber immer mehr Jugendliche haben die Nase voll von "den Erwachsenen" und ihren Angeboten; sie wollen sich nicht mehr auf sie einlassen – ja sie wollen sich auf überhaupt nichts mehr einlassen: sie wollen nichts mehr. Bei all den üblen Erfahrungen ihres Lebens (allein gelassen, abgelehnt von den eigenen Eltern, von ihnen misshandelt, sexuell missbraucht ohne Chancen im herkömmlichen Schul- und Ausbildungssystem...), warum sollten sie sich noch auf Jugendhilfe einlassen? Wenn sie etwas wollten, dann etwas anderes, als das ihnen Angebotene.“[16]

 

Auf die Heimkritik und die –Kampagnen der 70er Jahre folgten Reformen, welche die traditionelle Heimerziehung grundlegend geändert haben. Ausgelöst durch die Studentenunruhen, die damit verbundene Entstehung von Wohngemeinschaften etc. und der Machtwechsel zur sozial-liberalen Koalition Ende der 60er Jahre begann auch für die Jugend- und Erziehungshilfe eine Phase intensiver Reformbemühungen.[17] Dezentralisierung, Entinstitutionalisierung, Entspezialisierung, Regionalisierung und Individualisierung sind einige Schlagwörter der zentralen Entwicklungstrends. Diese Trends verlangten eine Änderung der kontrollierenden, reglementierenden, eingreifenden Heimerziehung, Abschaffung der Unterbringung und Schaffung von einem Verständnis pädagogisch begründeter Erzieherischer Hilfen als professionelles, unterstützendes Angebot für Eltern, Kinder und...

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