3. Das Modell der „männlichen Wunde“ von Hudson/Jacot
für viele kulturelle Bereiche nahezu unabdingbar seien 31 . Hudson/Jacot betonen zwar, die „Wunde“ sei keine „angeboren[e] […] Grammatik“ 32 , gemäß der die männliche Geschlechtsidentität und ihre Ausdrucksformen konstituiert sind, dennoch wird die Gesamtdiskussion „männlicher Phänomene“ im Selbstverständnis der Autoren als „Beitrag zur Naturgeschichte“ 33 gesehen.
Die „Wunde“ entstehe beim männlichen Kleinkind im Alter von 2-3 Jahren. In diesem Zeitraum würde eine „Verschiebung“ 34 eintreten, die den Jungen in seiner Entwicklung aus einem bisher von beiden Geschlechtern geteilten Muster herausdränge. Alle Kinder würden in der symbiotischen Beziehung zur Mutter erstmalig Sicherheit und Trost, aber auch Schmerz und Frustration erleben. 35 Doch wenn es darum gehe, eine eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln, bleibe das Mädchen gewissermaßen mit der „ersten Quelle des Wohlbefindens und der Wut“ identifiziert, würde sich selbst zwar ebenso ambivalent wahrnehmen, wie es auch die Mutter wahrnimmt, aber dennoch mit ihr verbunden bleiben und seine Realitätswahrnehmung an diese Verbindung knüpfen. Auch die Objektwahl werde von der Mutter übernommen und auf das „Fremde“, das Männliche, das, was das kleine Mädchen und die Mutter nicht sind, gerichtet. 36 Der Junge hingegen müsse sich von der Mutter trennen und sich mit dem Vater identifizieren, da auf anderem Weg kein „gesundes Gefühl für Männlichkeit“ 37 zu erreichen sei. Gemäß Greenson bezeichnen auch Hudson/Jacot dies als „speziellen Schicksalsschlag“ 38 .
Die Ent-Identifizierung von der Mutter erzeuge die Eigenständigkeit des Jungen, die Gegen-Identifizierung mit dem Vater würde seine Männlichkeit etablieren. 39 Um eine „Verbündung“ mit dem Vater zu erreichen, müsse er durch die Imitation der männlichen Objektwahl „innerhalb seiner Selbst eine Verlagerung“ 40 bewirken. Dadurch ergebe sich letztendlich im Zuge der Ausbildung der Geschlechtsidentität eine Umkehr dessen, was bislang als „dasselbe“ und „das andere“ angesehen wurde: Die Wahrnehmungsstruktur würde sich vom Modus der „Ähnlichkeit im Unterschied“ 41 (während der Identifizierung mit der Mutter) in die Form von „Unterschied in Ähnlichkeit“ 42 (im Zuge der Gegen-Identifizierung) verändern. Auf die Konsequenzen dieser Veränderung wird im Weiteren noch einzugehen sein. Welche Faktoren es jedoch sind, die das männliche Kleinkind zur Ent-Identifizierung mit seiner Mutter motivieren und „eine Verlagerung innerhalb seiner Selbst“ hervorzurufen, wird von Hudson/Jacot nicht erklärt. Vielmehr wird dieser entscheidende Punkt deshalb
offengelassen, da laut den Autoren dies „bisher niemand [wisse]“ 43 . Dennoch werden kurz drei Möglichkeiten angesprochen, wobei Hudson/Jacot vor allem eine biologische Ursache für wahrscheinlich halten, die sich in einer bereits intrauterin angelegten, geringeren Frustrationstoleranz seitens des Jungen ausdrücke: „Männliche und weibliche Kleinkinder sind mit anderen Worten möglicherweise biologisch programmiert, auf einen gegebenen mütterlichen Einfluss unterschiedlich zu reagieren.“ 44
Ein alternativer Erklärungsansatz bezieht sich mehr auf die Interaktion zwischen Mutter und Kind, indem die Motivation zur Ent-Identifizierung auf das spezifische Verhalten von Müttern gegenüber Söhnen zurückgeführt wird, das sich vom Umgang mit Töchtern unterscheidet. Jedoch werden selbst hierfür „biologische Gründe“ angenommen. Im Unterschied zum Jungen selber würde die Mutter von Beginn an um seine Anatomie wissen und somit biologische Unterschiede vergrößern, da sie in ihrer Wahrnehmung und ihren Handlungen selber von kulturellen Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit geprägt sei, kurz: sie behandelt ihren Sohn vom Tag seiner Geburt an als „Mann“. 45 Der dritte Ansatz kommt einer psychoanalytischen Erklärung am nächsten. Dabei wird der Grund für die Ent-Identifizierung oder zumindest deren Beschleunigung im erotischen Begehren der Mutter gegenüber dem Jungen gesucht. Die Angst vor einem Verschlungen-Werden durch die Mutter oder der Schock über die intuitive Erfassung der Verschiedenheit des Körpers der Mutter von dem eigenen würde eine Abwendung auf Seitens des Jungen bewirken. 46 Keine dieser Möglichkeiten wird jedoch systematisch von den Autoren entwickelt oder weiterverfolgt.
Jenseits dieser Erklärungsversuche sei es jedoch deutlich, dass anhand der von Greenson festgestellten Schritte der Ent- und Gegen-Identifizierung im wesentlichen drei verschiedene Muster entstehen könnten, denn anders als bei Greenson hängt eine „erfolgreiche“ Ent-Identifizierung bei Hudson/Jacot nicht zwingend mit einer anschließenden Gegen-Identifzierung zusammen: Das erste denkbare Muster sei das „konventionelle“, bei dem sich das biologisch männliche Kind von der Mutter ent- und mit dem Vater gegen-identifiziere, im zweiten vorstellbaren Schema würde weder eine Ent-, noch eine Gegen-Identifizierung des Jungen vorgenommen, und im dritten möglichen Fall käme es zwar zur Ent-, aber nicht zur Gegen-Identifizierung des Jungen mit seinem Vater. Dabei produziere das erste Muster den „männlichen [Mann]“ 47 , der sich als männlich wahrnehme und dementsprechend agiere, das zweite Muster führe zur „Verweiblichung“ 48 , indem der Junge eine weibliche Geschlechtsidentität annehme, die seiner Anatomie entgegenstehe, und das Resultat des dritten Musters sei der „androgyne Mann“, der ein Gefühl von Geschlechtslosigkeit
verspüre. 49 Neben den drei Grundmustern seien noch weitere Kombinationen möglich, beispielsweise eine Gegen-Identifizierung mit dem Vater ohne vorausgegangene Ent-Identifizierung mit der Mutter. Dies könne dann geschehen, wenn sich beide Eltern in ihrer Persönlichkeit sehr ähneln, beide in die Pflege des Kindes involviert seien und für das Kind keine klare Zuordnung von „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften möglich sei. Auch hier würde keine eindeutige männliche Geschlechtsidentität herausgebildet, vielmehr existierten schwach ausgeprägte männliche und weibliche Charakteristika in der Identität des Jungen nebeneinander. 50 Normalerweise sollte es gemäß Hudson/Jacot jedoch gerade die Vaterrolle sein, die dem Jungen helfe, verschiedene an den Eltern wahrgenommene Qualitäten durch das „männliche“ Auftreten des Vaters intuitiv geschlechtsspezifisch zuzuordnen. 51 Demnach erfahren nur „männliche Männer“ die „Wunde“ mit all ihren Auswirkungen oder - anders herum betrachtet: Nur die „Wunde“ bringt „echte“, „männliche Männer“ hervor mit all den Eigenschaften, die gesellschaftlich normiert als „männlich“ gelten, und dies wohl nur unter dem Einfluss eines ebenso „männlichen“ Vaters. Wie jedoch bei der Entstehung der „Wunde“ im Einzelnen biologische, psychologische und kulturelle Faktoren aufeinander einwirkten und zu den verschiedenen Ergebnissen führten, „weiß [wie bereits bei der Frage nach den Gründen der Ent-Identifizierung] niemand“ 52 und deswegen sei es „abwegig, detaillierte Erklärungen vorzutragen“ 53 . Dementsprechend bleibt ein weiterer entscheidender Punkt ungeklärt, aber laut Hudson/Jacot sei es auch ohne eine systematische Verfolgung dieses Problems unübersehbar, dass die Auswirkungen der Ent-und Gegen-Identifizierung beim „männlichen Mann“ in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter deutlich zum Tragen kommen, mehr als zum Zeitpunkt der Entstehung der „Wunde“ selber. 54 Möglicherweise ist es diese von den beim erwachsenen Mann sichtbar werdenden „Ergebnissen“ ausgehende Betrachtungsweise, die aus der Sicht der Autoren eine kritische Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Entstehungsfaktoren der „Wunde“ bzw. der männlichen Geschlechtsidentität und ihrer Vernetztheit untereinander marginal erscheinen lässt.
Die für den „männlichen Mann“ „positiven“ sowie „negativen“ Konsequenzen der „Wunde“ bezeichnen Hudson/Jacot als „Kosten“ und „Nutzen“. 55 Demnach müsse der „männliche Mann“ für gewisse „Vorzüge“ „bezahlen“.
Im Zusammenhang mit den „Kosten“ schreiben die Autoren, dass der Junge, der eine eindeutig männliche Geschlechtsidentität entwickele (bzw. entwickeln wolle), vom Trost der Mutter abgeschnitten sei und somit etwas anderes „in sich [hat]“ 56 als Mädchen und wohl auch „weibliche“ und „androgyne“ Männer, wobei wie bereits erwähnt kein Hinweis darauf
gegeben wird, was dieses „Abschneiden“ bewirkt, warum die Ent-Identifizierung auch automatisch das...