3. Wissenschaft, Theoriebildung und die Frage der Vererbung im Nationalsozialismus
3.1 Wissenschaft und Theoriebildung im Dritten Reich
Um zu sehen, wie Erklärungsbilder von Sprachstörungen sich entwickelt und möglicherweise verändert haben, ist es notwendig, eine kurze Einleitung vom Verständnis und den Aufgaben nationalsozialistischer Wissenschaft zu geben.
Im Dritten Reich galten als oberste Ziele die Absicherung des Überlebens des deutschen Volkes, dessen Weiterentwicklung in allen Lebensbereichen, sowie die Etablierung und Festigung einer herausragenden Rolle der arischen, nordischen Rasse gegenüber allen anderen Rassen. Basis dafür war die Idee der Volksgemeinschaft. Innerhalb dieser Volksgemeinschaft sollte das reine deutsche Blut erschaffen werden (vgl. Schultze 1938, S. 12). Die Idee der Volksgemeinschaft legitimierte Vorgänge wie z.B. die Entfernung jüdischer oder politisch nicht konformer Wissenschaftler entweder durch den Zwang zur Emigration oder Verhaftung.
Für die Wissenschaft galt ebenso wie für andere Lebensbereiche, dass sie sich erneuern sollte im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Wissenschaft unterlag also dem Primat der Volksgemeinschaft. Die Aufgabe des Wissenschaftlers war damit die Ausführung von Forschung im Sinne der Volksgemeinschaft, es werden Probleme dieser Volksgemeinschaft erforscht und Lösungen für diese gesucht. Dabei sollte auch schon vorhandenes Wissen neu überprüft werden und lebenspraktische Probleme untersucht werden, so dass der weltfremde Wissenschaftler nicht mehr existieren sollte (vgl. Schultze 1938, S. 14f.). Daraus resultierte auch, dass der Aufbau von theoretischen Konstrukten nicht mehr erwünscht war, wenn ihr praktischer Wert nicht sofort anwendbar war: “Was nützen staatswirtschaftliche Dogmen, wenn sie den wirtschaftlichen Verfall eines Volkes nicht um eine Stunde aufhalten können?“ (vgl. Schultze 1938, S. 15) oder “Was haben juristische Lehrmeinungen und Theorien für einen Wert, wenn sie sich im praktischen Leben nicht anwenden lassen.“(vgl. Schultze 1938, S. 15)
Forschung darf also niemals nur Wissen produzieren, sondern muss immer für die Volksgemeinschaft anwendbar sein, im Dienste an der Nation und an der nationalsozialistischen Bewegung.
Wissenschaftliches Denken wird immer in Verbindung mit dem rassischen Denken gesehen (vgl. Groß 1937, S. 43). Als “eine grundsätzlich neue geistige Einstellung zu den großen Wirklichkeiten des biologischen wie des geschichtlichen (und geistesgeschichtlichen!) Lebens“ (Groß 1937, S. 43) muss es dem Wissenschaftler dienen, um die tatsächlichen Zusammenhänge seines Fachgebiets zu begreifen.
Die Medizin war der Raum, in dem zum großen Teil Theorien um die Ursachen von Sprachstörungen entwickelt wurden. Für die Mediziner drückt Schultze das Arbeits- und Wirkungsgebiet der Medizin folgendermaßen aus:
“Heute schon sind die nationalsozialistischen medizinischen Hochschullehrer die Helfer und Berater ihrer Berufskameraden in der Praxis; sie sind mit diesen in das Gemeinschaftsleben des ganzen Volkes einbezogen und empfangen von dort ihre Aufgaben. Die nationalsozialistische Blut- und Rassenlehre hat ihnen und ihrer Wissenschaft ein Forschungs- und Arbeitsgebiet eröffnet, dessen Weite und Bedeutung sich heute nur erahnen läßt. Damit hat sich die Bewertung der wissenschaftlichen Aufgaben von Grund auf geändert. Eine Fülle von wichtigen Fragestellungen ist gegeben, von deren Lösung die Gesunderhaltung des Volkes abhängt.[...]Die Verantwortung für ein ganzes Volk hat auch das ärztliche Berufsethos geändert: vielfach ist heute Pflicht geworden, was früher als Verbrechen bezeichnet wurde.“ (Schultze 1937, S. 16).
Das Forschungsgebiet Blut- und Rassenlehre impliziert schon die Frage nach Verbesserung der Rasse und damit nach Untersuchungen, inwiefern Krankheiten und Eigenschaften von Menschen erblich und als Makel für die Volksgemeinschaft anzusehen sind. Stärker betont wird dies noch einmal durch Groß, der fordert, “der Erblichkeitsforschung im strengsten wissenschaftlichen Sinn die Stellung auch innerhalb der Medizin zu verschaffen, die sie verdient“ (Groß 1937, S. 44).
Ebenso fällt in die medizinische Forschung der Bereich, inwieweit “das krankhafte Geschehen rassische Verschiedenheiten aufweist.“ (Groß 1937, S. 44). Dass dieses Denken aus der Medizin heraus in die Pädagogik mitwirkte, zeigt sich am Beispiel um die Umerziehung nach Karl Cornelius Rothe und seiner “Beobachtung“, welche Rassen vermehrt unter Stottern leiden (vgl. Kapitel 2).
Theoriebildung in der medizinischen Wissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus bedeutet also, dass Themen untersucht wurden, die die Volksgemeinschaft direkt angingen. Es wurden Konstrukte entwickelt, die auf den Fragen der Rassenlehre und Erblichkeitsforschung aufbauten. Diese Konstrukte stellten ein Fundament dar, um die Gesunderhaltung des deutschen Volkes zu garantieren. Die Wissenschaft wurde zu einem Organ, das dieses Fundament zu legitimieren hatte. Im Falle der Medizin galt es, Erblichkeitsverhältnisse festzustellen sowie den Beweis zu liefern, dass die reine nordische Rasse “die“ gesunde Rasse an sich ist.
Um sich als Fachdisziplin im Nationalsozialismus legitimieren zu können, müsste die Sprachheilkunde also ihr Betätigungsfeld in Richtung Rassenlehre und Erbbiologie verlagert haben. Diese These soll in dieser Arbeit mit untersucht werden.
3.2 Erbliche Faktoren im Ursachenkomplex Sprachstörungen
“Der gesamte Sprechapparat als solcher ist in seiner Anlage ererbt, und zwar ebenso ererbt wie die äußere Gesichtsbildung. Der Sprechapparat, d.h. das Ansatzrohr, sind den inneren Gesichtszügen gleichzusetzen. So wie aber die äußeren sich ähneln, findet man auch im Bau des inneren Gesichts stets große Familienähnlichkeit. Daher klingt die Sprache von Geschwistern [...] ähnlich, nicht nur auf Grund der gleichen Nachahmung, sondern auch auf Grund der Ähnlichkeit im Ansatzrohr. Man sieht danach, wie wenigstens ein Teil der sprachlichen Erscheinung der Vererbung körperlicher Eigenschaften beizumessen ist. Andererseits kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Disposition zur Nervosität und Neurasthenie vererbt wird, daher dürfen wir uns nicht wundern, daß [...]Sprachstörungen ebenfalls vererbt werden können.“ (Gutzmann, H. sen. zit. n. Gutzmann 1934, S. 256)
Dieses Zitat setzt Hermann Gutzmann jun. an den Anfang eines Berichtes über eine Untersuchung zur Erblichkeit von Sprachstörungen, die er 1933 durchführte. Sein Interesse galt dabei besonders Stottern und Dyslalie, er traf jedoch auch Allgemeinaussagen für die Vererbung von funktionellen Sprachstörungen: “Aus unseren Untersuchungen über die funktionellen Sprachstörungen und die Möglichkeit ihrer Vererbung geht für uns deutlich hervor, dass die neuropathische Anlage, die durchaus als Basis für jede funktionelle Störung anzusehen ist, sicher vererbbar ist.“(Gutzmann 1934, S. 258). Wie bei Gutzmann sen. zeigt sich hier die Ansicht, dass eine Ursache für Sprachstörungen in einer Art Nervenleiden oder Nervosität zu sehen ist und man der Überzeugung ist, dass diese vererbt werden kann. Die neuropathische Anlage ist eine “ruhende Anlage“, die z.B. durch Trauma, psychischen Schock, Nachahmung oder körperlichen Reifeprozess aktiviert wird. Aus dieser Vorstellung heraus spricht Gutzmann jun. nicht von der Vererbung von funktionellen Sprachstörungen, sondern formuliert die Vererbung einer Anlage, dabei muss die Sprachstörung nicht auftreten, jedoch habe sich gezeigt, dass nach Auftreten einer Sprachstörung diese Anlage sehr oft nachzuweisen ist (Gutzmann 1934, S. 258).
Bei einem Vortrag auf der Tagung der Reichsfachschaft V und der der Deutschen Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde im Juni 1939 in Hamburg betont Gutzmann die Unterscheidung, “daß eben nur diese Sprachentwicklungshemmung vererbbar ist, aber nicht der voll ausgebildete Fehler.“ (Gutzmann 1939, S. 489). Er verschärft seine Ansichten von 1934 und betont, dass alle Kinder für funktionelle Sprachstörungen anfällig sind, bei denen in der Familie irgendwelche neuropathischen Krankheiten vorhanden sind (vgl. Gutzmann 1939, S. 490). Daraus resultiert für ihn die Forderung: “Schafft gesunde Eltern mit gesunden Nervensystemen, und die funktionellen Sprachstörungen werden auf ein Minimum herabsinken!“ (Gutzmann 1939, S. 490).
Bei Gutzmann zeigt sich auch die Tendenz, Sprachstörungen bestimmten Rassen zuzuordnen. Er spricht davon, dass man vor allem Stammeln sehr oft bei jüdischen Patienten findet (vgl. Gutzmann 1934 S. 257), was später noch ausführlicher in dieser Arbeit erläutert wird (vgl. Kapitel...