Vorbeugen ist besser als heilen. Dieser Leitsatz, der ursprünglich aus der Medizin stammt, besagt in schlichter Weise, dass es oftmals besser ist, einen unerwünschten Zustand durch gezielte Gegenmaßnahmen im Vorfeld bereits abzuwenden, statt zeit- und arbeitsintensiv die Symptome zu bekämpfen. Im pädagogischen Kontext umfasst Störungsprävention sämtliche Verhaltensweisen und Techniken des Lehrers, um Disziplinprobleme erst gar nicht entstehen zu lassen. In Schüleräußerungen wie „Der kann sich halt nicht durchsetzen“ oder „Sie sind einfach viel zu gutmütig“ (vgl. Becker 2000, S. 120) spiegelt sich wider, dass für viele nach wie vor „Strenge“ der entscheidende Faktor zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung im Klassenraum ist. Bei einer schriftlichen Befragung, die NOLTING im Rahmen seiner Studien unter Lehrern durchführte, stellte sich heraus, dass die meisten der Befragten die Aufstellung von Regeln als eine entscheidende Maßnahme zur Verhütung von Konflikten im Klassenraum sahen. Hinzu kamen Aspekte der Unterrichtsführung (interessant, gut vorbereitet und strukturiert) sowie der Aufbau sozial-emotionaler Beziehung zu den Schülern, die zur Störungsvermeidung betragen sollten. Viele der befragten Lehrer sahen auch die angemessene Reaktion auf auftretende Störungen als Beitrag zur Vermeidung von Disziplinproblemen in der Zukunft (vgl. Nolting 2002, S. 24ff.).
Die folgenden Abschnitte sollen zum einen die essentielle Bedeutung der Störungsvorbeugung verdeutlichen. Zum anderen soll eine Systematisierung der Präventivmaßnahmen zeigen, dass der Lehrer die Möglichkeit hat, bewusst, gezielt und effektiv Disziplinschwierigkeiten im Vorfeld abzuwenden. Dabei ist es nicht nötig, seine gesamte Lehrerpersönlichkeit zu ändern. Bei den folgenden Interventionskonzepten genügt es oftmals, einige Grundprinzipien zu beachten und persönliche, oftmals verfestigte Einstellungen zu hinterfragen. Basierend auf der Grundannahme, dass Situationen meist leichter zu verändern sind als Menschen, ist das allgemeine Präventionsziel die Gestaltung eines Gesamtfelds Schule, das „günstigen Einfluss ausübt und zugleich einen guten Nährboden für seine [des Lehrers] direkten Maßnahmen darstellt“ (Glöckel 2000, S. 67).
Dass die Störungsprävention neben der Intervention in den Mittelpunkt der Diskussion rückte ist maßgeblicher Verdienst von Jacob KOUNIN. Nachdem er in einer von ihm dozierten Vorlesung durch eine einzige harsche Ermahnung sowohl den Störer als aus die Mitstudierenden kurzfristig disziplinieren konnte („Welleneffekt“), ging er der allgemeinen Frage nach: „Was ist die beste Reaktion auf eine Störung?“ (vgl. Kounin 1976, S. 17).Im Folgenden versuchte er durch umfangreiche Untersuchungen an verschiedenen Schulen mit unterschiedlichen Altersstufen unter Anwendung diverser Forschungs- und Fragetechniken herauszufinden, was die beste Art der Zurechtweisung ist. Das Ergebnis war ernüchternd. Es ließ sich keine allgemeingültige Regel finden: erfolgreiche Methoden des Lehrers A versagten bei Lehrer B, Ermahnungen, die die Klasse 7a zur Ruhe brachten, verfehlten ihre Wirkung bei Klasse 7b. Allerdings wurde den Forschern beim Analysieren der Videobänder die Bedeutung der Phase vor der eigentlichen Störung bewusst. Hier konnten nun, im Gegensatz zur Lehrerreaktion auf Störungen, Grundmuster gefunden werden, die Störungen eher begünstigten oder eher vermieden. Das Ergebnis der Studie war folglich, dass man mit Disziplinproblemen als Lehrer nicht „fertig“ werden soll, sondern sie vielmehr verhindern muss (vgl. Kounin 1976, S. 84). Interessanterweise spielte bei Kounins Forschungen die Klassengröße eine untergeordnete Rolle, d.h. größere Klassen waren nicht zwangsläufig störanfälliger als Klassen mit weniger Schülern.
Kounin fasste die Erkenntnisse über das präventive Verhalten in vier Dimensionen zusammen. Die erste Faktorengruppe zur Vermeidung von Störungen betitelte Kounin als „withitness and overlapping“, was ins Deutsche übersetzt grob „Allgegenwärtigkeit“ bedeutet (vgl. Kounin 1976, S. 85ff.). Hierunter wird die Fähigkeit des Lehrers verstanden, den Schülern den Eindruck zu vermitteln, er hätte seine Augen überall und nichts entgeht seinen Blicken. Dies beinhaltet auch, dass er zwei Dinge synchron tun kann, so beispielsweise einen Lehrervortrag halten und die Klasse überwachen („overlapping“). Das ermöglicht es dem Lehrer, auf Störungen rechtzeitig und bei allen Schülern zu reagieren.
Gerade das Timing, so fand die Forschergruppe um Kounin heraus, spielt eine wichtige Rolle bei der Störungsvermeidung. Oftmals reagieren Lehrer erst, wenn sich störendes Verhalten ausgeweitet hat, und nicht, wenn es im Entstehen ist („Zeitfehler“). Damit ist das „Wann“ der Lehrerintervention meist entscheidender als das „Wie“ (vgl. Kounin 1976, S. 93). Neben diesen „Zeitfehlern“ identifizierte Kounin „Objektfehler“, d.h. der Lehrer weist den falschen Schüler zurecht oder unterlässt es, andere Störer ebenfalls zu ermahnen.
Erstreaktionen auf Störungen können verbaler oder nonverbaler Natur sein, wobei nonverbale Ermahnungen den Vorteil haben, den Unterricht nicht zwangsläufig zu unterbrechen. So benennt Kounin die „Reibungslosigkeit und den Schwung“ innerhalb des Unterrichts als weitere Präventionsdimension (vgl. Kounin 1976, S. 101ff.). Damit bezeichnet er die Vermeidung von abrupten Themenwechseln („Wo ist eigentlich Susi heute?“) mitten in der Stunde sowie die typischen Predigten und Standpauken aufgrund von Banalitäten („Wie oft hab ich euch schon gesagt, dass …“). Ziel des Lehrers sollte es sein, sprichwörtlich einen Unterrichtsfluss herzustellen ohne Unterbrechungen, Verzögerungen oder thematische Sprünge. Im Idealfall sollten sich die einzelnen Unterrichtsphasen und Aktivitäten, wie durch einen didaktischen Kitt verbunden, nahtlos aneinanderreihen, wobei der Lehrer den Wechsel ankündigen sollte, damit sich die Schüler geistig und emotional darauf einstellen können. Gelingt es dem Lehrer, die Übergänge reibungslos zu gestalten und den Unterrichtsfluss aufrecht zu erhalten, schaltet er eine bedeutende Störungsquelle aus. Wie so oft, fällt dem Beobachter meist nur die Nichtbeachtung des Prinzips „Reibungslosigkeit“ ins Auge, nicht aber, wenn der Unterricht ohne Brüche vonstatten geht. Der Begriff „Schwung“ in Kounins Ausführungen ist als Fähigkeit des Lehrers zu sehen, Sachverhalte, Ausführungen und Arbeitsanweisungen verständlich und klar auf den Punkt zu bringen. Das Tempo sollte der Klasse angepasst sein, also weder zu schnell noch zu langatmig. Durch Gestik, Mimik und sonstige nonverbale Mittel sollte der Lehrer das Gesagte verdeutlichen, verständlicher und anschaulicher machen. Gründe für das Störverhalten vieler Schüler sind Unklarheiten bezüglich der Aufgabenstellung oder zu lange, abschweifende Erläuterungen des Lehrers, so genannte Überproblematisierungen.
Unter dem dritten Punkt „Aufrechterhaltung des Gruppenfokus“ versteht Kounin, dass sowohl in der Phase der Aufgabenstellung, der Aufgabenbearbeitung als auch der Leistungskontrolle möglichst viele Schüler miteinbezogen werden sollen und damit ein „ausklinken“ oder gar „abschalten“ einzelnen Schüler erschwert wird (vgl. Kounin 1976, S. 117ff.). Das Ziel muss sein, dass sich jeder Schüler in der latenten „Gefahr“ befindet, aufgerufen und kontrolliert zu werden. Obwohl nicht vorgesehen ist, die Schüler zu verängstigen, liegt eine gewisse Verunsicherung in der Natur der Sache und lässt sich nicht vermeiden. Hinzu sollte der Lehrer auf einen möglichst hohen Beschäftigungsradius achten, d.h. auch die Schüler beschäftigen, die momentan nicht aufgerufen sind. Dies könnte beispielsweise durch Mitschreiben der Ergebnisse im Heft erfolgen oder durch die Aufforderung, Stellung zu dem zu beziehen, was der gerade aufgerufene Schüler sagt.
Als letzte Dimension nennt Kounin die „programmierte Überdrussvermeidung“ und umreißt damit das, was wir als „interessanten Unterricht“ bezeichnen würden (vgl. Kounin 1976, S. 131ff.). Dabei steht im Vordergrund, dass Überdruss auf Seiten der Schüler vermieden wird. Überdruss entsteht dann, wenn Schüler keinen Fortschritt in dem sehen, was sie tun. Daher ist es wichtig, zu häufige Wiederholungen und redundante Unterrichtselemente zu vermeiden. Es gilt durch variierende Stimuli, Themen und Methoden die Schüler anzuregen und gleichzeitig die Bedeutung des Unterrichtsstoffes zu erhöhen. Damit steigen die Aufmerksamkeit, die Lernmotivation und damit die Wahrscheinlichkeit eines weitgehend störungsfreien Unterrichts. All die genannten Dimensionen tragen deutlich stärker den Charakter eines optimierten Lernmanagements als den der klassischen Disziplinierung.
Disziplinrelevante Bereiche des Lehrerverhaltens
Die moderne Forschung hat die Befunde und Dimensionen Kounins ergänzt, modifiziert und vier Bereiche des Lehrerverhaltens herausgearbeitet, die Einfluss auf die Disziplin innerhalb der Klasse haben. Hierbei werden Kounins Dimensionen neu formuliert und konkrete Handlungsweisen zur Störungsprävention vorgeschlagen. Es fällt auf, dass...