Eiszeit
20. Mai 2013, Tag 15
Distanz: 22,3 km, Gesamtstrecke: 251,7 km,
Höhe: 2325 m,
noch vor uns: 308,4 km
The weather will improve. It always does.
Just wait patiently.
Sprichwort der Inuit
Geduld. Wie viel Geduld muss man haben auf diesem verdammten Eis, das nicht endet, in dem wir gefangen, eingeschlossen sind, nicht vorankommen, Eis, Eis, Eis. Nichts als Weiß, ich halte es nicht mehr aus. Ich will es nicht mehr sehen, ich will endlich nicht mehr sehen, dass ich nichts sehe. Herr, lass einen Sturm kommen. Lass es neblig werden, verbirg diese Welt vor mir, ich will sie nicht mehr sehen, ich will nicht sehen, wo ich bin!
Fange ich wirklich an zu beten?
Weiter, weiter, Schritt, Stock, Schritt, Stock. Atem ein, Atem aus. Ein Meter. Noch ein Meter. Noch ein Meter. Du. Bleibst. Nicht. Stehen. Die Sonne lacht. Wer hat sich das ausgedacht? Die Sonne lacht nicht. Sie knallt. Sie prallt. Sie schleudert ihre Strahlen auf uns, verachtend, vernichtend. Sie ist mir zu hell. Sie ist hämisch. Sie triumphiert. Schau, sagt sie, schau dir an, wo du bist, du kleiner Inuk, du kleines, unwichtiges, ohnmächtiges Menschlein, da stehst du nun und heulst. Im großen Eis. Schau es dir an, das Eis! Schau es an! Stunde um Stunde um Stunde zeig ich es dir, ich gehe nicht weg, ich bleibe hier! Du sollst sehen, wo du bist, wo deine Hybris, dein Stolz, deine lächerliche Abenteuerlust dich hingebracht haben. Wo du dachtest, du seiest zuhause. Hier bist du also zuhause? Warum heulst du dann? Komm, sag es mir, weinender Wicht!
Ich heule nicht!
Ich beiße die Zähne zusammen.
Verdammte Sonne. Du verdammte, verhasste, zerstörende Sonne. Hau doch endlich ab! Hau ab und lass mich, lass uns in Frieden! Wir brauchen dich nicht. Wir finden den Weg auch ohne dich. Auch deine Wärme brauchen wir nicht, wir sind warm genug, und am allerwenigsten brauchen wir dein Licht. Das Licht, das uns immer nur das Gleiche zeigt, das Immergleiche, das Immerimmerimmergleiche, Weiß, dieses Weiß, es bohrt sich in die Augen und ins Herz, es füllt das Hirn mit dieser einen Farbe aus, als würde sich ein zäher Kleber ausbreiten im Kopf, lass es doch endlich einmal verschwinden! Geh weg, geh unter! Wir wollen dich nicht. Ich will, dass es dunkel ist!
Doch ich kann dich aussperren, ich kann meine eigene Nacht machen. Dunkel. Nacht. Wie sehne ich mich nach einer Nacht! Ich schließe die Augen. Einen Schritt, zwei Schritte. Dann strauchele ich und muss mich mit dem Stock stützen. Augen wieder auf.
Die Sonne kreischt.
Schrill. Sie schreit vor Häme, da bist du ja wieder, Menschlein, Wicht, du kleiner, armer Tropf! Und er ist immer noch da, immer noch da, schau ihn dir an, den Horizont! Dem du nachläufst wie ein Äffchen. Du erreichst ihn nicht! Nie wirst du ihn erreichen, schau ihn dir an. Mit jedem Schritt, den du machst, rückt er einen Schritt weiter weg. Du kriegst ihn nicht! Das ist das Gesetz, das Gesetz des Weißes. Das hast du nicht gewusst? Das hast du nicht bedacht? Dann bist du ein dummes, dummes Menschlein.
Im Weiß, weit entfernt, ein roter Punkt, so groß wie eine Stecknadel. Thomas.
Ich will diese Stimme nicht mehr hören, halt den Mund, du verdammte Sonne! Halt endlich den Mund!
Da schweigt die Sonne beleidigt.
Doch nicht für lang. Leise fängt sie wieder an zu reden, nicht mehr hämisch, nicht mehr schreiend. Bohrend. Hinterrücks. Alle Zweifel, die es gibt, die ich an mir habe, fädelt sie an einer langen, leichten Schnur auf und wedelt damit vor mir herum; im grenzenlos scheinenden Weiß lässt sie dieses Band endloser Zerfleischungen perfide vor mir herflattern und senkt ihre kreischende Stimme zu einem gemeinen, fiesen Flüstern.
Dir fehlt alles. Du hast nichts, gar nichts von alldem, was man braucht, um durch das Weiß zu gehen, nackt stehst du da, hilfloser als ein Robbenjunges. Siehst du nicht, dass du ein Nichts bist? Was nützt er dir nun, der ganze Tand, den du mit dir schleppst, wenn dir doch das Wichtigste fehlt, kleines Menschlein, wenn du doch noch nicht einmal den Anblick aushältst, den Anblick dessen, was dich umgibt?
Was ist das Wichtigste? Was ist das, was mir fehlt, was muss ich haben, hier?
Geduld, kleines Menschlein. Geduld.
Bitte, sag es mir doch!
Dummes Inuk! Nicht einmal, wenn ich es dir sage, hörst du zu, hast es zu eilig, willst nur weiter. Willst nur ein weiteres Werkzeug von mir, irgendetwas, das du auf deinen Schlitten legen und hinter dir herziehen kannst, und alles ist gut? Du Närrin!
Ich werde verrückt. Ich starre auf meine Skispitzen, die sich abwechselnd nach vorne schieben, links, rechts, links, rechts, eigentlich sind es doch große Schritte, und ich denke, ich werde jetzt – hier – auf – diesem – Eis – verrückt, jetzt hakt mein Hirn aus. Ich kann mein Hirn fühlen, auf einmal, und es ist, als würden seine Ränder in Flammen stehen.
Wer ist das, mit dem ich da rede? Es ist, als würde ich kurz auftauchen aus einem Eisschlamm. Mein Inneres ist auf einmal zweigeteilt, da bin ich, und da ist noch etwas andres, da ist ein andres Ich, das sich mit der Sonne unterhält? Kurz staune ich darüber, doch dann sinke ich wieder hinab, irgendetwas zieht mich hinein in das Innere meines Kopfes, in dem diese Stimme spricht, und ich höre wieder auf zu fürchten, wahnsinnig zu werden, denn wer schon irre ist, der fürchtet es nicht mehr.
Schweigen.
Meine Gedanken werden jetzt geordneter. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es die Sonne ist, die da zu mir spricht, oder ob ich anfange, mit mir selbst zu reden.
Du hast das Eis nicht verstanden, seine Größe nicht begriffen. Schau es dir doch an! Schau dir an, was ich seit Tagen versuche, dir zu verstehen zu geben, mit meinem Licht, mit dem Tag, den ich nicht enden lasse. Du starrst auf den Horizont und begreifst nicht, was das Eis dir sagen will, du armseliges Menschlein. Dass es Geduld ist, die dir fehlt. Nicht jene Geduld, die dich deine künstliche Welt lehrt. Sondern die Geduld, die dich diese Welt hier lehrt. Die Welt ohne Menschen. Wie kannst du mit deinen Maßstäben hierherkommen? Die Natur, das Eis, ist so viel älter, so viel größer als alles in deiner Welt. Alles unterliegt hier anderen Maßstäben, anderen Gesetzen. Wie kannst du glauben, du könntest hier überleben, einfach so?
Warum sollte ich nicht, frage ich? Warum? Ich hab doch so viel gelesen!
Gelesen! Das Wort wird mir zurückgeschleudert. Die Gesetze, die hier gelten, kannst du dir nicht erlesen. Lesen gehört zu deiner Welt. Zu dieser gehört nur erleben. Du musst erleben, dass die Zeit hier langsamer vergeht, und das darf dich nicht ängstigen, weil auch deine Zeit langsamer vergeht. Du musst ruhig werden. Du musst akzeptieren, dass du die Größe des Eises nicht erfassen kannst und auch nicht sein Alter, denn das ist mit Menschenzeit nicht zu messen. Hier ist Eiszeit.
Eiszeit.
Wie viele Schritte sage ich dieses Wort vor mir her, Eis – Zeit –Eis – Zeit – Eis – Zeit. Rechter Fuß Eis. Linker Fuß Zeit. Hundert. Tausend. Eis – Zeit.
Einmal wurde ein Inuitboot von Nuuk zum Ameralikfjord geschickt, Fridtjof Nansen hat diese Geschichte aufgeschrieben. Gras sollte geholt werden, für die Ziegen des dänischen Vorstehers. Das Boot blieb lange aus. So lange, dass man schon dachte, den Inuit sei etwas zugestoßen. Tage, Wochen. Als das Boot endlich zurückkam, waren aber alle wohlbehalten. Auch das gewünschte Gras war an Bord. Warum sie so lange fortgeblieben waren, fragte sie der Vorsteher. Da erzählten die Inuit, dass das Gras noch ganz kurz war, als sie im Ameralikfjord angekommen waren. Also hätten sie gewartet, bis es lang genug gewachsen war. Nansen beendet die Geschichte mit den Worten: Es ist ein geduldiges Volk.
An diese Geschichte erinnere ich mich jetzt.
Ist es das, was du meinst?, frage ich. Muss ich diese Geduld erlangen? Muss ich alles hinter mir lassen, alle Maßstäbe, alle Regeln, alle Rahmen meiner Welt? Muss ich nur noch sehen, was ich sehe, und lernen, das zu akzeptieren? So, wie die Inuit nicht aufbrechen und an anderer Stelle nach Gras suchen. Nicht zurückfahren und viele andere Dinge erledigen in der Zwischenzeit? So, wie wir es selbstverständlich tun würden. Wer hat sich je hingesetzt, um dem Gras beim Wachsen zuzusehen? Muss ich heraustreten aus meiner Welt und ihrer Zeit, ihrer Geschwindigkeit?
War es tatsächlich vermessen zu denken, man könne hierherreisen, am nächsten Tag losgehen, mit Zeitdruck voranziehen? Schon auf dem Eis zu stehen, wenn die Seele noch nicht einmal in Kangerlussuaq angekommen war? Hat hier schon die Hybris begonnen, eine Expedition über jahrtausendealtes Eis mit moderner Zeitrechnung zu planen? War hier nicht etwas ganz anderes nötig? War das nicht unglaublich respektlos gewesen?
Nansen, Rasmussen, Amundsen. Bevor sie sich aufs Eis wagten, lebten sie lange mit den Inuit. Monate, Jahre. Lernten von ihnen. Vielleicht lernten sie von ihnen, und das begreife ich in diesem Moment, nicht nur die Techniken, sie lernten nicht nur, wie sie Robben jagen, Zelte bauen und heizen oder Schlitten ziehen mussten. Und deshalb reicht es auch nicht, einfach ihre Bücher zu lesen, in einem Bruchteil der Zeit, in der sie geschrieben wurden, in einem Bruchteil der Zeit, in der das Niedergeschriebene erlebt und gesammelt wurde. Wir denken, wir wüssten dadurch das Gleiche. Und seien sogar noch besser vorbereitet, ist doch unsere Ausrüstung viel moderner. Das sind wir nicht.
Wir haben nicht alles, was wir brauchen. Das Wichtigste kann man nicht auf einen...