Kapitel 1 Die Dunkelkammer
Im roten Licht der Dunkelkammer erscheinen die Umrisse eines jungen Mannes immer deutlicher auf dem Fotopapier. Er steht auf einer steinigen Straße, mit nacktem Oberkörper, eine Wasserflasche in der Hand, auf seinem Rücken ein riesiger Rucksack, die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Irgendwo in den Bergen, jedenfalls nicht in der DDR. Neben ihm zwei ältere Männer, Bauern mit ihren schwer bepackten Pferden. Der bärtige junge Mann lacht direkt in die Kamera. Trotz der Last auf dem Rücken ein unbeschwertes Lachen.
Jens beugte sich über die Schale, in der das Bild schwamm. Da hörte er, wie sich die Tür der Dunkelkammerschleuse öffnete und schloss, danach das Rascheln des Vorhangs.
Im Dämmerlicht erkannte er eine junge Frau.
Sie blieb einen Moment an der Tür stehen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Hallo?, machte Jens sich bemerkbar.
Sie grüßte zurück, ging zum Tisch mit den Vergrößerungsapparaten und legte dort ihre Tasche ab. Jens griff sich das fertig entwickelte Papierbild, hielt es einen Moment hoch, bis der größte Teil der Flüssigkeit abgetropft war, tauchte es kurz ins Essigbad und ließ es dann in den Fixierer gleiten. Er bewegte es in der Schale vorsichtig hin und her.
Wo warst du denn da?, fragte sie.
Im Kaukasus, antwortete er.
Du warst im Kaukasus?
Ja.
Jens hob das Bild aus dem Fixierbad und legte es in das Wasserbecken.
Das ist auf dem Weg zum Elbrus, dem höchsten Berg in Russland.
Sie überlegte einen Augenblick.
Aber da kommt man doch nicht so einfach hin … ohne Reisegruppe oder Parteiauftrag?
Jens grinste.
Manchmal geht es auch ohne Gruppe und Auftrag.
Er trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab und widmete sich dem nächsten Bild.
Sie stellte sich neben ihn. Gemeinsam sahen sie zu, wie auf dem Fotopapier nach und nach eine wilde Gebirgslandschaft erschien.
Ich bin Marie. Und du?
Jens.
Er musterte sie im Halbdunkel.
Heiß hier, sagte sie, zog ihren Pullover über den Kopf und ließ ihn auf den Stuhl vor ihrem Arbeitsplatz fallen.
In welchem Studienjahr bist du denn?, fragte sie. Ich hab’ dich hier noch nie gesehen.
So?, meinte Jens.
Und auf der Liste für heute stehst du auch nicht, fuhr sie fort.
Er sah sie an.
Ich kenn’ hier aber jeden – nur dich nicht!
Marie verschränkte die Arme und zog lachend ihre Augenbrauen hoch.
Das kann nicht sein. Wenn du öfter kommen würdest, wärst du mir garantiert aufgefallen.
Nun lachte auch er.
Kompliment, du bist sehr aufmerksam. Ich studier’ gar nicht in Weißensee, sondern Biologie an der Humboldt-Uni. Aber dort gibt es kein Fotolabor, deshalb habe ich mir überlegt, ich komm einfach mal vorbei und probiere eures aus.
Und?, meinte Marie. Bist du zufrieden?
Er sah sie wieder an. Sehr.
Sie lächelte. Na dann, sagte sie. So, aber ich bin nicht zum Quatschen hier und du doch sicher auch nicht!
Jens legte seinen Abzug in die Schale mit dem Fixierer.
Licht?, fragte er. Marie nickte.
Sie zog eine Schachtel mit Fotopapier und eine Mappe mit Negativen aus ihrer Tasche. Geübt spannte sie einen Streifen in den Apparat. Jens knipste das Licht wieder aus.
Marie legte ein Blatt des Fotopapiers in den Rahmen unter dem Vergrößerer und verschob die Objektivplatte, bis das Bild darunter scharf wurde.
Jens schaute ihr neugierig über die Schulter.
Da warst du aber auch nicht mit einer Reisegruppe unterwegs!
Marie sah nicht auf. Sie schaltete die Lampe des Gerätes ab und schwenkte den Rotfilter aus dem Strahlengang.
Da hab’ ich eine Tramptour mit meiner Freundin Conny gemacht. Wir hatten nicht mal ein Zelt dabei, meistens haben wir im Freien geschlafen, auf einer Wiese oder hinter Büschen neben den Landstraßen. Das sind Wildpferde in Bulgarien.
Jens schaute interessiert. Sie stellte die Zeitschaltuhr ein.
Fünfzehn Sekunden!
Jens drückte die Starttaste.
Vielleicht auch nur zehn.
Marie sah ihn amüsiert an.
Ja, vielleicht.
Dann schwiegen sie. Die Ruhe wurde nur vom Ticken der Zeitschaltuhr gestört und von ihrem harten Klacken, wenn sie sich abschaltete.
Die Enge der Dunkelkammer, das dämmrige Licht versetzte beide in einen zeitlosen Raum. Marie dachte an den jungen Mann auf dem Bild, der in die Sonne lacht. Um in den Kaukasus zu kommen, brauchte man besondere Genehmigungen, und die gab es nicht für Studenten, die mal eben dorthin wollten. Man konnte in der DDR nicht einfach losziehen und dreitausend Kilometer weit reisen. Oder doch? Konnte man das wirklich schaffen, unbehelligt, unbemerkt?
Der Gedanke ließ sie nicht mehr los.
Als sie fertig waren, war es erst kurz vor acht. Nicht spät genug, um den Abend schon enden zu lassen.
Wir könnten noch zusammen einen Tee trinken, ich lad’ dich ein, wenn du Lust hast, meinte Jens.
Gern, sagte Marie. Aber wo?
Jens überlegte.
Wo musst du denn nachher hin?
Nach Pankow. Und du?
In den Prenzlauer Berg.
Da kenne ich eine nette neue Teestube, wo wir hingehen könnten, schlug Marie vor.
Sie fuhren mit der Straßenbahn die Prenzlauer Allee hinunter. An der S-Bahn-Station stiegen sie aus und gingen zu Fuß weiter. Die Straße war nur spärlich beleuchtet, denn einige der Gaslaternen waren defekt. Es war Winter, an den Straßenrändern lagen zusammengeschobene Schneehaufen. Kalter Nebel lag in der Luft, es roch nach schwefliger Braunkohle. Vor der Teestube stellten sie fest, dass sie geschlossen hatte.
Einen Tee kann ich dir auch machen, sagte Jens.
Als sie in die Rykestraße einbogen, fiel ihm ein, dass seine Wohnung sicher kalt war. Die Kohlen vom vergangenem Winter waren längst verheizt und der Händler im Hinterhof mit seiner Lieferung in Verzug, heute Morgen hatte er die letzten fünf Briketts in den Kachelofen gesteckt. Nicht genug, um die hohen Räume warmzuhalten.
Am Ende der Straße zeichnete sich die Silhouette eines Turms gegen den dunklen Himmel ab. Es war der alte Wasserturm von Prenzlauer Berg, ein düsterer Backsteinbau. Jens wohnte nur wenige Schritte davon entfernt.
Kurz vor dem Haus bemerkte er den am Straßenrand abgestellten Lkw-Anhänger des Kohlenhändlers. Rasch hob er die Plane an einer Ecke an. Er brauchte nichts zu sagen. Marie griff zu und stapelte so viele Briketts wie möglich in seine Hände.
Ohne Hast gingen die beiden zur Haustür und drückten sie auf. Jens’ Wohnung lag im ersten Stock, die Küche ging zum Hinterhof, das einzige Zimmer zur Straße. Die Außentoilette war eine halbe Treppe tiefer.
Als sie vor seiner Wohnungstür standen, sahen sie sich einen Moment lang schweigend an. Jens, die Hände voller Briketts, bat Marie, die Wohnung mit dem Schlüssel aus seiner Jackentasche aufzuschließen. Sie öffnete die Tür und suchte im Flur nach dem Licht.
Jens ging an ihr vorbei in das Zimmer, in dem er schlief und arbeitete. Marie folgte ihm.
Ihr Blick fiel auf das Bett, dann auf die Landkarte, die darüber an der Wand hing. Sie zeigte die gesamte Sowjetunion mit allen angrenzenden Ländern. Gegenüber standen ein altes Sofa, ein abgenutzter Schreibtisch, ein Spiegel. Daneben ein großes Bücherregal. Eines der Bücher lag aufgeschlagen auf dem Bett, Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern«. Im Regal befand sich auch der einzige Luxusgegenstand, den sie entdecken konnte, ein Tesla-Tonbandgerät, dazu ein paar Spulen.
P. Floyd, Leonard Cohen und Angelo Branduardi konnte sie lesen.
Jens hockte sich vor den großen, hellbraunen Kachelofen und schichtete darin kleine Holzscheite auf Zeitungspapier. Die Briketts hatte er neben dem Ofen abgelegt. Sie bemerkte die riesige Holzkiste vor dem Kachelofen, so groß, dass man bequem darauf schlafen konnte. Jens erzählte ihr, dass er die Kiste von seinem Vater habe. In solchen Verpackungen erhielt dessen Betrieb Autoersatzteile geliefert. Er hob die dicke braune Decke, die gefaltet auf der Kiste lag, etwas hoch und zeigte ihr die russische Inschrift: Für Moskwitsch und Wolga.
Marie las die kyrillischen Worte: DDR, Bralitz-Oderberg, Kontrakt Nummer …
Bralitz ist der Umschlagplatz für russische Autos, erklärte Jens.
Er zündete ein Streichholz an und hielt es an die Zeitung im Ofen. Das Zimmer war eiskalt. Marie rieb sich mit den Händen über die Oberarme.
Jens ging in die Küche und machte alle Gasflammen an, um wenigstens die Luft etwas zu erwärmen und um den versprochenen Tee aufzugießen. Marie war ihm gefolgt und sah sich auch hier um. Das Licht kam von einer nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte. Um einen runden Esstisch standen umgedrehte Obstkisten, die offenbar als Stühle dienten. Als Regalersatz hatte Jens eine...