36I. Konsumgesellschaft – Dimensionen der Verbraucherdemokratie
(a) Der Kinofilm Die fetten Jahre sind vorbei beginnt nach dem Vorspann mit einer Szene vor einem Geschäft für Markensportschuhe. Junge Aktivistinnen in weißen T-Shirts mit der Aufschrift »Stop Sweatshops« verteilen Flugblätter an Passanten und Konsumenten, mit denen sie auf Kinderarbeit und menschenunwürdige Bedingungen bei der Produktion von Turnschuhen in Ländern wie Indonesien oder den Philippinen hinweisen, die hierzulande für 100 Euro verkauft würden, obwohl ihre Herstellung höchstens fünf Euro kosten würde. Die Demonstration endet damit, dass zwei Mitglieder dieser Gruppe, die sich direkt im Laden an Kunden gewendet hatten, gewaltsam aus diesem verwiesen und in Polizeigewahrsam genommen werden. – Wo endet der öffentliche Raum, in dem die Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit gelten und geschützt sind? Haben private Betreiber von Einkaufszentren, Bahnhöfen oder Flughäfen das Recht, unliebsame Meinungskundgebungen zu untersagen? Gegen die Betreiber des Frankfurter Flughafens hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 22. 2. 2011 klargestellt, dass auch in den Abflughallen der Fraport AG das Demonstrationsrecht Gültigkeit besitzt. »Als legitimer Zweck zur Einschränkung der Meinungsfreiheit«, so heißt es in den Erläuterungen des Ersten Senats u. a., »kann nicht der Wunsch herangezogen werden, eine ›Wohlfühlatmosphäre‹ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt.«[1]
(b) In einer seiner Neujahrsansprachen forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Bürgerinnen mit freundlichen Worten dazu auf, durch das eigene Konsum- und Investitionsverhalten »ganz persönlich« den Arbeitsplatz des Nachbarn sichern zu helfen. – In Deutschland wird die anhaltende Kaufunlust oder sogar Konsumverweigerung der Verbraucher immer wieder als eine Hauptursache für das Stocken des deutschen Konjunkturmotors verantwortlich gemacht. Um die Binnennachfrage in 37Schwung zu bringen, wird Kaufen zur Bürgerinnenpflicht ernannt. »Geiz macht arm« titelte etwa der Spiegel und fragte mit Blick auf die Werbekampagnen großer Elektronikhändler besorgt, ob sich die Republik »auf dem Weg in die Billig-Gesellschaft« befindet.[2] – Und nicht nur was das Geldausgeben betrifft, auch in anderen Hinsichten müssen die politischen Vertreterinnen hin und wieder überrascht zur Kenntnis nehmen, dass sich die Verbraucher querstellen und die administrativ geplanten Abläufe stören, etwa indem sie einen mit etwas höherem Bioethanol-Anteil versehenen Kraftstoff mit dem Namen ›E 10‹ schlicht nicht tanken.
(c) Die Umweltschutzorganisation Greenpeace schaltete vor einigen Jahren einen Kinowerbefilm, in dem ein Komitee von Außerirdischen mit einem Jargon, der an Meetings von Top-Managern eines Konzernriesen denken lässt, darüber berät, ob sich die Rettung der Erde lohne oder dieses unrentabel geführte Unternehmen besser abgestoßen werden sollte. Die Antwort fällt negativ aus, weil »Sorg«, der Anwalt der »Erdlinge«, den korrupt wirkenden Vorsitzenden nicht überzeugen kann. Er hat nicht mehr zu bieten als den Appell an die Kinobesucher, zusammen nur noch »gute Produkte« zu kaufen und sich hinter die »guten Firmen« zu stellen. – Internetplattformen für strategischen oder nachhaltigen Konsum wie die Seite www.utopia.de versuchen genau dies: Sie wollen Verbrauchern positive Kaufempfehlungen für Produkte von Unternehmen geben, die hohe ökologische und soziale Standards haben, und zeichnen solches Engagement mit einem Preis aus, anstatt negativ zum Boykott oder Konsumverzicht aufzufordern. Sie fördern damit einen neuen Konsum- und Lebensstil, der in der Marketingwelt als Lifestyle of Health and Sustainability (Lohas) bezeichnet wird.
(d) In den Pariser Banlieues eskalierten im Herbst 2005 schon länger schwelende Unruhen frustrierter Jugendlicher, zumeist mit Migrationshintergrund und ohne Arbeit, und weiteten sich zu einem Flächenbrand aus, den der Staat mit harten Restriktionen wie nächtlichen Ausgangssperren bekämpfte. Nacht für Nacht gingen hunderte von Autos in Flammen auf und wurden öffentliche Einrichtungen, Läden und Einkaufszentren gestürmt. – In seinem Buch Das Elend der Welt interpretiert der Soziologe Pierre Bourdieu solche Gewalt als Protest gegen die Symbole und den ma38teriellen Ausschluss von der konsumkulturellen Teilhabe.[3] Und in einem viel diskutierten und in zahlreiche Sprachen übersetzten politischen Manifest mit dem Titel Der kommende Aufstand, verfasst von einem »unsichtbaren« französischen Komitee, erfahren diese »Freudenfeuer« eine nachträgliche Rechtfertigung als Vorboten einer neuen Strategie der Gegenwehr, als »Taufe eines Jahrhunderts voller Versprechungen« und als lebenspraktische Inbesitznahme eines Territoriums durch die Besitzlosen.[4] Die weit fortgeschrittene »Zersetzung aller gesellschaftlichen Formen«, die sich darin spiegele, schaffe die ideale Bedingung für ein »wildes Massenexperiment« der Emanzipation: »›Autonom werden‹ könnte auch gut heißen: lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser zu nehmen, nicht zu arbeiten, sich wie verrückt zu lieben und in den Supermärkten zu klauen.«[5]
(e) Die Drogeriemarktkette dm behauptet sich gut in ihrem von Discountern und Supermärkten hart umkämpften Sektor und verdankt diesen Erfolg der im Vergleich größten Kundenzufriedenheit. Ihr Gründer, Götz Werner, Professor für Entrepreneurship an der Universität Karlsruhe, der sein Unternehmen nach anthroposophischen Grundsätzen leitet, propagiert öffentlichkeitswirksam die Idee eines existenzsichernden Grundeinkommens, das alle Einwohner individuell und ohne jede Arbeits- oder Gegenleistungspflicht erhalten sollen und das die bisherigen Transfereinkommen ersetzen würde. Die Finanzierung soll im Rahmen einer radikalen Steuerreform durch eine auf 50 Prozent der Nettopreise erhöhte Konsum- oder Mehrwertsteuer erfolgen, wodurch der Faktor Arbeit steuerfrei würde.
Dies sind einige erste Schlaglichter auf die Verbraucherdemokratie, wie sie dem interessierten Beobachter bei der morgendlichen Zeitungslektüre, beim Fernsehen, im Kino oder auch in seinem sonstigen Konsumalltag begegnen könnten. Sie alle zeigen aktuelle Phänomene der Politisierung des Konsums und der Konsumgesellschaft, wenn auch aus höchst unterschiedlichen Richtungen, mit ganz verschiedenen Zielen und Mitteln. Eine Politische Soziologie 39der Konsumgesellschaft macht es sich zur Aufgabe, solche Phänomene zu untersuchen und systematisch einzuordnen. Dabei drängt sich eine Vielzahl von Fragen auf: Wie und warum wird der Konsum politisiert? Unter welchen Bedingungen kann er selbst zu einer Form politischen Handelns werden? Wo wird politischer Protest dagegen kommerziell vereinnahmt? Lassen sich Märkte überhaupt durch Moral steuern? Welche Rolle spielen dabei die Medien, öffentliche Kampagnen, soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen? Oder bleibt der Konsum primär Bezugsproblem für politisches Handeln in politischen Institutionen anstatt auf Märkten? Auf welchen Ebenen wird er zum politischen Problem? Welche Rolle spielt er z. B. in den großen Ordnungsentwürfen der Wirtschaftspolitik? Mit was für Problemen beschäftigt sich der staatliche Verbraucherschutz? Welche Repräsentantinnen gibt es, die beanspruchen, für die Verbraucher zu sprechen? Und sprechen sie auch mal mit ihnen? Greift die Konsumkultur auf die politische Kultur über, und würde sich daraus eine Bedrohung für die parlamentarische Demokratie ergeben? Inwiefern wird eine solche Tendenz durch Politikinszenierungen, die nach dem Muster der erfolgreichen Markenführung ablaufen, noch verstärkt? Stehen die hohe Spendenbereitschaft und die Scheckbuchmitgliedschaften bei Organisationen der Zivilgesellschaft für ein hohes oder ein niedriges bürgerschaftliches Engagement? Und welche Folgen hat es, wenn der Sozialstaat seine Klienten als Kunden und nicht als Bürgerinnen anspricht und dementsprechend behandelt? In welchem Ausmaß verschmelzen diese Rollen heute, und was bedeutet das für die Sphären des privaten und des öffentlichen Lebens?
Diese Fragen zeigen, dass die Verbraucherdemokratie ein sehr vielschichtiger und unübersichtlicher Forschungsgegenstand ist. Während sich Teildisziplinen wie die Konsumsoziologie, die Forschung zu sozialen Bewegungen oder die sozialwissenschaftliche Politikfeldanalyse vielleicht noch auf einzelne dieser Fragen konzentrieren können, sind sie für eine Untersuchung zur Verbraucherdemokratie alle zugleich relevant. Denn die Verbraucherdemokratie bezeichnet eine übergreifende analytische Perspektive und wird – wie in der Einleitung bereits erwähnt – in erster Annäherung als der politische Prozess bestimmt, der auf die strukturellen Probleme und problematischen Entwicklungen der Konsumgesellschaft reagiert, diese öffentlich thematisiert und im Rahmen eines Gemeinwesens, das 40alle davon direkt und indirekt Betroffenen umfasst und angemessen zu repräsentieren beansprucht, einer kollektiven Lösung bzw. Korrektur zuzuführen versucht. Um diesem Prozessbegriff der Verbraucherdemokratie schärfere Konturen zu verleihen, ist es unverzichtbar, sich die Probleme der Konsumgesellschaft und ihre Politik genauer anzuschauen. Dabei kann ein Blick auf die Forschung zu einzelnen Teilbereichen des Feldes durchaus helfen, Problemdimensionen der Verbraucherdemokratie zu systematisieren, sofern dabei die Differenz der...