7I. Der Aufstieg des Homo Sentimentalis
Soziologen haben die Moderne traditionellerweise mit dem Aufkommen des Kapitalismus, dem Aufstieg demokratischer politischer Institutionen oder aber mit der moralischen Kraft der Idee des Individualismus in Verbindung gebracht, dabei aber die Tatsache vernachlässigt, daß die meisten großen soziologischen Erzählungen der Moderne neben den bekannten Begriffen des Mehrwerts, der Ausbeutung, der Rationalisierung, der Entzauberung oder der Arbeitsteilung eine andere, unscheinbarere Nebenerzählung enthalten, in der die Entstehung der Moderne unter dem Gesichtspunkt von Emotionen thematisch wird. Um nur einige besonders auffällige, wenn auch triviale Beispiele zu nennen: Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus enthält im Kern eine These über die Rolle der Emotionen im ökonomischen Handeln, da es die durch die Unergründlichkeit der Gottheit ausgelösten Angstaffekte sind, die im Mittelpunkt rastloser unternehmerischer Tätigkeit stehen. Die Marxsche Entfremdungstheorie – ohne die das Verhältnis des Arbeiters zu Prozeß und Produkt der Arbeit nicht hätte erklärt werden können – geht mit einer lauten emotionalen Begleitmusik einher, etwa an den Stellen in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, an denen Marx die entfremdete Arbeit im Sinne eines Realitätsverlusts in den Blick nimmt oder, in seinen Worten, als einen »Verlust des Gegenstandes«.[1] Dort, wo die Marxsche Entfremdungstheorie von der Populärkultur angeeignet – und entstellt – wurde, geschah das vor allem aufgrund ihrer emotionalen Implikationen. Die Moderne und der Kapitalismus waren entfremdend, weil sie eine Form emotionaler 8Taubheit erzeugten, durch die die Menschen voneinander, von ihrer Gemeinschaft und von ihrem innersten Selbst getrennt wurden. Auch Simmels berühmte Beschreibung des Großstadtlebens enthält eine Darstellung des emotionalen Lebens. In Simmels Perspektive produziert das großstädtische Leben einen endlosen Fluß nervöser Reize und kontrastiert damit dem kleinstädtischen Leben, das auf »gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist«.[2] Für Simmel ist die typisch moderne Einstellung die des Blasierten, die sich aus einer gewissen Reserviertheit, Kälte und Gleichgültigkeit zusammensetzt und, wie Simmel hinzufügt, stets Gefahr läuft, in Haß umzuschlagen. Schließlich ist es wohl die Durkheimsche Soziologie, die sich – bei allem ihr eigenen Neo-Kantianismus – vielleicht auf besonders überraschende Weise der Thematik der Emotionen zuwendet. Ja, das Herzstück der Durkheimschen Soziologie, die Solidarität, ist nichts anderes als ein Bündel von Emotionen, das die sozialen Akteure an die zentralen Symbole der Gesellschaft bindet (in Die elementaren Formen des religiösen Lebens spricht Durkheim in diesem Zusammenhang von »Efferveszenz«).[3] Durkheims Sicht der Moderne bezieht sich sogar noch direkter auf Emotionen, da sie zu begreifen sucht, was die moderne Gesellschaft angesichts der aus der sozialen Differenzierung resultierenden mangelnden emotionalen Intensität »zusammenhält«.[4]
9Mein Punkt ist, so hoffe ich, deutlich genug, und ich will ihn hier nicht weiter ausführen. Implizit enthalten die kanonischen soziologischen Theorien der Moderne wenn schon nicht eine voll ausgereifte Theorie der Emotionen, so doch zumindest eine ganze Reihe von Bezügen auf einzelne Emotionen: Angst, Liebe, Ehrgeiz, Gleichgültigkeit, Schuld – alle diese Emotionen sind in den meisten historischen und soziologischen Erzählungen präsent, in denen es um die Brüche geht, die die moderne Ära herbeigeführt haben. Man muß nur, wenn man will, lange genug an ihrer Oberfläche kratzen.[5] Meine allgemeine These in diesen Vorlesungen lautet wie folgt: Wenn wir diese nicht allzu verborgene Dimension der Moderne wiedergewinnen, werden sich die üblichen Analysen der Konstitution des modernen Selbst und der modernen Identität, aber auch die Analysen der Spaltung zwischen Öffentlichem und Privatem mitsamt ihrer geschlechtsspezifischen Artikulation wandeln.
Aber, so könnte man nun fragen, warum sollten wir das tun? Würde die Konzentration auf eine solch hochgradig subjektive, unsichtbare und persönliche Erfahrung, wie es eine »Emotion« ist, nicht das Geschäft der Soziologie untergraben, von dem man doch sagt, es sei hauptsächlich mit objektiven Regelmäßigkeiten, strukturierten Handlungen und großflächigen Institutionen beschäftigt? Warum sollten wir uns, anders gesagt, mit einer Kategorie herumschlagen, ohne die die Soziologie bisher ganz gut ausgekommen ist? Ich denke, es gibt einige Gründe, die dafür sprechen.[6] Emotionen sind an sich keine Handlungen, wohl aber die innere 10Energie, die uns zum Handeln antreibt; sie sind das, was einer Handlung eine spezifische »Stimmung« oder »Färbung« gibt. Emotionen können folglich als die »energiegeladene« Seite des Handelns bestimmt werden, wobei diese Energie zugleich Kognition, Affekt, Bewertung, Motivation und den Körper impliziert.[7] Emotionen sind also weit davon entfernt, präsozial oder präkulturell zu sein; in ihnen sind vielmehr kulturelle Bedeutungen und soziale Beziehungen auf untrennbare Weise miteinander verflochten, und gerade diese Verflechtung ist es, die ihnen das Vermögen verleiht, Handeln mit Energie aufzuladen. Emotionen besitzen diese »Energie« aufgrund der Tatsache, daß sie stets das Selbst und seine Beziehung zu kulturell situierten anderen betreffen. Wenn jemand zu mir sagt: »Du bist schon wieder zu spät gekommen«, dann wird die Antwort auf die Frage, ob ich Scham, Wut oder Schuld empfinde, fast vollständig von meiner Beziehung zu dieser Person abhängen. Kommt die Bemerkung von meinem Chef, werde ich mich vermutlich schämen, kommt sie von einem Kollegen, macht sie mich wahrscheinlich wütend; kommt sie dagegen von meinem Kind, das vor der Schule auf mich wartet, dann fühle ich mich mit ziemlicher Sicherheit schuldig. Emotionen sind gewiß eine psychologische Entität, aber sie sind ebenso und vielleicht sogar noch stärker kulturelle und soziale Entitäten. Über Emotionen verwirklichen wir kulturelle Formen des Personseins, so wie sie in konkreten und unmittelbaren, aber stets kulturell und sozial definierten Beziehungen ausgedrückt werden. Ich würde daher sagen, daß Emotionen kulturelle Bedeutungen und soziale Beziehungen sind, die eng miteinander verflochten sind; und es ist diese enge Verflechtung, die ihnen ihren energetischen und damit präreflexiven, 11häufig halbbewußten Charakter verleiht. Emotionen sind zutiefst internalisierte, nicht-reflexive Aspekte des Handelns, aber nicht, weil sie nicht genug Kultur oder Gesellschaft in sich enthalten, sondern weil sie zuviel davon in sich tragen. Aus diesem Grund kann eine hermeneutische Soziologie, die soziales Handeln von »innen« verstehen will, ohne eine Berücksichtigung der emotionalen Färbung des Handelns und ihrer Quellen nicht angemessen sein.
Emotionen haben noch eine weitere zentrale Relevanz für die Soziologie: Viele soziale Arrangements sind zugleich emotionale Arrangements. Es ist trivial, darauf hinzuweisen, daß jene Spaltung und Unterscheidung, die die fundamentalste ist und die fast alle Gesellschaften prägt – die zwischen Männern und Frauen nämlich –, auf kulturell bestimmten emotionalen Gegebenheiten beruht (und durch sie reproduziert wird).[8] Wer ein wahrhafter Mann sein will, muß Mut, kühle Rationalität und disziplinierte Aggressivität zur Schau stellen. Feminität dagegen verlangt nach Freundlichkeit, Mitgefühl und Heiterkeit. Die durch geschlechtsspezifische Spaltungen produzierten sozialen Hierarchien enthalten implizite emotionale Spaltungen, ohne die Männer und Frauen ihre Rollen und Identitäten nicht reproduzieren würden. Diese Spaltungen wiederum produzieren emotionale Hierarchien, in denen kühle Rationalität normalerweise als verläßlicher, objektiver und professioneller eingeschätzt wird als etwa Mitgefühl. So setzt, um nur ein Beispiel zu nennen, das Ideal der Objektivität, das unser Bild von Nachrichten oder von (einer vorgeblich blinden) Gerechtigkeit dominiert, eine männliche Praxis und ein männliches Modell emotionaler Selbstkontrolle voraus. Emotionen sind folglich hierarchisch organisiert, und diese 12emotionalen Hierarchien organisieren wiederum auf implizite Weise unsere moralischen und sozialen Arrangements.
Ich will im folgenden die These vertreten, daß die Bildung des Kapitalismus Hand in Hand ging mit der Bildung einer stark spezialisierten emotionalen Kultur. Wenn wir uns auf diese Dimension des Kapitalismus konzentrieren – auf seine Emotionen also –, wird es möglich, eine andere Ordnung der sozialen Organisation des Kapitalismus zu entdecken. Im ersten Kapitel zeige ich, daß die stärkere Gewichtung der Emotionen in der Geschichte von Kapitalismus und Moderne die konventionelle Trennung zwischen einer emotionsfreien öffentlichen und einer mit Emotionen gesättigten privaten Sphäre zerfallen läßt, da deutlich wird, in welchem Maße Frauen und Männer der Mittelschicht im Laufe des 20. Jahrhunderts dazu angehalten werden, sich sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie auf intensivste Weise ihren Emotionen zuzuwenden, und zwar indem sie in beiden Bereichen ähnliche Techniken verwenden, um das Selbst und seine Beziehungen zu anderen in den Vordergrund zu rücken. Eine solche Kultur der Emotionalität bedeutet nicht, wie Kritiker in der Nachfolge Tocquevilles fürchten, daß wir uns in das Gehäuse unseres Privatlebens zurückziehen[9] – im Gegenteil: Niemals zuvor ist das private Selbst derart öffentlich inszeniert worden, niemals...