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E-Book

Wir sind die Stadt!

Urbanes Leben in der Digitalmoderne

AutorHanno Rauterberg
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783518733509
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR


<p>Hanno Rauterberg, geboren 1967, ist promovierter Kunsthistoriker und schreibt als Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung <em>DIEZEIT</em> regelmäßig über Architektur und Stadtentwicklung.</p>

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Leseprobe

Einleitung
Die Stadt ist tot, es lebe die Stadt!


Warum nur trägt die Parkuhr neuerdings ein Strickmützchen? Und wozu braucht der dicke Poller einen Ringelschal? Seltsam auch die rote Schaukel, die an der Bushaltestelle hin und her schwingt. Oder die beiden Sessel, aus Paletten gezimmert, die auf der lärmumtosten Verkehrsinsel stehen. Gut möglich, dass sich dort bald ein paar ausgediente Autoreifen niederlassen. Auf dem Bürgersteig gegenüber liegen schon einige, mit Blumenerde gefüllt. Unschuldig wächst der Spitzkohl daraus empor.

Man muss sich über all das nicht wundern. Man kann daran vorbeigehen, gedankenlos. Vermutlich sind Sessel und Schaukel am nächsten Tag ohnehin verschwunden, von der Müllabfuhr entsorgt. Fort auch der Pollerschal und das Parkuhrmützchen, die Kohlköpfe abgeerntet. Dann sieht es aus, als wäre nichts gewesen: die Stadt, ein ewig-stoisches Gebilde, viel Stahl und Stein und nichts, so scheint es, rührt sich. Was sollten Gemüsebeete neben dem Bürgersteig, was selbst gebaute Stadtmöbel und all die anderen surrealistisch anmutenden Dreingaben schon bedeuten. Es sind ephemere Erscheinungen, und wohl nur wenige kämen auf die Idee, sie als Zeichen einer großen Verwandlung zu deuten. Das aber sind sie: In ihnen kündigt sich ein Umschwung an, ein urbaner Neuanfang.

Das Leben, das man so lange aus den Städten vertrieben wähnte, drängt mit Macht in sie zurück, es zieht auf die Promenaden, Plätze, Kreuzungen, auf Parkdecks und selbst unter Autobahnbrücken. Es ist eine unverhoffte Wiederkehr und, wenn nicht alles täuscht, eine Kehrtwende in der windungsreichen Geschichte der urbanen Kultur. Die Gesellschaft ist nicht länger, wie sie war. Die Stadt ist es auch nicht.

Sie lebt, und allein das lässt viele staunen.

Lange schon war sie abgeschrieben, zu sklerotisch wirkte das urbane Leben. Spätestens seit den sechziger Jahren sprachen viele nur noch von der geschundenen, zerfransten, gemeuchelten Stadt. »The city is dead«, befand noch 2002 der einflussreiche Planungstheoretiker John Friedmann und brachte damit die Niedergangsbefunde zahlreicher Architekten und Stadtplaner auf eine bündige Formel.1 Sie beklagten die Verödung der Innenstädte, warnten vor Verarmung, Segregation und vor der Privatisierung des öffentlichen Raums. Und ihre Verlustgeschichten, wie sie auch von prominenten Autoren wie Richard Sennett oder Rem Koolhaas erzählt wurden, handelten nicht allein von sozialer oder ästhetischer Erosion. Gemeint war immer auch das Ende eines großen Ideals, das Ende der Stadt als Freiheitsraum. Erst hier habe der Mensch, so hieß es, seine Abhängigkeit von der Natur überwinden und das entwickeln können, was heute Kultur heißt. Alle gesellschaftlichen Innovationen hätten im urbanen Raum ihren Anfang genommen, alle Moden, Stile, Lebensweisen. Ohne die Stadt sei die Moderne mithin nicht zu denken. Hier habe das freie Subjekt die Welt erblickt und schließlich zu neuen, demokratischen Formen der Öffentlichkeit gefunden, in denen sich das Ich ebenso aufgehoben wusste wie das Wir. Die Krise der Stadt war für viele Kritiker eine Krise der Zivilisation.

Sicherlich gab es für ihre Warnungen gute Gründe, und man muss sagen: Es gibt sie oftmals weiterhin. In vielen Städten bemächtigen sich Shoppingmall-Konzerne der einst öffentlichen Räume und verwandeln sie in Konsumzonen mit Hausrecht. Nicht selten handeln kommunale Verwaltungen gleichfalls nach diesem Muster und lassen einzelne Straßen und Plätze als halbprivate Business-Distrikte betreiben oder verkaufen öffentliche Gebäude an den Meistbietenden. Darüber hinaus kann man die wachsende Zahl der Überwachungskameras oder das rege Interesse an Gated Communities mit einiger Skepsis betrachten. Vieles deutet darauf hin, dass der öffentliche Raum stärker als ehedem kontrolliert, abgeschirmt und von privaten Interessen beherrscht wird; nicht zuletzt die grassierende Groß- und Riesenplakatwerbung ist dafür ein Indiz.

Gleichwohl kann von einem posturbanen Zeitalter, das manche bereits heraufdämmern sahen, keine Rede sein. Nicht im globalen Maßstab, da seit 2008 mehr Menschen in städtischen Gefilden als auf dem Land leben. Und ebenso wenig, wenn man die zumeist wohlhabenden Hemisphären des Nordens betrachtet, jene alten Städte, die im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung zu großen Citys aufbläht wurden und von denen es lange hieß, sie hätten im 20. Jahrhundert alles eingebüßt: ihre Form und Kontur, ihre Bestimmung und auch den Gemeinsinn. Je weiter sich aber das industrielle Zeitalter dem Ende zuneigt und je stärker das zu greifen beginnt, was man Digitalmoderne nennen könnte, desto mehr scheint das Verlangen nach Stadt, nach ihrer Intensität und Dichte zu wachsen. Urbanität gilt nun, im 21. Jahrhundert, als etwas Begehrenswertes, wenngleich nicht immer klar ist, was genau da begehrt wird. Im Zweifel ist es ein Leben im Jetzt, aufregend und voller Optionen.

So steht einer um sich greifenden Privatisierung eine wachsende Lust am Offenen und Öffentlichen entgegen. Die freien, unbestimmten Räume der Stadt gewinnen eine andere, gewichtige Bedeutung. Zum einen ist da das Ich der Digitalmoderne, das nach Selbstverwirklichung strebt und dafür das urbane Gefüge als besonders geeignet erfährt. Zum anderen gibt es ein kollektives Selbst, ein Wir, das nach städtischen Räumen verlangt und sich erst auf Straßen und Plätzen formt und findet. Ohne dass sie jemand gerufen hätte, ohne dass es eine Kampagne gäbe, gar eine Staatsinitiative zur Reurbanisierung, zieht es viele Menschen hinaus in die Räume der Stadt. Dieses Buch erzählt von diesem Urbanismus von unten, der die Stadt wiedererweckt. Es schildert, wie sich viele Bürger den öffentlichen Raum auf mannigfache Weise aneignen und wie sie ihn verändern. In Zeiten des Hyperindividualismus wird er zu einem Raum geteilter Erfahrungen, zu einem Forum, in dem sich die kollektiven Interessen bündeln und neues Gewicht erlangen.

Occupy & Arabellion: die Stadt als Ort des Aufbegehrens


Besonders eindringlich zeigte sich das, als 2010 und 2011 die Menschen in Nordafrika zu Widerstand und Umsturz aufriefen, vielerorts die Revolution wagten und – befeuert von den Kontaktbörsen des Internets – Orte wie der Tahrir-Platz in Kairo zu Synonymen des friedlichen Neubeginns wurden. Fast zeitgleich bildeten sich in New York, Madrid, Frankfurt am Main und vielen anderen Großstädten breite Protestbewegungen, viele von ihnen unter dem Schlagwort Occupy, und wiederum erwies sich der öffentliche Raum als unverzichtbar: Die Demonstranten bauten auf hartem Pflaster und in den Parks ihre Zelte auf, nicht zuletzt als ein Zeichen des realen, greifbaren Protests gegen die ungreifbar-abstrakten Mächte der Finanzwirtschaft.

Dabei verdankte sich die Bewegung selbst jenem System der Datenleitungen, das den sogenannten Informationskapitalismus und die computergetriebene Spekulation an den Börsen erst möglich macht. Ohne das Internet, ohne Verständigungs- und Mitteilungsmöglichkeiten wie Facebook oder Twitter hätten die Proteste nicht so schnell anschwellen können, man bestärkte sich gegenseitig. Zumindest für einen Moment konnte man den Eindruck gewinnen, als habe sich nach der Ökonomie auch die öffentliche Kritik an dieser globalisiert. Sogar eine gemeinsame Ikonographie – zu der die Guy-Fawkes-Maske ebenso gehört wie das Igluzelt – konnte sich binnen weniger Wochen herausbilden. Erstaunlich aber war vor allem, wie einig sich die Demonstranten waren, dass sie für ihren Protest zwingend des öffentlichen Raums bedurften.

Viele Soziologen und Stadtforscher hatten lange etwas anderes prognostiziert: Protest und Debatten, jede Art von Öffentlichkeit, all dies würde sich auf digitale Foren, Chatrooms und Blogs beschränken, so ihre Annahme. Im Zeitalter der oft beschworenen Cybervilles, der Wired Citys, Teletopias komme es auf den einzelnen Ort nicht länger an. Doch ist von diesen Visionen, die manchen bereits sehr konkret vor Augen standen, nur wenig geblieben. Das Netz ist mächtig, aber nicht allmächtig geworden. Und es zeigt sich, dass der städtische Raum weiterhin einige wichtige, unverwechselbare Qualitäten bereithält: für große Bewegungen wie Occupy, für die Aufstände des Arabischen Frühlings oder für Bürgerproteste, die sich gegen Großprojekte wie einen Bahnhof (in Stuttgart) oder die Bebauung eines Parks (in Istanbul) wenden. Der Widerstand wäre nichts ohne die Asphaltwirklichkeit. Erst dort entzündet er sich, tritt medienwirksam in Erscheinung, erst dort wird für den Einzelnen realiter spürbar, was sich in den Foren des Netzes lediglich erahnen lässt: dass er nicht allein ist.

Und so profitiert die Stadt von der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung. Denn während die Bedeutung der Nationalstaaten so rasch schwindet, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden war, erblickt eine wachsende Zahl von Menschen in ihrem urbanen Umfeld einen Handlungsraum, der sich überschauen und gestalten lässt. Sie begegnen der eigenen Hilflosigkeit, den Ohnmachtsgefühlen angesichts weltumspannender Kapitalinteressen, indem sie sich mit Gleichgesinnten zusammentun und im Lokalen eine Antwort auf globale Probleme suchen, zum Beispiel auf den Klimawandel. Etliche schließen sich der Transition-Town-Bewegung an, 2005 von dem Briten Rob Hopkins ins Leben gerufen, und wollen im Verbund mit anderen ihre Stadt unabhängig vom Öl machen. Manche pflanzen Nussbäume auf öffentlichem Grund, andere bauen Fahrradrikschas, die den öffentlichen Nahverkehr bereichern sollen, dritte versuchen sich am Hausbau mit Strohballen oder entwerfen Dächer, die sich für sogenannte Solarbürgeranlagen eignen. Und stets wissen sich alle...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch / zum Autor2
Impressum4
Inhalt5
Einleitung: Die Stadt ist tot, es lebe die Stadt!7
I. Stadt und Gesellschaft: Wie neue Lebensideale das urbane Leben prägen19
II. Stadt und Technik: Warum Computer das Stadtbewusstsein verändern45
III. Stadt und Ich: Über das Bedürfnis, sich im öffentlichen Raum selbst zu erfahren59
IV. Stadt und Wir: Von der wachsenden Begeisterung für urbane Kollektive77
V. Stadt und Gegenwart: Auf der Suche nach einem anderen Leben97
VI. Stadt und Zukunft: Der Urbanismus von unten und die Folgen129
Literatur151
Weiterführende Literatur153
Internetseiten zum Thema155

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