Die Absicht, systemtheoretische und entscheidungstheoretische Forschungsansätze zur Rechtstheorie zu verbinden, führt zu einem scharfen Bruch mit dem üblichen Stil der Gedankenentwicklung. Rechtstheoretische Konzepte werden in der Regel auf begrifflichen Grundlagen entfaltet, die durch gängige Grundbegriffe oder durch plausible Definitionen bezeichnet werden. Man legt etwa fest: Normen seien Befehle (oder Werturteile oder präskriptive Sätze) und prozediert dann mit Hilfe weiterer Distinktionen, Polemiken oder Beziehungsaussagen weiter, bis ein Gedankengebilde entsteht, bei dem man vermeintlich genau weiß, wovon die Rede ist.[1] Es kann dann, je nach der Definition des Stammbegriffs, zum Beispiel als imperativistische Rechtstheorie angeboten werden. Alles hängt an dem schwachen Leitfaden einer Ist-Definition des Grundbegriffs – schwach deshalb, weil sie nur Sinnkontexte von geringer oder unbestimmter Komplexität, gleichsam abstrahierte Substanzen, verknüpft. Das reicht nicht aus.[2]
Für die Zwecke des interdisziplinären Gesprächs und für eine Theoriebildung, die heutigen Ansprüchen genügt, muß man grundbegriffliche Festlegungen, nämlich einfache Relationen diesen Stils ersetzen durch Bezugnahme auf sehr 27viel komplexere theoretische Syndrome, und das sind heute, wie gezeigt, Systemtheorie und Entscheidungstheorie. Zugleich dürfte es sich empfehlen, die Stellung des Grundbegriffs nicht durch Seinsaussagen zu besetzen, sondern durch Problemformulierungen, die je nach Systemkontext und Entscheidungskapazität unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten offenlassen. Man gelangt von dieser Absicht her also zu einer problemorientierten Rechtstheorie. Damit befindet man sich in der Perspektive problemspezifischer Forschung, die weithin als Konzept für multidisziplinäre Forschung vertreten wird.[3] Und man hat einen Ansatz, der Entscheidungstheorie und Systemtheorie verbindet. Denn Entscheidungen sind Entscheidungen über Probleme, sie wählen Problemlösungen, und Systeme sind die dafür notwendigen Begrenzungen sinnvoller Problemstellungen und verfügbarer Lösungsmöglichkeiten. Die Aufgabe der Rechtstheorie läge danach darin, die Möglichkeiten der Umformung von Systemproblemen in Entscheidungsprobleme im Bereich des Rechts zu klären.
Der Gedanke problemorientierter rechtswissenschaftlicher Analysen ist nicht neu[4] und nicht unangefochten. Er hat gegenüber den Bemühungen um rein logisch deduktive Strukturen auf der einen und der Behauptung einer wertmäßig axiologischen Vereinheitlichung des Rechts auf der anderen Seite einen eigenen Stil bewahrt. Besonders die rechtsvergleichende Forschung bedient sich der Problemorientie28rung, um die Vergleichbarkeit verschiedener Rechtsordnungen durch die Identität von Problemstellungen zu sichern. Das hat sich in gewissem Umfange bewährt in der vergleichenden Analyse dogmatischer Figuren und rechtstechnischer Problemlösungen,[5] läßt jedoch manche, und zwar gerade die rechtstheoretischen Fragen, offen. Die Hoffnung, vom Rechtsvergleich aus eine Rechtstheorie zu gewinnen, hat sich bisher jedenfalls nicht erfüllen lassen.[6] Dem rechtsvergleichenden Ansatz gelingt eine Rekonstruktion von vorgefundenen, dogmatisch-exegetisch erarbeiteten bzw. positiv-rechtlich gesetzten Problemlösungen als kontingente Selektion, die auch anders hätte ausfallen können; aber das Problem der Konstruktion der Probleme, um das es bei einer Zusammenführung von Systemtheorien und Entscheidungstheorien gerade gehen würde, ist bisher unzureichend geklärt.[7] Der »Blick aufs Ganze«, den Roland Dubischar[8] an dieser Stelle fordert, ist eine wohlmeinende Umschreibung dieser Verlegenheit.
Der Entgegensetzung gegen ein vorgezogenes, standpunktfreies Ganzheitsdenken verdankt die von Theodor Viehweg ausgelöste neuere Topik-Diskussion ihre Faszinationskraft.[9] Viehweg kennzeichnet Topik explizit als Technik des Problemdenkens, behandelt dabei jedoch Probleme als sach29lich vorgegeben und erreicht von der Topik aus keine theoretische Kontrolle der Problemstellungen, geschweige denn eine Klärung des Problembegriffs.[10] Über eine Zusammenstellung und wechselseitige Erhellung der Begriffe Gerechtigkeit, Aporie und Problem kommt die Diskussion nicht hinaus, und man erfährt nichts wesentlich Neues, wenn man liest, das Problem bestehe darin, Konfliktssituationen unter dem Aspekt der Gerechtigkeitsfrage zu würdigen.[11]
Der soziologische Funktionalismus steht mit seiner systemtheoretischen Konzeption vor den gleichen Schwierigkeiten, wenn auch mit einem deutlicher artikulierten (dafür aber entscheidungsferneren) Problembewußtsein.[12] Nach dem Vorbild von Malinowski denken Soziologen sich Problemzusammenhänge als Stufenordnungen in dem Sinne, daß die Lösung von Grundproblemen durch Strukturen und Prozesse erfolgt, die Folgeprobleme (oft auch dysfunctions genannt, wenn die wechselseitige Belastung der Problemlösungen vor Augen steht) nach sich ziehen, an die sich Strukturen und Prozesse sekundärer Art heften, die ihrerseits Folgeprobleme aufwerfen.[13] Die juristische und die so30ziologische Problemsicht weisen hier frappierende Ähnlichkeiten auf.[14] In beiden Fällen läßt die formale Stringenz des Konzepts, vor allem die logische Ableitung und die gedankliche Kontrolle der Problemstellung zu wünschen übrig.[15] Gänzlich ungeklärt sind schließlich, sowohl für Systemtheorien als auch für Entscheidungstheorien, die wissenschaftstheoretischen Begründungs- und Verwendungsbedingungen des Problembegriffs.[16] Gerade deshalb könnte jedoch 31eine interdisziplinäre Kooperation, vor allem eine systemtheoretische Orientierung der Wahl und der Artikulation von Grundproblemen Früchte tragen. Der Rechtstheorie könnte dabei die Aufgabe zufallen, Regeln für ein solches Vorgehen im Bereich des Rechts zu entwickeln.[17]
Für die neueren Entwicklungen empirisch ausgerichteter Systemtheorien ist durchgehend bezeichnend, daß Systemstrukturen und -prozesse im Hinblick auf die Beziehungen zwischen System und Umwelt als problematisch begriffen werden – sei es unter dem Gesichtspunkt der Bestandserhaltung, sei es unter dem Gesichtspunkt des Wachstums, sei es unter dem Gesichtspunkt der Reduktion übermäßiger Umweltkomplexität. Es ist nur eine andere, abstraktere Formulierung für diese Problemauffassung, wenn man Systeme 32als kontingente Selektionen bezeichnet. Das hieße, Systeme nicht länger, wie in der rechtswissenschaftlichen Systemlehre bisher üblich, als Einheit eines logischen oder wertmäßigen Prinzips zu definieren (das dann auf unerklärliche Weise vervielfältigt, zersplittert und problematisch wird), sondern sie als Einheit einer selektiven Leistung zu begreifen. Das Bewußtmachen von Selektivität führt, das haben die Diskussionen der theologischen und philosophischen Schulen des Mittelalters am Fall der Schöpfung vordemonstriert, unausweichlich zur Annahme des Bestehens anderer Möglichkeiten, zur Kontingenz des als Selektion Begriffenen. Und damit wird, das wissen wir ebenfalls seit dem Mittelalter, alles was ist oder gilt, zum Problem.
Das führt zu dem Vorschlag, den »Blick aufs Ganze« durch den »Blick auf Kontingenz« zu ersetzen. Unter Kontingenz verstehen wir im Sinne der modaltheoretischen Tradition von »contingens« (aber mit gleich zu erörternden Vorbehalten)[18] negierte Notwendigkeit (Unnotwendigkeit). Die Schulphilosophie unterscheidet bis auf Kant negierte Notwendigkeit (contingens) und negierte Unmöglichkeit (possibile). Die Zusammenhänge beider Modalitäten ergeben sich in der theologischen Schöpfungsdogmatik. Sie bestehen aber auch rein modaltheoretisch darin, daß etwas nicht Notwendiges trotzdem möglich und gegebenenfalls wirklich sein kann. In dieser Hinsicht bezeichnet der Kontingenzbegriff die Möglichkeit eines Gegenstandes, anders zu sein oder nicht zu sein – also ein Urteil über Seiendes, das dessen Möglichkeit bejaht, also Unmöglichkeit ausschließt, aber seine Notwendigkeit verneint.[19] Auf Kontingenz zu 33achten heißt demnach, Seiendes (oder in anderen Zusammenhängen: Aussagen über Seiendes) im Lichte anderer Möglichkeiten zu betrachten: als abhängig von, als geeignet zu, als Alternative für … Es geht dabei um eine problematisierende Einstellung mittelalterlich-neuzeitlichen Stils, der sich mit einem Rückgriff auf die antike Topik als ein relativ naives, Konsenspunkte voraussetzendes Verfahren der Problemdiskussion in der Rechtstheorie nicht zufriedengibt; und die Schwierigkeit liegt darin, einen anderen sinnvollen Rahmen solcher Problematisierungen auszuarbeiten.
Zwei Hauptgründe für diesen Vorschlag lassen sich vorab erörtern. Der eine liegt in der Bedeutung des Kontingenzproblems für die neuzeitliche Wissenschaftsentwicklung schlechthin, der andere liegt in der Bedeutung von Kontingenz für den strukturellen Aufbau sozialer Systeme, also auch für das Recht selbst. Es ist wichtig, sich beide Argumente zunächst getrennt vor Augen zu führen.
Mit Hilfe des Kontingenzbegriffes ist einer der wesentlichen gedanklichen Ausgangspunkte der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung formuliert worden, nämlich die Vorstellung, daß die Schöpfung der Welt durch Gott als Akt einer kontingenten (willentlichen) Selektion einer Welt aus unendlich vielen anderen möglichen Welten begriffen werden müsse. Die volle...