1. Die Frage nach der Person
Was sind Personen? Und an wen richtet sich die Frage? Für die Frage, was ein Mensch ist, ist heute die Biologie zuständig. Biologen können uns darüber aufklären, worin nach dem jetzigen Stand der Forschung die unterscheidenden Merkmale des Menschen bestehen. Aber wer ist für die Person zuständig?
Nach einer verbreiteten Auffassung muss auch diese Frage an eine spezielle Disziplin gerichtet werden, genauer: an zwei Unterdisziplinen der Philosophie, nämlich die Metaphysik und die Moralphilosophie. Metaphysiker untersuchen allgemeine Fragen des Seins, zum Beispiel, ob eine Person neben »mentalen« auch »physische« Eigenschaften hat.[2] Moralphilosophen (Ethiker und Metaethiker) befassen sich mit den Fragen, was eine Person als moralisches Wesen ausmacht, über welche moralische Grundausstattung sie verfügen muss (Rationalität, Willensfreiheit, Autonomie etc.) und mit welchen Maßstäben sie den Unterschied zwischen Richtig und Falsch, Gut und Schlecht bemisst. Während es verschiedene, teilweise inkommensurable Versionen dieser moralischen Maßstäbe gibt – die goldene Regel, der damit nicht zu verwechselnde kategorische Imperativ, das Gebot, stets das Wohlergehen der 10meisten zu fördern –, sind sich die Moralphilosophen bei aller Uneinigkeit doch einig, dass es sich jeweils um grundlegende Prinzipien handeln muss, die vielleicht nicht in allen Kulturen und historischen Epochen den Menschen bewusst waren, aber allgemeine Gültigkeit haben. Entsprechend versteht man unter der moralischen Person ein Wesen, das aufgrund seiner naturgegebenen Rationalität und Urteilskraft diese allgemeinen Prinzipien erkennt und praktisch anwenden kann. Die Arbeit des Moralphilosophen besteht dann darin, eine möglichst konsistente und kohärente Rekonstruktion der Prinzipien zu liefern, die er für richtig hält, wobei er von sogenannten Intuitionen ausgeht, die »wir« angeblich haben (jedenfalls hat sie der Moralphilosoph). »Wir«, das sind zunächst die Menschen, von denen der Moralphilosoph glaubt oder meint, erwarten zu dürfen, dass sie seine Intuitionen teilen; aber da die Ethik, wie gesagt, mehr zu sein beansprucht als lokale Semantik, leitet er aus diesen Intuitionen historisch invariante Prinzipien von universalem Anspruch ab. Nicht wenige Philosophen gehen auch heute noch ganz selbstverständlich davon aus, das Wesentliche an der moralischen Person verstehen zu können, ohne sie in ihren sozialen Lebensbezügen zu betrachten und die eigenen Annahmen in Beziehung zu dem zu setzen, was uns empirische Wissenschaften wie die Altertumswissenschaften, die Ethnologie, die Rechtswissenschaften und andere Kulturwissenschaften über wirkliche ethische Systeme und das Selbstverständnis von Personen lehren können.
Das hängt damit zusammen, dass die gegenwärtig in der universitären Philosophie etablierten analytischen und argumentativen Methoden der Bearbeitung solcher Intuitionen vor allem darauf angelegt sind, die eigenen Vorstellungen zu klären und zu präzisieren. Die Anziehungskraft, die analytische Methoden aufgrund ihrer erstaunlichen Leistungsfähigkeit in puncto Genauigkeit und Differenziertheit auf viele Philosophen ausüben, erweist sich jedoch als Nachteil, wenn man sich die Frage stellt, ob und wie weit unser moralisches Alltagsleben von diesen Vorstellungen abweicht und inwieweit sie überhaupt auf andere kulturelle Traditionen anwendbar sind. Denn analytische Methoden eignen sich weniger dafür, kulturelle Vorurteile in Zweifel zu ziehen, und sie können schwerlich einen Zugang zu dem eröffnen, was Menschen mit verschiedenem Selbstverständnis und in unterschiedlichen kulturellen 11Traditionen als Personen verbindet.[3] Hier bedürfen sie der Ergänzung durch Methoden, für die das eigene Selbstverständnis keine natürliche Grenze des Denkens darstellt. Schließlich betrachten wir nicht nur Mitglieder der »eigenen« Kultur – was auch immer wir darunter verstehen – als Personen. Menschen haben in verschiedenen Kulturen nicht nur Biologisches gemeinsam; sie deuten und organisieren ihr Leben unter Gesichtspunkten, die man in einem weiten Sinne als moralisch bezeichnen kann. Auch die Bewohner ferner Regionen, die Mitglieder anderer Religionen bis hin zu noch unbekannten, sozial abgeschiedenen Gemeinschaften irgendwo im Regenwald sind für uns Personen.
Die Überzeugung, dass Begriffe wie Person auch auf Menschen anwendbar sind, die anders leben und denken als »wir« – wo auch immer man die Grenze des kulturellen »wir« und der ihm unterstellten gemeinsamen Intuitionen ziehen möchte –, ist weder ein bloßes Erfahrungswissen, noch ergibt sie sich analytisch aus dem Begriff Mensch. Sie drückt die Bereitschaft aus, auch anders denkende und fühlende Menschen als Personen anzuerkennen, und ist somit selbst eine notwendige Bedingung der interkulturellen Kommunikation. Eine Kommunikation im eigentlichen Sinne kann nur zwischen Personen stattfinden: zwischen Menschen, die einander (mehr oder weniger) respektieren, weil sie sich als moralisch ansprechbare verantwortungsfähige Wesen – und nicht als vollkommen fremdartige, gänzlich unberechenbare Angehörige der Spezies Mensch – wahrnehmen.
Betrachtet man die normativen Eigenschaften, die Menschen einander in verschiedenen kulturellen Kontexten als Personen zuschreiben, ihre moralischen Erwartungen und Reaktionen und die Begrifflichkeiten, in denen sie ihr moralisches Leben beschreiben, treten jedoch Unterschiede zutage, die extrem fremd wirken können. Ethnologen haben das Gefühl der Fremdheit mitunter mit einer organismischen Theorie der Kulturen untermauert, der zufolge man moralische Praktiken und Begriffe überhaupt nur in ihrem speziellen kulturellen Kontext verstehen könne.[4] Einige 12haben sogar bestritten, dass man in einem interkulturellen Sinne von Personen sprechen dürfe: Was wir unter Personen verstünden, sei durch unsere Tradition bedingt und nicht über ihre Grenzen hinaus projizierbar.[5] Andere haben die Auffassung vertreten, dass Phänomene wie das Gewissen und das Schuldbewusstsein, die für uns zur moralischen Psychologie von Personen gehören, in sogenannten »Schamkulturen« kaum auftreten, die eine rein äußerliche Moral pflegten.[6] Und schon gar nicht scheinen die modernen Vorstellungen von der autonomen Person und die mit ihr verbundene Auffassung moralischer Verantwortung ohne weiteres auf andere kulturelle Kontexte und Epochen übertragbar.[7] Ähnliches gilt für das Thema Verantwortung: Je nachdem, ob man die Tiefendimension oder die Reichweite moralischer Verantwortung im Blick hat, könnte man sagen, dass erst das Christentum und das moderne westliche Denken moralische Verantwortung im eigentlichen Sinne kennt[8] – oder umgekehrt, dass das Bewusstsein der persönlichen moralischen Verantwortung mit dem modernen Weltbild zunehmend geringer wird.[9] Auch der Gedanke der einer Person gebührenden Achtung scheint für uns untrennbar mit dem Ge13danken der Gleichheit verbunden und daher auf traditionelle und hierarchische Gesellschaften nicht anwendbar.[10] Man könnte diese Liste der kulturellen Besonderheiten und speziellen Beschreibungen lange fortsetzen. Nur: Was folgt daraus? Kennen die Menschen in anderen kulturellen Kontexten weder Achtung noch moralische Verantwortung? Können – oder dürfen – wir unter einer Person im moralischen Sinne nur das verstehen, was die europäische Geistesgeschichte dazu beizutragen hat?
Nun ist die Anerkennung von Menschen als Personen, wie gesagt, nicht allein eine theoretische Angelegenheit, sondern eine Voraussetzung moralischer Beziehungen. Es ist daher allein schon aus moralischen Gründen nicht möglich, das Personsein allein auf Angehörige der »eigenen« kulturellen Tradition zu beziehen, weil durchaus nicht klar ist, was darin einzuschließen wäre und wo die Grenzen liegen. Die Ideen, die in der europäischen Tradition mit dem Personbegriff assoziiert werden, bilden nicht von selbst ein kohärentes Ganzes. Sein Anwendungsbereich – um nur ein paar Stichworte zu nennen – erstreckt sich von den göttlichen Personen der christlichen Dreieinigkeit über den individuellen Menschen hin zu Gruppen (Rechtspersonen) und schweren Körpern (»Die Last des Fahrstuhls beträgt 10 Personen«). Und seine Bedeutungen sind nicht weniger vielfältig: Meinen wir damit wie Boethius die individuelle Substanz einer vernünftigen Natur?[11] Oder wie in der römischen Tradition die soziale Rolle beziehungsweise den Rollenträger? Die christliche Seele oder das Selbstbewusstsein wie bei Locke? Schreiben wir der Person neben »mentalen« auch physische Eigenschaften zu wie Peter Strawson?[12]
Das Verstehen der eigenen Tradition ist ebenso wenig wie das Verstehen des Fremden auf Vertrautheit mit den gegebenen Bedeutungen reduzierbar, sondern verlangt eine kreative und konstruktive intellektuelle Anstrengung, die ein gewisses Bewusstsein von Fremdheit und Unverständlichkeit voraussetzt. Je besser man mit dem reichhaltigen historischen Bedeutungsspektrum des Begriffs Person bekannt ist, desto weniger wäre es möglich, ohne aktive be14griffliche Rekonstruktionen und Uminterpretationen eine konsistente und kohärente Vorstellung zu erhalten. Traditionsorientierte Philosophen wie Robert Spaemann, die einerseits den nicht kulturell begrenzten Anspruch auf Anerkennung ernst nehmen, der mit dem Personbegriff verbunden ist, aber andererseits die Auffassung vertreten, um ihn genauer zu verstehen, müssten wir sehen, wie er »zustande kam«,[13] gehen daher nicht nur historisch, sondern auch konstruktiv vor. Sie präsentieren nicht nur eine...