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E-Book

Scham, Schuld, Verantwortung

Über die kulturellen Grundlagen der Moral

AutorMaria-Sibylla Lotter
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl344 Seiten
ISBN9783518755105
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Was macht aus Menschen moralische Personen? Wie entstehen die spezifischen Verhältnisse, in denen Phänomene wie Schuld, Scham, Verantwortung und Respekt auftreten? Und warum fühlen wir uns oft so fremd in unserem Selbstverständnis - warum ist es so schwierig, unsere eigenen Verhältnisse mit unseren moralischen Begriffen und philosophischen Theorien zu verstehen? Auf den ersten Blick sind das aussichtslose Fragen, denn das moralische Leben gründet nicht auf moralphilosophischen Argumenten. Es entwickelt sich vielmehr in sozialen Praktiken und kulturellen Lebensformen, die nicht auf Theorien reduziert werden können. Maria-Sibylla Lotter greift auf einschlägige ethnologische Forschungen unterschiedlicher Lebensformen zurück und bringt sie mit dem moralphilosophischen Diskurs ins Gespräch. So eröffnet sich ein innovativer Zugang zu ethischen Fragen.

<p>Maria-Sibylla Lotter lehrt als Privatdozentin an der Universit&auml;t Z&uuml;rich.</p>

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Leseprobe

1. Die Frage nach der Person


Was sind Personen? Und an wen richtet sich die Frage? Für die Frage, was ein Mensch ist, ist heute die Biologie zuständig. Biologen können uns darüber aufklären, worin nach dem jetzigen Stand der Forschung die unterscheidenden Merkmale des Menschen bestehen. Aber wer ist für die Person zuständig?

Nach einer verbreiteten Auffassung muss auch diese Frage an eine spezielle Disziplin gerichtet werden, genauer: an zwei Unterdisziplinen der Philosophie, nämlich die Metaphysik und die Moralphilosophie. Metaphysiker untersuchen allgemeine Fragen des Seins, zum Beispiel, ob eine Person neben »mentalen« auch »physische« Eigenschaften hat.[2] Moralphilosophen (Ethiker und Metaethiker) befassen sich mit den Fragen, was eine Person als moralisches Wesen ausmacht, über welche moralische Grundausstattung sie verfügen muss (Rationalität, Willensfreiheit, Autonomie etc.) und mit welchen Maßstäben sie den Unterschied zwischen Richtig und Falsch, Gut und Schlecht bemisst. Während es verschiedene, teilweise inkommensurable Versionen dieser moralischen Maßstäbe gibt – die goldene Regel, der damit nicht zu verwechselnde kategorische Imperativ, das Gebot, stets das Wohlergehen der 10meisten zu fördern –, sind sich die Moralphilosophen bei aller Uneinigkeit doch einig, dass es sich jeweils um grundlegende Prinzipien handeln muss, die vielleicht nicht in allen Kulturen und historischen Epochen den Menschen bewusst waren, aber allgemeine Gültigkeit haben. Entsprechend versteht man unter der moralischen Person ein Wesen, das aufgrund seiner naturgegebenen Rationalität und Urteilskraft diese allgemeinen Prinzipien erkennt und praktisch anwenden kann. Die Arbeit des Moralphilosophen besteht dann darin, eine möglichst konsistente und kohärente Rekonstruktion der Prinzipien zu liefern, die er für richtig hält, wobei er von sogenannten Intuitionen ausgeht, die »wir« angeblich haben (jedenfalls hat sie der Moralphilosoph). »Wir«, das sind zunächst die Menschen, von denen der Moralphilosoph glaubt oder meint, erwarten zu dürfen, dass sie seine Intuitionen teilen; aber da die Ethik, wie gesagt, mehr zu sein beansprucht als lokale Semantik, leitet er aus diesen Intuitionen historisch invariante Prinzipien von universalem Anspruch ab. Nicht wenige Philosophen gehen auch heute noch ganz selbstverständlich davon aus, das Wesentliche an der moralischen Person verstehen zu können, ohne sie in ihren sozialen Lebensbezügen zu betrachten und die eigenen Annahmen in Beziehung zu dem zu setzen, was uns empirische Wissenschaften wie die Altertumswissenschaften, die Ethnologie, die Rechtswissenschaften und andere Kulturwissenschaften über wirkliche ethische Systeme und das Selbstverständnis von Personen lehren können.

Das hängt damit zusammen, dass die gegenwärtig in der universitären Philosophie etablierten analytischen und argumentativen Methoden der Bearbeitung solcher Intuitionen vor allem darauf angelegt sind, die eigenen Vorstellungen zu klären und zu präzisieren. Die Anziehungskraft, die analytische Methoden aufgrund ihrer erstaunlichen Leistungsfähigkeit in puncto Genauigkeit und Differenziertheit auf viele Philosophen ausüben, erweist sich jedoch als Nachteil, wenn man sich die Frage stellt, ob und wie weit unser moralisches Alltagsleben von diesen Vorstellungen abweicht und inwieweit sie überhaupt auf andere kulturelle Traditionen anwendbar sind. Denn analytische Methoden eignen sich weniger dafür, kulturelle Vorurteile in Zweifel zu ziehen, und sie können schwerlich einen Zugang zu dem eröffnen, was Menschen mit verschiedenem Selbstverständnis und in unterschiedlichen kulturellen 11Traditionen als Personen verbindet.[3] Hier bedürfen sie der Ergänzung durch Methoden, für die das eigene Selbstverständnis keine natürliche Grenze des Denkens darstellt. Schließlich betrachten wir nicht nur Mitglieder der »eigenen« Kultur – was auch immer wir darunter verstehen – als Personen. Menschen haben in verschiedenen Kulturen nicht nur Biologisches gemeinsam; sie deuten und organisieren ihr Leben unter Gesichtspunkten, die man in einem weiten Sinne als moralisch bezeichnen kann. Auch die Bewohner ferner Regionen, die Mitglieder anderer Religionen bis hin zu noch unbekannten, sozial abgeschiedenen Gemeinschaften irgendwo im Regenwald sind für uns Personen.

Die Überzeugung, dass Begriffe wie Person auch auf Menschen anwendbar sind, die anders leben und denken als »wir« – wo auch immer man die Grenze des kulturellen »wir« und der ihm unterstellten gemeinsamen Intuitionen ziehen möchte –, ist weder ein bloßes Erfahrungswissen, noch ergibt sie sich analytisch aus dem Begriff Mensch. Sie drückt die Bereitschaft aus, auch anders denkende und fühlende Menschen als Personen anzuerkennen, und ist somit selbst eine notwendige Bedingung der interkulturellen Kommunikation. Eine Kommunikation im eigentlichen Sinne kann nur zwischen Personen stattfinden: zwischen Menschen, die einander (mehr oder weniger) respektieren, weil sie sich als moralisch ansprechbare verantwortungsfähige Wesen – und nicht als vollkommen fremdartige, gänzlich unberechenbare Angehörige der Spezies Mensch – wahrnehmen.

Betrachtet man die normativen Eigenschaften, die Menschen einander in verschiedenen kulturellen Kontexten als Personen zuschreiben, ihre moralischen Erwartungen und Reaktionen und die Begrifflichkeiten, in denen sie ihr moralisches Leben beschreiben, treten jedoch Unterschiede zutage, die extrem fremd wirken können. Ethnologen haben das Gefühl der Fremdheit mitunter mit einer organismischen Theorie der Kulturen untermauert, der zufolge man moralische Praktiken und Begriffe überhaupt nur in ihrem speziellen kulturellen Kontext verstehen könne.[4] Einige 12haben sogar bestritten, dass man in einem interkulturellen Sinne von Personen sprechen dürfe: Was wir unter Personen verstünden, sei durch unsere Tradition bedingt und nicht über ihre Grenzen hinaus projizierbar.[5] Andere haben die Auffassung vertreten, dass Phänomene wie das Gewissen und das Schuldbewusstsein, die für uns zur moralischen Psychologie von Personen gehören, in sogenannten »Schamkulturen« kaum auftreten, die eine rein äußerliche Moral pflegten.[6] Und schon gar nicht scheinen die modernen Vorstellungen von der autonomen Person und die mit ihr verbundene Auffassung moralischer Verantwortung ohne weiteres auf andere kulturelle Kontexte und Epochen übertragbar.[7] Ähnliches gilt für das Thema Verantwortung: Je nachdem, ob man die Tiefendimension oder die Reichweite moralischer Verantwortung im Blick hat, könnte man sagen, dass erst das Christentum und das moderne westliche Denken moralische Verantwortung im eigentlichen Sinne kennt[8] – oder umgekehrt, dass das Bewusstsein der persönlichen moralischen Verantwortung mit dem modernen Weltbild zunehmend geringer wird.[9] Auch der Gedanke der einer Person gebührenden Achtung scheint für uns untrennbar mit dem Ge13danken der Gleichheit verbunden und daher auf traditionelle und hierarchische Gesellschaften nicht anwendbar.[10] Man könnte diese Liste der kulturellen Besonderheiten und speziellen Beschreibungen lange fortsetzen. Nur: Was folgt daraus? Kennen die Menschen in anderen kulturellen Kontexten weder Achtung noch moralische Verantwortung? Können – oder dürfen – wir unter einer Person im moralischen Sinne nur das verstehen, was die europäische Geistesgeschichte dazu beizutragen hat?

Nun ist die Anerkennung von Menschen als Personen, wie gesagt, nicht allein eine theoretische Angelegenheit, sondern eine Voraussetzung moralischer Beziehungen. Es ist daher allein schon aus moralischen Gründen nicht möglich, das Personsein allein auf Angehörige der »eigenen« kulturellen Tradition zu beziehen, weil durchaus nicht klar ist, was darin einzuschließen wäre und wo die Grenzen liegen. Die Ideen, die in der europäischen Tradition mit dem Personbegriff assoziiert werden, bilden nicht von selbst ein kohärentes Ganzes. Sein Anwendungsbereich – um nur ein paar Stichworte zu nennen – erstreckt sich von den göttlichen Personen der christlichen Dreieinigkeit über den individuellen Menschen hin zu Gruppen (Rechtspersonen) und schweren Körpern (»Die Last des Fahrstuhls beträgt 10 Personen«). Und seine Bedeutungen sind nicht weniger vielfältig: Meinen wir damit wie Boethius die individuelle Substanz einer vernünftigen Natur?[11] Oder wie in der römischen Tradition die soziale Rolle beziehungsweise den Rollenträger? Die christliche Seele oder das Selbstbewusstsein wie bei Locke? Schreiben wir der Person neben »mentalen« auch physische Eigenschaften zu wie Peter Strawson?[12]

Das Verstehen der eigenen Tradition ist ebenso wenig wie das Verstehen des Fremden auf Vertrautheit mit den gegebenen Bedeutungen reduzierbar, sondern verlangt eine kreative und konstruktive intellektuelle Anstrengung, die ein gewisses Bewusstsein von Fremdheit und Unverständlichkeit voraussetzt. Je besser man mit dem reichhaltigen historischen Bedeutungsspektrum des Begriffs Person bekannt ist, desto weniger wäre es möglich, ohne aktive be14griffliche Rekonstruktionen und Uminterpretationen eine konsistente und kohärente Vorstellung zu erhalten. Traditionsorientierte Philosophen wie Robert Spaemann, die einerseits den nicht kulturell begrenzten Anspruch auf Anerkennung ernst nehmen, der mit dem Personbegriff verbunden ist, aber andererseits die Auffassung vertreten, um ihn genauer zu verstehen, müssten wir sehen, wie er »zustande kam«,[13] gehen daher nicht nur historisch, sondern auch konstruktiv vor. Sie präsentieren nicht nur eine...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch3
Impressum5
Inhalt6
I Einleitung10
1. Die Frage nach der Person10
2. Fortschrittsgeschichten15
3. Gibt es einen allgemeinen Begriff der Person?19
4. Dünne und dichte Beschreibungen22
5. Die empirische Grundlage der Kritik26
II Die Quellen der Moral34
1. Personen und Imahbal34
2. Die moderne Theorie des auferlegten Gesetzes37
3. Soziale Sanktionen42
4. Externe und interne Quellen der Moral45
5. Die kantische Theorie des immanenten Gesetzes: Autonomie48
6. Normative Identität55
III Selbstbewusstsein: Die Vertreibung aus dem Paradies66
1. Selbstbewusstsein in der Tradition Lockes66
2.Scham als objektivierendes Selbstbewusstsein70
3. Die Vertreibung aus dem Paradies74
4. Der Blick des anderen78
5. Die Schutzfunktion der Scham84
6. Schluss88
IV Scham, Demütigung und das Ideal der autonomen Person90
1. Das Schamphänomen im Kontext des so genannten Zivilisationsprozesses90
2. Zur Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen94
3. Das moderne Paradox der Demütigung107
4. Die Rolle des imaginären anderen114
5. Die Bedeutung von Schamkonflikten für die moralische Entwicklung117
V Schuld und moralische Haftung124
1. Moralische Schuld124
2. Reaktive moralische Gefühle129
3. Agamemnon und die Schuldfrage137
4. Moralische Haftung und andere Formen moralischer Verantwortung ohne Vorwerfbarkeit140
5. Der diebische Mönch146
6. Der eilige Rechtsanwalt und die Frage nach der moralischen Schuld151
7. Freier Wille bei Augustinus157
8. Die aristotelische Konzeption moralischer Verantwortung161
9. Moralischer Zufall und andere moderne Probleme170
10. Kompatibilistische Versionen moralischer Verantwortung175
VI Achtung zwischen Personen182
1. Das moderne Gebot gleicher Achtung182
2. Zurückhaltung und Fürsorge als Formen der Achtung187
3. Symmetrischer Respekt als Lebensform: Fallbeispiel I190
4. Vertikale Solidarität in Altägypten: Fallbeispiel II194
5. Personalität und Gedächtnis199
6. Achtung als differenzierendes Verhalten: Fallbeispiel III201
VII Verantwortung im Kontext208
1. Die Verantwortung der individuellen Täterin und des kollektiven Sündenbocks208
2. Die Elemente der Verantwortung215
3. Die moderne Aufspaltung von Recht und Moral219
4. Haftungspraktiken aus kulturanthropologischer Perspektive227
5. Tabu und Sünde236
6. Die Verinnerlichung der Verantwortung: Das Beispiel der Ashanti238
7. Wahre moralische Verantwortung242
8. Personalität und Verantwortung aus der Perspektive des Jenseitsgerichts244
9. Zusammenfassung247
VIII Recht und Gerechtigkeit250
1. Soziale Vernunft, Recht, Gerechtigkeit250
2. Kontexte von Rechten und Pflichten256
3. Ethische Systeme und die Rechtsfigur der vernünftigen Person261
4. Zurechnung in einem pflichtorientierten System: Der Fall des vermeintlichen Inzests264
5. Das Rechts als Transformationsverfahren von individuellen Konfliktgeschichten in vernünftige Verhältnisse271
6. Wie ein Ochse zum Kalb wird: Vernunft und Gerechtigkeit in einem konsensorientierten Kontext274
7. Kreativität im Recht279
IX Zur Konstruktion von Verantwortung im Strafrecht284
1. Die Ausschließung des Opfers284
2. Das Schuldprinzip287
3. Die moralischen Aspekte der Schuld292
4. Die subjektive Interpretation: Mackies »geradlinige« Regel der Verantwortung295
5. Eine Wittgensteinsche Deutung: Die Rekonstruktion der psychischen Schuldfaktoren aus ihrer sozialen Umgebung302
6. Anders handeln können als Voraussetzung strafrechtlicher Schuld305
X Schlussfolgerungen318
Literaturverzeichnis330

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