11Erstes Kapitel:
Die Neue Verfassungsfrage
I. Krise des neuzeitlichen Konstitutionalismus?
Eine Reihe von öffentlichen Skandalen hat in den letzten Jahren die »Neue Verfassungsfrage« aufgeworfen.[1] Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, umstrittene Entscheidungen der Welthandelsorganisation, die im Namen der globalen Handelsfreiheit den Schutz von Umwelt oder Gesundheit gefährdeten, Doping im Sport, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten – sie alle werfen nicht nur politische und rechtliche Probleme der Regulierung auf, sondern Verfassungsprobleme im strengen Sinne. Im Hintergrund der Skandale geht es um die grundlegende Konstituierung gesellschaftlicher Dynamiken und nicht bloß um die Durchsetzung von Policies staatlicher Regulierung. Im Vergleich zur Verfassungsfrage des 18. und 19. Jahrhunderts stellen sich heute andersartige, aber nicht minder gravierende Probleme. Ging es damals um die Freisetzung der politischen Machtenergien des Nationalstaats und zugleich um ihre wirksame rechtsstaatliche Begrenzung, so geht es in der Neuen Verfassungsfrage darum, ganz andere gesellschaftliche Energien, besonders sichtbar in der Wirtschaft, aber auch in Wissenschaft und Technologie, in der Medizin und in den neuen Medien, freizusetzen und diese in ihren destruktiven Auswirkungen wirksam zu beschränken.[2] Heute entladen 12sich diese Energien – produktiv und destruktiv – in Sozialräumen jenseits des Nationalstaats. Die oben angesprochenen Skandale überschreiten in doppelter Weise die Grenzen des Nationalstaats. Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaats – das heißt zweierlei: Die Verfassungsprobleme stellen sich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den »privaten« Sektoren der Weltgesellschaft.
1. Nationalstaatsverfassung versus Globalverfassung
An diesen Skandalen entzündet sich heute eine Debatte, die eine Krise des neuzeitlichen Konstitutionalismus diagnostiziert und dafür die Transnationalisierung und die Privatisierung des Politischen verantwortlich macht. Man streitet um das Für und Wider eines transnationalen Konstitutionalismus, dessen Status – verfassungsrechtliche Doktrin, sozialwissenschaftliche Theorie, politisches Programm oder gesellschaftliche Utopie – ungeklärt ist. In grober Stilisierung verlaufen die Fronten der Debatte nach folgenden Linien. Die eine Seite konstatiert den Niedergang des neuzeitlichen Konstitutionalismus.[3] Seine historisch voll entwickelte Form habe er in den politischen Verfassungen des Nationalstaats gefunden. Gegenwärtig aber erodierten seine Fundamente, verursacht durch die europäische Einigung und die Entstehung transnationaler Regimes einerseits und durch die Verlagerung politischer Machtprozesse hin zu privaten Kollektivakteuren andererseits. Ersatzformen für nationale Verfassungen seien in den transnationalen Räumen nicht ersichtlich. Angesichts der chronischen Defizite transnationaler Politik – angesichts der Nichtexistenz von Demos, kultureller Homogenität, politischen Gründungsmythen, Öffentlichkeit, politischen Parteien – seien sie sogar strukturell ausgeschlossen. Dieser doppelten Krise des Konstitutionalismus lasse sich, wenn 13überhaupt, dann allenfalls über seine Re-Nationalisierung und Re-Politisierung, also dadurch begegnen, dass nationale und staatliche Verfassungsinstitutionen (nationale Verfassungsgerichte, Parlamente, Öffentlichkeit) wieder voll in ihre Rechte eingesetzt werden.
Einer solchen Verfallsgeschichte setzt die Gegenseite die Forderung entgegen, in kompensatorischer Absicht eine Verfassung für die gesamte Weltgesellschaft zu entwerfen.[4] Für die Krise des Nationalstaats werden auch hier Globalisierung und Privatisierung verantwortlich gemacht und auch hier wird eine Schwächung nationaler Verfassungsinstitutionen konstatiert. Kompensatorisch aber könne ein neuer demokratischer Konstitutionalismus dann wirken, wenn er die ungezügelten Dynamiken des globalen Kapitalismus unter die domestizierende Gewalt weltweit verfasster Politikprozesse bringe. Ein anspruchsvoll konstitutionalisiertes Völkerrecht, eine deliberierende Weltöffentlichkeit, eine institutionalisierte Weltinnenpolitik, ein transnationales Verhandlungssystem zwischen globalen Kollektivakteuren, eine konstitutionelle Restriktion gesellschaftlicher Macht in globalen Politikprozessen eröffneten vielversprechende Perspektiven, demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Institutionen in neuer Form in der Weltgesellschaft zu verwirklichen.
2. Verfassungssoziologische Impulse
Doch ist die Verfassung zu wichtig, um sie allein Verfassungsrechtlern und politischen Philosophen zu überlassen. Gegenüber beiden soll hier eine dritte Position markiert werden – durchaus keine vermittelnde Position. Sie stellt die Prämissen beider in Frage und 14formuliert die Neue Verfassungsfrage entsprechend anders. Vordringlich dürfte sein, die obstinate Staats- und Politikzentrierung beider Positionen zu überwinden. Dazu kann eine soziologische Theorie des gesellschaftlichen Konstitutionalismus beitragen, die in der Verfassungsdebatte bisher ungehört geblieben ist. Sie stützt sich auf vier verschiedene Varianten soziologischer Theorie. In erster Linie zieht sie allgemeine Theorien der sozialen Differenzierung heran, welche die innere Verfassung gesellschaftlicher Teilsysteme zum zentralen Problem machen.[5] Sie stützt sich weiter auf eine spezielle Soziologie – auf die sich neu etablierende Verfassungssoziologie[6] –, auf die Theorie des Private Government[7] und schließlich auf das Konzept des gesellschaftlichen Konstitutionalismus.[8] Eine soziologische Verfassungstheorie verspricht darüber hinaus, historisch-empirische Analysen des Verfassungsphänomens mit normativen Perspektiven zu verknüpfen.[9] »Mit ihrer Hilfe wird das Recht sensibel für die polyphone Artikulation gesellschaftlicher Autonomie, die es freilich nicht nur freizusetzen, sondern auch zu konstitutionalisieren gilt, indem in den (System-)Autonomien selbst (Umwelt-)Verantwortlichkeiten gestiftet werden.«[10]
Was macht die Verfassungssoziologie anders? Sie wirft die Ver15fassungsfrage nicht nur im Verhältnis von Politik und Recht auf, sondern stellt sie für alle Bereiche der Gesellschaft:
Die These, dass heutige Gesellschaften eine informelle Verfassungsordnung kennen, die weder normativ noch faktisch auf den Staat fixiert ist und die multivalente und hierarchisch gegliederte Rechtsstrukturen aufweist, nimmt eine Schlüsselstellung im Vermächtnis des ursprünglichen soziologischen Projektes ein, nämlich eine komplexe, nicht-naturalistische und postontologische Konzeption der Gesellschaft und ihrer Normen zu entwickeln.[11]
Damit verändert sie die Problemstellung grundlegend. Nicht nur für die Staatenwelt der internationalen Politik und für das Völkerrecht stellt sie die Frage ihrer Konstitutionalisierung, sondern gerade auch für andere autonome Teilsysteme der Weltgesellschaft, allen voran für die globale Wirtschaft, aber auch für Wissenschaft und Technologie, für das Erziehungssystem, die Neuen Medien, das Gesundheitswesen. Besitzt ein gesellschaftlicher Konstitutionalismus das Potenzial, über die Begrenzung der Expansionstendenzen des politischen Systems hinaus die heute nicht minder problematischen Expansionstendenzen zahlreicher gesellschaftlicher Teilsysteme, welche die individuelle und institutionelle Integrität gefährden, einzudämmen? Können Verfassungen zentrifugale Dynamiken der Teilsysteme in der Weltgesellschaft wirksam bekämpfen und dadurch zur gesellschaftlichen Integration – ganz anders als im klassischen Verständnis der Integration durch Verfassung – beitragen? Für diese Fragen, die sich angesichts der Globalisierungs- und Privatisierungstendenzen mit neuer Dringlichkeit stellen, können die genannten soziologischen Theorien Impulse geben.[12] Sie stellen grundlegende Annahmen der bisherigen Debatte 16über transnationale Verfassungen in Frage, ersetzen sie durch andere Annahmen, identifizieren damit neuartige Problemstellungen und legen andersartige praktische Konsequenzen nahe.[13]
17Welche sind die fragwürdigen Prämissen, die den Streit um den transnationalen Konstitutionalismus in eine falsche Richtung treiben? Durch welche Annahmen sind sie zu ersetzen?
18II. Fragwürdige Prämissen
1. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus als genuines Problem der Globalisierung?
Die unkontrollierbare Dynamik globaler Kapitalmärkte, die offensichtliche Macht transnationaler Unternehmen und die Dominanz nicht-legitimierter »Experten« in weitgehend rechtsfreien Epistemic Communities verleiten Anhänger wie Gegner eines transnationalen Konstitutionalismus zu der irrigen Annahme, dass das konstitutionelle Defizit transnationaler Institutionen im Wesentlichen auf die Globalisierung zurückzuführen sei.[14] Man macht die typische Schwäche internationaler Politik für die zügellose Chaotik in den globalen Sozialräumen verantwortlich. Drei Phänomene stehen hierbei im Vordergrund: (1) Die De-Konstitutionalisierung des Nationalstaats wird dadurch ausgelöst, dass Regierungsfunktionen auf die...