14Einleitung
Eine einflußreiche Doktrin der neuzeitlichen Philosophie besagt, daß Personen über einen epistemischen Zugang zu ihrer Innenwelt, zu ihrem Geist oder – wie es manchmal auch heißt – zu ihrem Selbst verfügen, der sich fundamental von der Art und Weise unterscheidet, in der ihnen der Rest der Welt, die Außenwelt, epistemisch verfügbar ist. Dieser besondere Zugang, den eine Person zu ihrer Innenwelt, zu ihrem Geist bzw. zu ihrem Selbst genießt, wird gemeinhin als Introspektion bezeichnet und für eine besondere, nach innen gerichtete Form der Wahrnehmung gehalten.
Die Introspektion gilt traditionell als eine besonders zuverlässige Quelle des Wissens. Die Wahrnehmungen, die sie hervorbringt, so heißt es, geben die Vorgänge in unserer Innenwelt exakt so wieder, wie sie tatsächlich vor sich gehen. Außerdem, so heißt es weiter, können wir nicht umhin, uns dieser Vorgänge introspektiv bewußt zu sein. Kurz: Der epistemische Zugang, den eine Person zu ihrem eigenen Geist habe, sei täuschungsimmun und allgegenwärtig. Im Lichte dieser Merkmale erscheint die Introspektion unserem epistemischen Zugang zur Außenwelt überlegen. Denn zum einen können wir uns hinsichtlich dessen, was in der Außenwelt vor sich geht, täuschen. Und zum anderen passieren in der Außenwelt ständig Dinge, von denen wir keine Kenntnis nehmen.
Die traditionelle Erklärung für diesen Kontrast besteht darin, daß unser epistemischer Zugang zur Außenwelt von den Erscheinungen abhängt, die ihre Bewohner, die materiellen Gegenstände, durch Einwirkungen auf unsere Sinnesorgane erzeugen. Da unsere Sinnesorgane, wie wir wissen, anfällig für Störungen sind, kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Erscheinungen, mit denen wir hantieren, nicht mit der Außenwelt übereinstimmen. Unser epistemischer Zugang zur Innenwelt hingegen beruht nicht auf Erscheinungen. Denn sie ist ja nichts anderes als die Gesamtheit aller Erscheinungen. Unsere Innenwelt kann uns daher nicht wiederum durch andere Erscheinungen, Erscheinungen zweiter Stufe, gegeben sein – sie muß uns in einer unmittelbaren Weise, sozusagen leibhaftig, bewußt sein. Doch wenn uns die Innenwelt nicht vermittels Erscheinungen gegeben ist, gibt es keinen Raum für Irrtü15mer. Der Unterschied zwischen Erscheinung und Wirklichkeit ist hier aufgehoben: Die Wirklichkeit der Innenwelt erschöpft sich in ihrem Erscheinen.
Diese Überlegung soll nicht nur erklären, warum der epistemische Zugang zu unserer Innenwelt dem epistemischen Zugang zur Außenwelt überlegen ist; sie legt zudem nahe, daß zwischen den beiden epistemischen Zugängen ein asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis besteht. Auf der einen Seite scheint zu gelten, daß wir epistemischen Zugang zu unserer Innenwelt haben müssen, um etwas über die Außenwelt in Erfahrung bringen zu können. Denn um wissen zu können, was in der Außenwelt vor sich geht, müssen wir zunächst Klarheit darüber gewinnen, welche Erscheinungen in uns sind. Und diese Information liefert uns die Introspektion. Auf der anderen Seite scheint zu gelten, daß wir nicht unbedingt epistemischen Zugang zur Außenwelt haben müssen, um etwas über unsere Innenwelt herausfinden zu können. Um zu wissen, welche Erscheinungen in uns sind, ist es nicht notwendig, in Erfahrung zu bringen, wie die Außenwelt beschaffen ist. Wir wären selbst dann in der Lage zu wissen, welche Erscheinungen gegenwärtig unseren Geist erfüllen, wenn wir alles, was wir über die Außenwelt zu wissen glauben, einklammern würden. Das ist zumindest die Pointe der cartesianischen Cogito-Überlegung und der Kerngedanke der von Husserl propagierten phänomenologischen Reduktion.[1] Die Erkenntnis der Außenwelt beruht zwar auf der Erkenntnis der Innenwelt, aber die Erkenntnis der Innenwelt beruht nicht wiederum auf der Erkenntnis der Außenwelt. Der epistemische Zugang zur Außenwelt ist, so könnte man vielleicht sagen, heteronom, der epistemische Zugang zur Innenwelt dagegen autonom.
Die traditionelle Gegenüberstellung zwischen der Introspektion und unserer Außenwelterkenntnis ist im Laufe der Philosophiegeschichte einer eingehenden Kritik unterzogen worden. Man kann sagen, daß die Position, die ich soeben skizziert habe, heutzutage niemand mehr unterschreiben würde. Eines der wichtigsten Motive für die Kritik an der traditionellen Auffassung liegt darin, daß sie Öl ins Feuer des Leib-Seele-Problems gießt. Wenn sich der Zugang 16zu unserem Geist wirklich so fundamental von unserem Zugang zur Außenwelt unterscheiden würde, läge die Vermutung nahe, daß Personen einen Kern in sich tragen, der sich von seiner Substanz her von allem unterscheidet, was wir ansonsten in der Natur antreffen.[2]
Die traditionelle Auffassung führt jedoch nicht nur zu einer Verschärfung des Leib-Seele-Problems – sie ist auch für eine Reihe von Skeptizismen verantwortlich. Sie begünstigt beispielsweise Zweifel an der Existenz des Fremdpsychischen. Der traditionellen Konzeption gemäß hat zwar jede Person einen unmittelbaren Zugang zu den Vorgängen innerhalb ihres Geistes – die Vorgänge im Geiste anderer Personen hingegen können nur mittelbar, durch Beobachtungen ihrer Handlungen und Äußerungen, erkannt werden. Es stellt sich daher die Frage, woher wir eigentlich das Recht nehmen zu glauben, daß die anderen einen Geist haben. Denn alles, was wir im Grunde über die anderen wissen können, ist, daß sie sich so bewegen und so sprechen, als ob sie einen Geist besäßen.[3]
Ein weiteres Problem, das durch die traditionelle Auffassung forciert wird, ist der erkenntnistheoretische Skeptizismus. Wenn die Resultate der Introspektion wirklich einen so hohen Grad an epistemischer Dignität besitzen, dann drängt sich die Frage auf, mit welchem Recht wir unsere Meinungen über die Außenwelt überhaupt als Kandidaten für Wissen in Betracht ziehen. Gewißheit, so könnte man sagen, besitzen wir lediglich bezüglich unseres eigenen Geistes. Im Vergleich dazu erscheinen unsere Meinungen über die Außenwelt als bloße Vermutungen.
Durch die Verschärfung des Leib-Seele-Problems, die Begünstigung des Problems des Fremdpsychischen sowie die Forcierung des erkenntnistheoretischen Skeptizismus bereitet die traditionelle Auffassung schließlich den Nährboden für eine idealistische Ontologie. Denn es scheint verlockend zu sein, sich all dieser Probleme zu entledigen, indem wir annehmen, wie es etwa Berkeley getan hat, daß die Außenwelt in Wirklichkeit nichts weiter ist als ein kompliziertes Geflecht von Erscheinungen – gewissermaßen eine Ausstülpung unserer Innenwelt.
Die Mehrheit der zeitgenössischen Philosophen findet diese Art 17von Ontologie zu Recht anstößig. Denn sie läuft derjenigen Intuition zuwider, die wir natürlicherweise über uns und den Rest der Welt haben. Es ist daher kein Wunder, daß im Zuge der Entwicklung der modernen Philosophie von der ursprünglichen Konzeption der Introspektion kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Die Thesen der Täuschungsimmunität und der Allgegenwärtigkeit finden heute so gut wie keinen Abnehmer mehr.[4] Und auch die These der Heteronomie unseres epistemischen Zugangs zur Außenwelt, das heißt die Auffassung, daß wir, um etwas über die Beschaffenheit der Außenwelt in Erfahrung bringen zu können, zunächst wissen müssen, welche Erscheinungen unsere Innenwelt bevölkern, ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.[5]
Die These der Autonomie hingegen, also die Auffassung, daß wir selbst dann von den Vorgängen in unserer Innenwelt Kenntnis nehmen könnten, wenn uns der epistemische Zugang zur Außenwelt verschlossen bliebe, scheint die Kritik an der traditionellen Konzeption der Introspektion relativ glimpflich überstanden zu haben. Wilfrid Sellars hatte zwar mit Recht darauf hingewiesen, daß ich, um wissen zu können, daß ich mich jetzt in einem geistigen Zustand eines bestimmten Typs befinde, zumindest über diejenigen Begriffe verfügen muß, mit deren Hilfe sich Zustände dieses Typs angemessen beschreiben lassen.[6] Da es sich bei derartigen Begriffen größtenteils um gewöhnliche Begriffe für Gegenstände in der Außenwelt handelt, muß ich, um in den Besitz dieser Begriffe gekommen zu sein, einen Lernprozeß durchschritten haben, in dessen Verlauf ich epistemischen Zugang zu Gegenständen in der 18Außenwelt hatte. In diesem Sinne ist die traditionelle Autonomiethese sicherlich falsch.
In einem anderen Sinne scheint sie jedoch recht zu behalten. Selbst wenn man zugesteht, daß wir die Begriffe, die wir benutzen, um unsere geistigen Zustände zu beschreiben, nicht besitzen könnten, wenn wir niemals epistemischen Kontakt mit der Außenwelt gehabt hätten, hält uns nichts davon ab, weiterhin zu behaupten, daß ich, wenn ich wissen will, was jetzt in meinem Geist vor sich geht, das gegenwärtige Geschehen in der Außenwelt getrost außer acht lassen darf – ja, außer acht lassen muß. Denn um etwas über meine Innenwelt erfahren zu können, muß ich meine Aufmerksamkeit auf meinen eigenen Geist richten. Und mein eigener Geist ist kein Gegenstand wie alle anderen, den wir irgendwo in der Außenwelt antreffen könnten.
Die Tatsache, daß dieser Gedanke die zeitgenössische Kritik weitgehend unbeschadet überstanden hat, zeigt sich vor allem darin, daß die altehrwürdige Vorstellung eines inneren Sinns, mit dessen Hilfe wir die Geschehnisse in unserer Innenwelt beobachten, bis heute überlebt hat. Das prominenteste Beispiel eines Befürworters dieser Idee ist David Armstrong:
Durch die Sinneswahrnehmung...