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E-Book

Nach 1945

Latenz als Ursprung der Gegenwart

AutorHans Ulrich Gumbrecht
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783518777909
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR

Die Atombombe und der Kalte Krieg, aber auch die Währungsreform und das Wunder von Bern kennzeichnen eine Epoche, in der die Vergangenheit unaussprechbar schien und die Zukunft bedrohlich. Das Gefühl, in einer Zeit ohne Ein- und Ausgang, ohne Richtung und ohne Schutz zu leben, beschreibt Hans Ulrich Gumbrecht in seinem neuen Buch als zentral für die Stimmung nach 1945: Er nennt es Latenz.
In diesem Panorama der Nachkriegszeit begegnen wir nicht nur Beckett, Heidegger oder Camus, sondern auch einem Kind, das 1948 in einer zerbombten deutschen Stadt zur Welt kommt. Gumbrecht experimentiert mit einer Form der Darstellung, die persönliche Erinnerungen in Spannung zur Weltgeschichte setzt. Auf diese Weise gelingt es ihm, zu erklären, warum jene Epoche unser Leben bis heute prägt. Nach 1945 ist eine Genealogie der Gegenwart, die mit Präzision und Blick für große Zusammenhänge erklärt, wie wir wurden, was wir sind. Damit löst der Autor einmal mehr den Anspruch ein, zu den weltweit bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit zu gehören.



<p>Hans Ulrich Gumbrecht wurde 1948 in Würzburg geboren. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca (Spanien) und Pavia (Italien). Nach seiner Habilitation 1974 war er von 1975-1982 Professor in Bochum und von 1983-1989 an der Universität in Siegen. Von 1989 bis 2018 hatte er den Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University inne. Gegenwärtig ist er ständiger Gastprofessor an der Université de Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2015 den Kulturpreis der Stadt Würzburg.</p>

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Leseprobe

1
Auftauchen von Latenz?
Der Beginn einer Generation

Der 15. Juni 1948 war ein heller und schwüler Dienstag in Bayern. Was aus Deutschland werden sollte, erschien vollkommen unklar, während die Vergangenheit als unmittelbare, aber kaum jemals angesprochene Bürde auf dem Land lastete. Niemand schien zu ahnen – und nur wenige schien es überhaupt zu interessieren –, dass eine Woche später die Zukunft entschieden sein würde. Die Titelseite der Süddeutschen Zeitung unterschied sich nicht sonderlich von der heutigen – mit Ausnahme der Schwarz-Weiß-Fotografie (die den in Deutschland geborenen und zum US-Staatsbürger gewordenen Schriftsteller Carl Zuckmayer mit Frau und Tochter zeigte) und des Preises, der damals 20 Pfennig pro Stück betrug. Fünf Texte auf der oberen Hälfte der Seite brachten die nicht nur für Deutschland wesentlichen politischen Bedingungen des Augenblicks zusammen, und sie taten dies auf seltsam distanzierte Weise. So wurde berichtet, dass sämtliche Vorbereitungen für die anstehende Währungsreform innerhalb der drei von den westlichen Alliierten besetzten Zonen nun getroffen seien und die Bekanntgabe eines genauen Zeitpunkts für die Durchführung der Geldneuordnung ausschließlich von den Besatzungsmächten abhänge. Ein anderer Text berichtete über eine Wahlrede des amerikanischen Präsidenten Truman in Berkeley, Kalifornien, in der dieser an die Sowjetunion appelliert hatte, sich den konstruktiven Bemühungen um die Sicherung einer demokratischen und vereinten Zukunft Deutschlands nicht zu entziehen (aller Wahrscheinlichkeit nach waren die westlichen Siegermächte ebenso wie die Sowjetunion für eine Teilung Deutschlands, auch wenn sie sich aus Gründen der politischen Legitimation gegenseitig die Schuld zuschieben mussten). Zwei Kurzmeldungen behandelten das Zögern des französischen Parlaments bei der Ratifizierung der ersten politischen Schritte zur Schaffung eines westdeutschen Staates, auf die sich die drei westlichen Siegermächte zusammen mit Holland, Belgien und Luxemburg 13 Tage zuvor bei einem Gipfel in London verständigt hatten. Schließlich wurde noch der amerikanische Militärgouverneur, General Clay, zitiert, der auf einer Pressekonferenz versichert hatte, die USA würden jede mögliche Anstrengung unternehmen, »eine ostdeutsche Vertretung« in den neuen Staat mit einzubeziehen. Vier dieser fünf Texte waren in dem für Nachrichtenagenturen typischen neutralen Stil gehalten (tatsächlich stammten sie von AP, Dena-Reuter beziehungsweise UP); der eine Artikel aber, den die SZ-Redaktion selbst verfasst hatte, war, obwohl es darin um die wahrhaft existenzielle Frage der unmittelbar bevorstehenden Wirtschaftreform ging, wahrscheinlich der nüchternste von allen.

Nur zwei Artikel auf der Titelseite schlugen einen lebhafteren, stellenweise sogar aggressiven Ton an, obwohl sie Themen berührten, bei denen eigentlich mehr Takt und Zurückhaltung von deutscher Seite geboten gewesen wären. Einer davon war das heute immer noch beliebte »Streiflicht« in der linken Spalte des Titelblattes. In dieser Kolumne wurde am 15. Juni 1948 die weltpolitische Strategie der Vereinigten Staaten kritisiert, insbesondere deren Unterstützung des genau einen Monat und einen Tag zuvor im ehemaligen britischen Mandatsgebiet gegründeten jüdischen Staates durch eine Fremdenlegion, deren Gründung der Senat gerade erst zugestimmt hatte. Mit ungeniert antisemitischem Unterton machte sich das »Streiflicht« unter dem Banner des Pazifismus über 64 nichtjüdische Deutsche lustig, die sich freiwillig gemeldet hatten, um für die neue jüdische Sache zu kämpfen, aber von den israelischen Behörden abgelehnt wurden: »[W]enn wir [Deutschen] auf diese Weise einer permanent militanten Schicht im Volke ledig würden, so könnten wir uns nichts Besseres wünschen.«1 Die ausführlichste, enthusiastischste und selbstgefälligste Berichterstattung galt jedoch der »zweiten internationalen Jugendkundgebung«, die mit 1400 Teilnehmern aus 21 Ländern in München stattfand. Unter den Ehrengästen waren auch 30 ehemalige deutsche Kriegsgefangene, die zu diesem Anlass von den französischen Behörden entlassen worden waren. Carl Zuckmayer erntete tosenden Applaus für sein Bekenntnis, die deutsche Jugend könne nicht für das verantwortlich gemacht werden, was während des jüngsten Kapitels der deutschen Geschichte geschehen sei. Für den folgenden Tag wurde die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität München an den französischen Schriftsteller Jules Romains angekündigt, die im Rahmen der »Kundgebung« nach allen Regeln der akademischen Etikette erfolgen sollte. Überraschenderweise war, wenn auch verspätet, sogar eine Abordnung aus Spanien angereist, aus einem Land also, das in der politischen Nachkriegsordnung vollkommen isoliert dastand, weil seine Militärregierung offiziell mit Hitler verbündet gewesen war. Diese Delegation wurde ganz besonders warmherzig begrüßt.

Die in München versammelte internationale Jugend sprach, wie das Blatt vermeldete, »mit Achtung« von »ihren deutschen Freunden«, sie wünsche sich »gute Nachbarschaft« mit ihnen und sei sogar »stark beeindruckt von den deutschen Lebensmittelrationen, die in der Zeltstadt ausgegeben wurden«, gewesen.2 Wo und unter welchen Bedingungen man an Lebensmittel kam, war eine Hauptsorge der Süddeutschen Zeitung und ihrer Leser. Ein langer Artikel auf der dritten von insgesamt vier Seiten der Ausgabe vom 15. Juni 1948 widmete sich der gesetzlich geregelten Möglichkeit des Erwerbs von Fleisch aus Notschlachtungen kranker Tiere (»Freibank«) und berichtete von den über 3000 Menschen, die in einer Schlange anstehend auf ebendiese Möglichkeit warteten. Ähnlich wie die Nahrung wurde auch die Kultur vom Standpunkt der Versorgung und der Menge aus betrachtet. Unter der Überschrift »Kabarett-Hochflut in München« wurden drei politische Kabarettprogramme besprochen, daneben zahlreiche Neuinszenierungen klassischer Dramen wie etwa von Lope de Vega oder dem damals allgegenwärtigen Henry de Montherlant (unter allen Kulturen genoss die französische in Deutschland wie auch schon vor 1933 zweifellos das höchste Ansehen). Darüber hinaus gab es einen Bericht über eine von General Clay im Haus der Kunst eröffnete Renaissance-Ausstellung mit Gemälden alter Meister, die dem Land Bayern von den amerikanischen Behörden zurückgegeben worden waren.

Selbst für eine Zeitung von nur vier Seiten fiel der Sportteil relativ klein aus, zumindest wenn man ihn mit den heutigen vergleicht. Den Aufmacher bildete das Programm eines Boxwettkampfs (Faustkampf muss damals die beliebteste Sportart in Deutschland gewesen sein) zwischen den Städten Zürich und München, der als großzügige Geste der Schweizer gewertet wurde, um den Bann des Ausschlusses deutscher Athleten von internationalen Sportveranstaltungen zu brechen. Die Fußballberichterstattung klang dagegen seltsam elegisch: »Waldhof konnte trotz reiferer Spielart kein Tor schießen, 1860 eines. Das soll für den Glauben genügen, daß sich auch die Stürmer einmal wieder finden werden, die […] etliches vermissen ließen.«3 Die ganze untere Hälfte der Seite war mit Stellenanzeigen gefüllt: Gesucht wurden vor allem Männer und Frauen mit Fähigkeiten im kaufmännischen Bereich, der Verwaltung oder mit Schreibmaschinenkenntnissen sowie auch »Mädchen« als Hausangestellte (»Alleinmädchen«). Arbeitsgesuche gab es an jenem Tag keine.

Ein Leser ohne Zusatzwissen über den lokalen und historischen Kontext könnte sich unmöglich vorstellen, dass die Süddeutsche vom 15. Juni 1948 in einer Stadt geschrieben, gedruckt und vertrieben wurde, deren Innenstadtbereiche infolge der Luftangriffe nach wie vor völlig verwüstet waren; noch dazu in einer Stadt, welche die offizielle Heimat der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gewesen war, der Partei Adolf Hitlers und Heinrich Himmlers, die Verbrechen von beispielloser technischer Perfektion über die Menschheit gebracht hatte. Noch schwieriger wäre es für diesen Durchschnittsleser, Hinweise auf die wahrlich wundersame (mehr als nur »dramatische«) Wende zu finden, vor der die Stadt München und das ganze Land standen. Es scheint, als seien die Menschen, die den Krieg überlebt hatten, auch in ihrem neuen, friedlichen Alltag noch so sehr mit dem Überleben beschäftigt gewesen, dass sie ihre jüngsten Errungenschaften gar nicht richtig schätzen konnten und erst recht nicht in der Lage waren, ihre eigene Blindheit zu ermessen. Umschlossen von den Schrecken der Vergangenheit und den Erfolgen der Zukunft mag sich das Leben an jenem Spätfrühlingstag ähnlich flach und fast absichtsvoll »normal« angefühlt haben wie manche Musikstücke, die im American Forces Network gespielt wurden, beispielsweise Benny Goodmans Version von »On a Slow Boat to China«, das sich Ende 1948 zu einem Dauerbrenner entwickelte.

 

Die Ausgabe des neuen Geldes, der Deutschen Mark, begann am 20. Juni...

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