441. Das clandestine Prekariat
Ein nach strukturellen Merkmalen prekäres Beschäftigungsverhältnis konstituiert eine erwerbsbiographische Problemlage, die mehr oder minder aktiv bearbeitet und bewertet wird.1
Robert Castel und Klaus Dörre
Prekäre Biographien
Im Mai 1719, kurze Zeit nach der Frankfurter Frühjahrsmesse, riß sich Theodor Ludwig Lau die Pulsadern auf.2 Er war in die Stadt gekommen, weil er nochmals ein Buch hatte drucken lassen wollen. Das war riskant, denn er hatte seit 1717 Stadtverbot, als er schon einmal in Frankfurt heimlich ein freidenkerisches Werk veröffentlicht hatte, die Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, Homine. Darin fügte er auf aphoristische Weise alles zusammen, was es an neuerer radikaler Literatur auf dem Markt gab: Spinoza und Vanini, Hobbes und Locke, Beverland und Toland.3 Lau war offensichtlich der Meinung, daß es an der Zeit war, solche Gedanken auch in Deutschland zu diskutieren. Das Buch von 1717 war sofort konfisziert worden. Daher wollte er nun, 1719, gewissermaßen nachlegen, wollte das Recht auf freie Publikation verteidigen und seinen Ansichten nochmals Nachdruck verleihen. Also mußte er ein weiteres Mal nach Frankfurt kommen, mußte ein weiteres Mal den riskanten Weg antreten. Immerhin galt die Messefreiheit, denn an den Tagen um die Messe herum durfte kein Messebesucher gerichtlich belangt werden.4 Daher nahm Lau das Risiko auf sich; außerdem kam er im Habit eines preußischen Rates. Doch irgend etwas lief schief. Lau wurde erkannt, die Messefreiheit wurde ignoriert, er verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Nun nahm er eine Zange, die er fand oder die man ihm abzunehmen vergessen hatte, setzte sie an, und riß sich die Pulsadern auf.
Das ist eine prekäre Existenz am Rand der frühneuzeitlichen 45Gesellschaft im »politischen«, im »galanten«, im »frühaufklärerischen« Zeitalter.5 Ich könnte mehrere ähnliche Schicksale erzählen – und will es auch tun, um eine gewisse Grundlage für weitergehende Fragen zu erhalten, die das betreffen, was ich »clandestines Prekariat« nennen will, und die sich in drei Stufen stellen lassen. Die erste betrifft prekäre Biographien, die zweite prekäres Sprechen und die dritte prekäres Wissen.
Clandestines Prekariat – das sind Intellektuelle, die heimlich geschrieben haben, heimlich ihre Texte in Manuskriptform verbreitet (oder auch in der Schublade belassen) oder, wenn sie sie haben drucken lassen, anonym und pseudonym publiziert haben.6 Der Grund für diese Heimlichkeit lag im Inhalt dessen, was sie zu sagen hatten: politische Kritik in extremer Form, Kritik an der Religion, Mißachtung dessen, was als sittlich und anständig galt.7 Der Grund für den Status als Prekariat lag in der sozialen Unsicherheit, die fast zwangsläufig die Folge der clandestinen Tätigkeit war. Wenn die Intellektuellen als Autoren ihrer Texte identifiziert wurden, begann meist ein langer und erbarmungsloser Abstieg ins Außenseitertum. Lau, der seinen Selbstmordversuch von 1719 überlebte, hat danach immer wieder versucht, gesellschaftlich Fuß zu fassen, hat sich bemüht, in Erfurt und dann in Königsberg einen Einstieg in die Universitätslaufbahn zu finden, doch immer lief ihm die Denunziation als Spinozist voraus, die man in Kompendien des Typus historia atheismi lesen konnte.8 Am Ende sieht man Lau im Asyl in Altona, völlig verarmt und psychisch schwer angeschlagen.9
Doch nicht das Ende prekärer Existenzen soll uns hier beschäftigen, sondern eher ihr Anfang. Und ich bin weit davon entfernt, Sozialromantik zu betreiben, die Radikalaufklärer im Rahmen einer »Whig-History« als Vorläufer der Moderne zu heroisieren.10 Gesucht ist eher eine adäquate Beschreibung des prekären Status solcher sogenannter Radikalaufklärer, die nicht nur der sozialen Lage, sondern im Verbund mit ihr der intellektuellen Situation, der Sprech- und Kommunikationsweisen dieser Personen gerecht wird. »Prekär« soll in seiner 46ganzen Bedeutungsbreite verstanden werden, also nicht nur als unsicher und mißlich, sondern auch – von seinem Ursprung im römischen Recht her – als jederzeit widerrufbar.11
1719 war Lau in einer Phase, die man mit Roger Chartier als »die Zeit, um zu begreifen« bezeichnen kann.12 Er war seit 1711 arbeitslos. Er hatte bei Christian Thomasius studiert, war lange Zeit auf Bildungsreise gewesen – sechs Jahre lang – und hatte dann vielversprechend eine Karriere als Staatsrat und Kabinettsdirektor des jungen Herzogs von Kurland, Friedrich Wilhelm, begonnen. Bis dieser 1711 starb. Danach: keine Neuanstellung mehr, nur schriftstellerische Tätigkeit, kameralistisch, um sich zu bewerben, philosophisch, um seine Ansichten kundzutun. Es gab zu viele gut ausgebildete Juristen, die in die Ämter der Territorialverwaltungen drängten.
Die zu hohen Studentenzahlen im Reich in den Jahren zwischen 1690 und 1710 fallen mit der Zeit zusammen, die man die Frühaufklärung nennt.13 Es wäre natürlich naiv zu behaupten, die deutsche Frühaufklärung wäre aufgrund einer Studentenschwemme entstanden. Eine ähnliche Korrelation von Radikalisierung und »alienated intellectuals« hat 1962 Mark H. Curtis in seinem klassischen Aufsatz The Alienated Intellectuals of Early Stuart England behauptet.14 Aus den frustrierten und entfremdeten Gelehrten, die keine angemessen bezahlten Stellen bekommen hatten, hätte sich die Trägerschicht des späteren Puritanismus und Republikanismus herausgebildet. Aber diese Korrelation ist problematisch. Für die deutschen Verhältnisse muß man überdies sagen: Es hat keine Revolution im frühen oder mittleren 18. Jahrhundert gegeben, die Verhältnisse waren leidlich stabil, es gab nur vereinzelte Radikale – wenn auch eine recht breite Schicht liberaler Aufklärer, die allerdings mit dem Fürstenstaat paktiert haben. Man denke an all die Thomasianer und Wolffianer, die in den Jahren von 1700 bis 1750 in staatliche Positionen strebten.15
Die eigentliche Problematik der Stundentenschwemme, die von Curtis’ Ansatz eher verdeckt wird, hat hingegen Roger Chartier vor dem Hintergrund der Soziologie Bourdieus auf47gezeigt.16 Sinnvoll ist seiner Ansicht nach nicht eine marxistische Vorstellung von unmittelbaren ideologischen Auswirkungen prekärer Positionen, wie sie Curtis vertritt, sondern eine vermittelte Sicht: Die Stellen, die die Intellektuellen besetzen, die Titel, die sie auf den Universitäten erwerben, werden durch den Massenandrang entwertet, ihr kulturelles Kapital wird abgewertet. Diese Abwertung wird eine Zeitlang gesellschaftlich verkannt. Immer noch streben massenweise junge Leute auf die Universitäten, wollen ihren Doktor machen und Jurist am Hof werden. Doch irgendwann wird das Mißverhältnis zwischen Titel und faktischen Stellen wahrgenommen. Dann bilden sich Umstellungsstrategien heraus, mit denen die Absolventen versuchen, auf die neue Lage zu reagieren und beispielsweise mit ihren traditionellen Ausbildungen in neue Berufe und andere Positionen auszuweichen.17 Es sind diese Strategien, so Chartier, die den gesellschaftlichen Raum verändern, nicht einfach eine direkte Reaktion von »Entfremdung« und Frustration.
Erstaunlicherweise haben manche deutsche Frühaufklärer bereits in den Jahren um 1700 genau diesen Mechanismus durchschaut. Tausende von Studenten, vor allem Juristen, waren seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in die neuen Positionen der Bürokratien der sich ausbildenden absolutistischen Regierungen der Kleinstaaten auf deutschen Territorien geströmt.18 Doch um 1700 hatte sich eine Blase gebildet – es strömten zu viele. So schreibt Gabriel Wagner, ein unbequemer Geist, der Christian Thomasius noch links überholen wollte: »Was sollen die hohen Herren aber heute erstreben, wenn sie die wahren Adligen bei uns nicht mehr hochhalten, eben wegen der zahllosen Menge der Graduierten.«19 Damit will er sagen: Durch den Akademikerüberschuß und die Inflation der Titel ist das Ansehen dieser Titel gesunken. Dieses Sinken betrifft aber auch die »echten« Akademiker, die Akademiker hoher Qualität, von Wagner als die »wahren Adligen« bezeichnet, eingedenk der seit Dante einschlägigen Debatte de vera nobilitate, über den wahren Adel des Geistes.20 48Wenn aber das Ansehen der wirklichen Geistesarbeit durch die universitäre Überfüllung ebenfalls sinkt, dann werden sich, so prophezeit Wagner, die Adeligen und Fürsten auch nicht mehr am Ideal der akademischen Bildung orientieren, sie werden keine Intellektuellen mehr an ihre Höfe holen und unterstützen. Wagner reflektiert also die möglichen Strategieumstellungen im Adel und deren Auswirkungen auf die bürgerlichen Gelehrten und Wissenschaftler, denen es dann an Förderung mangelt.
Nun hat Chartier die Phase zwischen der faktischen personellen Inflation am akademischen Markt und dem Reagieren der Intellektuellen auf die neue Lage »die Zeit zu...