372. Erbe und Verwandtschaft
Kulturen der Übertragung im Mittelalter
Bernhard Jussen[1]
Wo Denkformen und Praktiken der Übertragung zwischen Generationen diskutiert werden, da tauchen Familie und Verwandtschaft stets (und nicht ganz zu Unrecht) als so etwas wie natürliche Referenzpunkte auf. Moderne Konzeptionen von Erbe verstärken diese reflexartige Assoziation. Aus einer kulturanthropologischen Sicht allerdings verdecken solche Reflexe mehr, als sie erklären. Denn insbesondere vormoderne Gesellschaften haben sehr verschiedene Lösungen für die Frage gefunden, ob und wie Formen der Übertragung zwischen Generationen mit den Strukturen von Familie und Verwandtschaft zusammenhängen. Die jeweilige Korrelation ist mithin ein Gegenstand der historischen, kulturanthropologischen oder soziologischen Forschung. Exemplarisch wird dies im Folgenden mit Blick auf das lateinische Mittelalter skizziert.
Dabei ist zweierlei in den Blick zu nehmen: Zum einen funktioniert das Zusammenspiel von Ehe, Familie und Verwandtschaft in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten verschieden. Zum anderen müssen von einer Generation zur nächsten eine Vielzahl von ›Erbschaften‹ weitergegeben werden, deren Übertragungen nicht notwendigerweise nach den gleichen Prinzipien organisiert sind: Neben der Übertragung von Eigentumsrechten und biologischen Übertragungen (wie immer eine Kultur sich diese vorstellt) ist zum Beispiel Wissen zu übertragen, vom Alltagswissen bis zum gelehrten Wissen, ferner familialer und sozialer Status, aber auch Pflichten, etwa jene der Totensorge. Die ethnologische und his38torische Forschung befasst sich seit Generationen mit der Frage, wie diese Übertragungen in verschiedenen Kulturen organisiert wurden, und sie hat dabei ihre Interessen, Deutungsmodelle und Großerzählungen immer wieder verändert. Das folgende Kapitel beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die Forschungstraditionen (2.1), bilanziert dann den Stand der Diskussionen zu zentralen Institutionen intergenerationeller Übertragung, anhand deren sich Verwandtschaftssysteme vergleichen lassen (2.2), sowie zu der Frage nach den Besonderheiten des lateinischen Verwandtschaftssystems (2.3). Im letzten Teil werden Perspektiven für die künftige Forschung skizziert (2.4).
2.1 Traditionen und Kontroversen der Forschung
Als kulturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand ist Verwandtschaft (a) ein begriffliches Ordnungssystem zur Definition sozialer Beziehungen, das seine Terminologie aus dem Wortfeld der biologischen Reproduktion bezieht, dessen Bezug zu Zeugung und biologischer Reproduktion aber weder notwendige noch zureichende Bedingung für Verwandtschaft ist. Und Verwandtschaft umfasst (b) die mit diesem terminologischen Regulativ organisierte soziale Praxis. Als Testfall für die jeweils kulturspezifische Relation von Biologie und Verwandtschaft eignet sich besonders der Umgang mit Illegitimität, mit Adoption und mit der Frage, welche Personen eine Kultur als ›wirkliche‹ Eltern bezeichnet – die biologischen oder die sozialen Eltern.
Mit der Durchsetzung dieser Definition, die nicht bei biologischen Relationen, sondern bei Denkfiguren ansetzt, hat sich das Bild der Geschichte von Familie und Verwandtschaft fundamental verändert. In den letzten etwa vier Jahrzehnten haben zwei bislang kaum verbundene Forschungstraditionen neue Einsichten hervorgebracht, die nun zu einer neuen Makrodeutung zusammengefügt werden müssen.[2]
Die eine (im Wesentlichen deutschsprachige) Tradition hat sich seit den 1960er Jahren auf die Suche gemacht nach den verschie39denen Akteursgruppen, die ihren Zusammenhalt je nach Situation in unterschiedlicher Weise als ›Verwandtschaft‹ definiert haben. Verwandtschaftliche Gruppen, die durch Abstammung und Heiratsallianz konstituiert waren, geraten so in einen gemeinsamen Beobachtungszusammenhang mit Bruderschaften, Gilden, Pfarreien oder Klöstern, weil die Mitglieder all dieser Institutionen ihre Beziehungen mit dem Vokabular der Verwandtschaft reglementierten. Die Erforschung von Verwandtschaft ist seither eine Unterkategorie der Erforschung sozialer Gruppen. Im Rahmen dieser gruppensoziologischen Perspektive beobachtet man Abstammungs- und Heiratsverwandtschaft in ihrem Behauptungsvermögen gegenüber anderen Vergesellschaftungsformen. Dabei hat man sich lange auf das Konkurrenzverhältnis zwischen ›gewachsener‹ Verwandtschaft und ›gemachten‹ paritätischen Sozialformen konzentriert (Gilden, Bruderschaften, amicitiae), während hierarchische Institutionen wie Grundherrschaft und Lehnswesen als Konkurrenz- und Entlastungsinstitutionen von Deszendenz und Allianz erst jüngst systematisch einbezogen wurden. Insgesamt konnte der gruppensoziologische Ansatz zeigen, dass Abstammungs- und Heiratsverwandtschaft im christlichen Westeuropa (also im Einflussbereich der lateinischen Kirche) weit weniger soziale Funktionsbereiche organisiert hat als in anderen vormodernen Gesellschaften. Dies kann man im Vergleich mit früheren Gesellschaften (etwa denen der antiken Mittelmeerwelt) ebenso zeigen wie im Vergleich mit zeitgleichen (etwa den islamischen) und späteren (etwa im modernen Lateinamerika). Verwandtschaft ist im lateinischen Europa als soziales Ordnungssystem schon sehr früh, seit der Durchsetzung des Christentums zum herrschenden Deutungssystem (5.-7. Jahrhundert), entlastet worden durch eine Vielzahl konkurrierender oder paralleler Sozialformen wie Gilden, Bruderschaften, Gemeinden,[3] Grundherrschafts- und Lehensbeziehungen[4] oder – seit dem 13. Jahrhundert – Universitäten.[5]
40Die andere (im Wesentlichen anglo- und frankophone) Forschungstradition untersucht seit Mitte der 1980er Jahre, angeregt durch die makrohistorischen Deutungen des Ethnologen Jack Goody, warum sich im lateinischen Teil Europas seit dem Ende des Römischen Reiches ein im weltweiten Kulturvergleich sehr ungewöhnliches Denk- und Ordnungssystem der Verwandtschaft entwickelt hat:
Wie kam es, daß sich etwa ab 300 n. Chr. bestimmte allgemeine Züge des europäischen Erscheinungsbildes von Verwandtschaft und Ehe anders gestalteten als im antiken Rom, Griechenland, Israel und Ägypten, anders auch als in den Gesellschaften an den Mittelmeerküsten des Nahen Ostens und Nordafrikas, die diese ablösten?[6]
Die Geschichte des lateineuropäischen Verwandtschaftssystems, so die seither diskutierte Hypothese, habe ihr eigentümliches und bis heute prägendes Profil mit der Durchsetzung des Christentums im 5. bis 7. Jahrhundert erhalten. Zu jener Zeit seien sämtliche Reparaturmechanismen des biologischen Zufalls (Scheidung, Polygynie und Konkubinat, Adoption) verschwunden, also all jene Techniken, mit denen Paare ohne leibliche Nachkommen auf ›künstlichem‹ Wege Nachkommen (d. h. oft: Söhne) erzeugen konnten. Zugleich sei ein umfassendes System von Heiratsverboten etabliert und die Wiederheirat massiv pejorisiert worden – bei gleichzeitiger religiöser Prämierung der asketischen Witwenschaft. Im lateinischen Westen seien zu jener Zeit die patriarchalischen Verwandtschaftsstrukturen der alten Mittelmeergesellschaften einem bilateralen Verwandtschaftssystem gewichen, das gleichermaßen mütterliche wie väterliche Verwandte berücksichtigt habe (also »collateral« gewesen sei). Dieses nichtpatriarchalische System sei in der Folge im lateinischen Europa durchgängig zu beobachten. Als strukturierende Institution der Gesellschaft sei Verwandtschaft in jenen Jahrhunderten nach dem Ende des römischen Imperiums massiv entwertet worden und seither im lateinischen Europa – wie der Kulturvergleich lehre – eine vergleichsweise strukturschwache Einrichtung geblieben.
Diese seit Jack Goodys Impuls diskutierte Hypothese von der Entfamiliarisierung des Sozialen in Lateineuropa seit dem frühen 41Mittelalter bedeutet natürlich nicht, dass Verwandtschaft unwichtig geworden oder verschwunden sei, sondern dass sie von einer das Soziale strukturierenden Institution zu einer Institution geworden sei, die der Strukturierungslogik anderer Institutionen unterworfen war.[7]
2.2 Institutionen der Verwandtschaft
Die fundamentale Neuinterpretation der Verwandtschaftsgeschichte im lateinischen Europa seit dem Ende des römischen Imperiums (von einer strukturierenden Struktur zu einer strukturierten Struktur) zwingt dazu, auch die Geschichte der Institutionen lateineuropäischer Verwandtschaft zu überprüfen. So hat die Forschung sich in den letzten gut zwei Jahrzehnten intensiv damit befasst, die Geschichte jener Reparaturmechanismen des biologischen Zufalls erneut unter die Lupe zu nehmen, die in vielen Gesellschaften als Erbschaftsstrategien dienen oder dienten (etwa die Übertragung der väterlichen Gewalt bei den Römern). Dabei ist Jack Goodys Deutung von seinen Beobachtungen getrennt worden. Die Deutung (er hatte eine umfassende kirchliche Strategie der Besitzakkumulierung unterstellt) ist zügig abgelehnt worden; seine Beobachtungen aber (das Verschwinden oder Unterdrücken aller Strategien zur Erbschafts- und Besitzarrondierung im frühen Mittelalter) haben der empirischen Überprüfung grosso modo standgehalten. Der Forschungsstand zu den einzelnen Strategien sei im Folgenden skizziert:
2.2.1 Adoption
Die meisten Publikationen zur Adoption in der lateineuropäischen Geschichte haben Jack Goodys Thesen weitgehend anerkannt und damit die ältere, von rechtshistorischem Denken geprägte Forschung geradezu auf den Kopf gestellt. Die Adoption des römischen Rechts als Technik zur Übertragung eines familialen...