EINLEITUNG
»Bekanntes unbekannt machen«: Das Klassische
In der Erzählung Die Wiederholung (1986) sieht der jugendliche Filip Kobal auf der Busfahrt durch das jugoslawische Slowenien einen Soldaten als seinen zwiespältigen »Doppelgänger«. Nachdem der Soldat in einem Kasernen-Ort ausgestiegen ist, glaubt der Erzähler ihn dann »in einem Fenster der Kaserne« zu sehen: »Er stand da im Finstern, doch ich erkannte ihn an der Silhouette. Er hielt in der Hand eine Kugel, die ein Apfel sein konnte, oder auch ein wurfbereiter Stein.«1 Das Bild erinnert an den Paradiesgarten und an die Geschichte von Kain und Abel, unausgesprochen enthält es die Frage nach dem Zusammenhang der Schönheit mit dem Frieden »oder auch« mit der Gewalt. Auf einmal trat im Bild des Doppelgängers das Gesicht für den Erzähler so sichtbar hervor, dass er in den Augen des Anderen die an ihn gerichtete Forderung zu erkennen glaubt, selber zum »Auge« »eines Forschers« zu werden, »der nichts entdecken will, dafür Bekanntes unbekannt machen; den Bereich des Unbekannten abschreiten und vergrößern«.2
Das jugendliche Ich, das einmal schreiben wird, erblickt im Gesicht des »zwiespältigen« Anderen die Idee eines forschenden Erzählens, das die Frage von Gewalt und Schönheit zum Gegenstand des Nachdenkens macht. Dieser Intention wollte ich in der Form einer wissenschaftlichen Darstellung folgen, die das Werk Peter Handkes unbekannt machen will, um es neu entdecken zu können. Ich habe gar nicht erst versucht, die fünfzig oder mehr Jahre von Handkes sich verwandelndem Schreiben werk-chronologisch darzustellen. Ein solches Vorgehen eignet sich nicht für ein Denken in Modellen, und wie sollte es bei einem Œeuvre sinnvoll sein, das jetzt schon mehr als siebzig Bücher umfasst. Als brauchbarer erwies sich eine Perspektive, die, um ein dem Autor entsprechendes Bild zu verwenden, das Werk anhand geologischer Fenster erforscht, in denen sonst auseinanderliegende, manchmal weit versetzte Bedeutungs-Schichten in ihrem Zusammenhang sichtbar werden. Klassiker tendieren zum geologischen Denken, und bei wirklichen Klassikern findet man beide Ansichten der Erdgeschichte: die kontinuierlich sich verwandelnden Formen und die Einstürze, Abbrüche oder Verwerfungen aufgrund tief liegender Erschütterungen oder unter der Oberfläche verborgener Hohlräume und Abgründe. Der Protagonist in Handkes erster ›klassischer‹ Erzählung Langsame Heimkehr (1979) ist Geologe, einer der »Helden«, die von einem Moment auf den andern »keinen Grund mehr unter den Füßen« haben.3 »›Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniert, wie eine große Stadt‹«, zitiert Walter Benjamin in seinem Enzyklopädieartikel Goethes Erfahrungen aus den ersten Weimarer Jahren: Dem, »›der davon einige Kundschaft hat‹«, werde es »›viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch … aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.‹«4
Ich habe die Wende zum Klassischen, die in die Mitte seines Lebens fällt, wie man früher bei einem Fünfunddreißigjährigen gesagt hätte, als Ausgangspunkt gewählt, um, von diesem Umbruch Ende der siebziger Jahre ausgehend, Verbindungslinien durch das Werk zu ziehen, sprachliche Bilder lesbar zu machen und sein eigensinniges Erzählen mit den geschichtlichen Voraussetzungen des Schreibens und Denkens nach 1945 in Beziehung zu setzen. Auch die philosophisch-theoretische Dimension seiner Bücher wollte ich in den Blick rücken. Auf sie hat Botho Strauß vehement in einem FAZ-Artikel unter dem Titel Was bleibt von Peter Handke? hingewiesen: Handke sei nicht nur »der sprachgeladenste Dichter seiner Generation«, sondern »ein Episteme-Schaffender (nach dem Wortgebrauch Foucaults)«. Seinem Hinweis wäre zu folgen, ohne dass man dazu Handkes erzählerisches Weltwissen, wie das Botho Strauß tut, in eine Phalanx der rechten Dichter und Denker – Ezra Pound, Carl Schmitt und Martin Heidegger – einreihen muss.5 Handkes Werk ist auch nur unzureichend mit dem Foucault’schen »Episteme«-Begriff zu charakterisieren, da es gerade nicht auf eine Depotenzierung des Subjekts und der Vernunft hinausläuft und eben darin seinen klassischen Eigensinn hat. Von Kaspar (1968) an findet man in seinen Büchern immer neue Varianten der alles andere als harmonisch verlaufenden Ich-Genese und der ebenso vertrackten Entwicklung einer weiterhelfenden, friedlichen Vernunft. In Langsame Heimkehr (1979) begründet der Erzähler darin das »Gesetz« des Schreibens: Der »gesetzgebend[e] Augenblick«, der nach der Schrift verlangt, das ist die »von jedermann (auch von mir) fortsetzbare, friedensstiftende Form«. »Das Gesetz«, wie das dritte Kapitel von Langsame Heimkehr heißt, stellt ein neues Verhältnis zur Tradition her. Im universellen »Raum« des Werks sollten sich »alle zu einer Menschenmöglichkeit weiterhelfenden Erfindungen, Entdeckungen, Töne, Bilder und Formen der Jahrhunderte« vereinen.6 Damit dieses Gesetz des Schreibens nicht zu einem epigonalen Verhältnis zur Überlieferung führt, ist eine nie sich beruhigende erzählerische Grundlagenforschung notwendig, die fiktionalen wie die theoretischen Texte Handkes verwandeln sich selber in das »Auge« »eines Forschers«, der »Bekanntes unbekannt« macht. Die alles erfassende Frage-Form, die seine Texte rhythmisiert, ist nur eine Zeichenebene dieses suchenden, die Welt als »Projekt« verstehenden Schreibens.
Eine der abenteuerlichsten Realisierungen dieses Erzählprojekts findet man bei einer literarischen Gestalt, die, glaubt man den Benennungen des Erzählers, der Literatur fernzustehen scheint. Die Aventurera und Bankerin in Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos erlebt auf ihrem Weg durchs Gebirge, wie ihr alles bis dahin Selbstverständliche fragwürdig wird, ob es das Geld ist, die Wirtschaft, die inneren Bilder, die Landschaft, der Raum oder die Zeit. In der Welt von Hondareda, deren unscheinbare utopische Gesellschaft die ehemalige Zeit- und Geldverwerterin, die »Ex-Bankfrau«, kennenlernt, begegnet sie dem »Projekt eines anderen Zeitsystems« als dem der Zeitvermessung und Zeitberechnung.7 Sie stellt sich die Frage nach neuen »Zeit-Formen, Zeit-Grammatiken«, also nach einer neuen Sprache, einem Erzählen, in dem die andere Zeit-Erfahrung zur tradierbaren Form wird, zum utopischen »Zeitumdenkungsprojekt«, als das sich Handkes Erzählen selber verstehen kann.8 Die Frage von Botho Strauß, was von Handke bleibt, verwandelt sich so in den aktuelleren Wunsch, die Wissens- und Erkenntnisformen seiner Werke hier und heute zu entziffern und deren Zusammenhang mit der Schönheit zu verstehen, denn »ohne Wissenswürdiges im Innern«, so Walter Benjamins Überzeugung, gibt es »kein Schönes«.9
Nicht anders verhält es sich mit dem Begriff des Klassischen, der selten als »Wissenswürdiges im Innern« verstanden wird und als analytische Kategorie kaum eine Rolle spielt. In den Philologien hütet man sich, ihn außerhalb der literaturgeschichtlichen Epochendiskussion zu verwenden, und selbst da ist er umstritten. Unter den fragwürdigen Begriffen gehört er zu den fragwürdigsten.10 Eine Bedeutung des lateinischen Worts »classicus«, auf das er zurückgeht, lautet kurz und bündig: zur höheren Steuerklasse gehörend. Der französische Klassizismus wie die Weimarer Klassik waren Teil der höfisch-absolutistischen Gesellschaft. Mit der Ideologisierung im 19. Jahrhundert wurde die ›Deutsche Klassik‹ nationalpolitisch akzentuiert und zur leeren Formel des Guten, Wahren und Schönen domestiziert.
Und doch gibt es etwas an der Klassik, das nicht aufgeht in der Bestimmung des sozialgeschichtlichen Klassen-Kompromisses von Bürgertum und Aristokratie. Sie hat nie aufgehört, die kritischen Geister zu beschäftigen. Nicht zuletzt war es Brecht, der die Klassiker würdigte, bei denen man lernen kann und deren Haltung, die »Verbindung von Erkennen und Handeln«,11 ihm vorbildlich erschien, er sah sie, den Mächtigen gefährlich, auf dem Weg ins Exil, verfolgt oder eingekerkert. Bei einigen Überlebenden der Shoah findet man die Überzeugung, dass die klassischen Werke gerade an dem ihnen fremdesten Ort sich als Mittel gegen den das Ich zerstörenden Weltverlust brauchbar erwiesen hätten. Ruth Klüger dürfte an Iphigenie gedacht haben, wenn sie in weiter leben. Eine Jugend schreibt, dass »nirgends und nie« die »Gelegenheit zu einer freien, spontanen Tat […] so gegeben« war »wie dort und damals« und dass der »Sprung über das Vorgegebene hinaus« als Möglichkeit bestand.12 Heute ist ein erfrischender Übermut notwendig, dass jemand wie die Schriftstellerin...