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Die Illusion der Unverwundbarkeit
Oder: Wie kann jeder weniger leichtgläubig sein als alle anderen?
Auf diese Distanz könnten sie nicht mal einen Elefanten treff…
LETZTE WORTE VON JOHN B. SEDGWICK,
General der Unionsarmee im amerikanischen Bürgerkrieg, gesprochen in der Schlacht von Spotsylvania im Jahr 1864
Es war Januar 1984, und ich hielt Ausschau nach dem Großen Bruder. Als Sozialpsychologe – der obendrein noch mind control erforscht – hatte ich mich im Geiste schon für das Titeljahr von George Orwells Roman gerüstet. In wenigen Wochen wollte ich einen speziellen Kurs dazu anbieten, der »Die Sozialpsychologie von 1984« heißen sollte. An jenem Morgen skizzierte ich meine Gliederung.
Ich wollte, daß meine Studenten Despoten gründlich kennenlernten. Wie könnten sich ahnungslose Opfer gegen Tyrannen wie O’Brien, den Parteisprecher in 1984, zur Wehr setzen, der sagt: »Sie stellen sich vor, es gäbe so etwas wie die menschliche Natur, die sich durch unser Tun geschändet fühlen und sich gegen uns empören würde. Aber wir erschaffen die menschliche Natur. Die Menschen sind unendlich formbar.«? Grrr!
Wir würden Jagd auf Große Brüder machen. Ich las noch einmal die erste Seite von Orwells Roman:
Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith…der neununddreißig war und über dem rechten Fußknöchel einen Krampfaderknoten hatte, ging langsam und verschnaufte unterwegs mehrmals. Auf jedem Treppenabsatz starrte dem Liftschacht gegenüber das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die einem mit dem Blick überallhin zu folgen scheinen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, lautete die Textzeile darunter.1
Beginnen würde ich mit den augenfälligen totalitären Monstern. Also Hitler, Stalin, Mussolini. Meine Liste wurde schon zusehends länger, da läutete es. Verdammt. Das war bestimmt der aufdringliche, windige Vertreter, von dem mir meine Nachbarn so viel erzählt hatten. Ich ging zur Haustür. Vor meinem inneren Auge stand das Bild des Großen Bruders (hängengeblieben aus einer alten Illustrierten, in der ich es einst gesehen hatte), und in meinen Ohren erklang die Musik aus der Duschszene in Psycho. Ich machte mein grimmigstes Gleich-fresse-ich-dich-Gesicht und riß die Tür auf. Aber, o weh, es war Mario, ein reizender junger Mann, der – was ich völlig vergessen hatte – einen Termin mit mir vereinbart hatte und meinen Kamin reinigen wollte. Mario machte erschrocken einen Satz rückwärts und fragte höflich, ob er ungelegen komme. Ich entschuldigte mich für mein ungehöriges Verhalten und bat ihn herein.
Es war das erste Mal, daß Mario für mich arbeitete. Wir hatten uns erst vor ein paar Tagen kennengelernt, als wir beide bei einem Jugendfußballspiel zuschauten. Mario gefiel mir sofort. Er hatte eine sanfte Stimme, kreiste nicht um sich selbst, hatte Witz und Humor – er war genau der Typ, mit dem ich leicht ins Gespräch komme. Bald stellte sich heraus, daß wir eine ganze Menge gemeinsam hatten. Wir waren beide erst vor kurzem Vater geworden. Wir hatten viele Reisen zu den gleichen Zielen unternommen. Wir kannten teilweise dieselben Leute. Als ich meinen Beruf offenbarte und verriet, daß ich manchmal für populärwissenschaftliche Zeitschriften schreibe, erinnerte sich Mario voller Begeisterung, daß er vor gar nicht langer Zeit einen meiner Artikel gelesen hatte. Er erzählte sogar noch immer seinen Freunden davon. Das war das I-Tüpfelchen für meine Sympathie. Als ich erfuhr, daß Mario Kaminfeger war – bei meinem Kamin war schon längst wieder einmal eine Reinigung fällig –, engagierte ich ihn auf der Stelle.
Sobald Mario sich von meinem garstigen Empfang an der Haustür erholt hatte, überließ ich ihn seinem Tun und kehrte wieder zu meiner Liste Großer Brüder zurück. Also: Ganz gewiß sollten wir uns mit Mao Tse-tung befassen, oder sollte ich ihn Mao Zedong nennen? Nach all diesen Diktatoren, die bereits in den Ruhmeshallen der Geschichte gelandet waren, würden wir zu zeitgenössischen Nachahmern übergehen – vielleicht Idi Amin, El Gaddafi, Saddam Hussein. Eine Stunde später war ich bei den Sektenführern vom Typ Svengali angelangt. Ich könnte mit Charles Manson beginnen, dann Jim Jones und…
Mario rief mir zu, er sei fertig. Nachdem ich seine Arbeit begutachtet hatte, überreichte er mir die Rechnung. Sie war ein paar Dollar niedriger, als wir vereinbart hatten. »Der Job war leichter, als ich gedacht hatte«, erklärte er mir stolz. Ein grundanständiger Mensch!
»Aber«, fügte er hinzu, »ich bin auf ein Problem gestoßen, gegen das man etwas unternehmen muß. Einige Ziegel sind so schadhaft, daß eine erhebliche Brandgefahr besteht.« Offenbar konnte nur eine einzige Chemikalie, die in der Branche informell Brikono genannt wird, den Schaden beheben. Leider war Brikono sehr teuer. Der Preis war gerade erst sprunghaft angestiegen und lag jetzt bei »kriminellen« 200 Dollar pro Liter. Noch schlimmer: Es war zu jedem Preis schwer aufzutreiben. Aber er nahm mir das Versprechen ab, daß ich so lange herumtelefonieren würde, bis ich mindestens 2 Liter ergattert hatte, ehe ich Feuer im Kamin machte. Ich dankte Mario, und wir verabschiedeten uns. Er stieg in seinen Lieferwagen.
Kurz darauf stand er wieder vor der Tür und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich habe noch zwei Liter Brikono hinten in meinem Wagen gefunden«, sagte er. »Es sind die letzten beiden, die ich noch von meinem alten Vorrat übrig habe. Sie können sie auch zum alten Preis haben – 125 Dollar pro Flasche.« Ich fragte, wieviel das Auftragen kosten würde. »Wie wäre es, wenn ich das einfach umsonst mache, und Sie tun mir auch mal was Gutes?« antwortete er. Ich schrieb auf der Stelle einen Scheck aus. Er brauchte nur 20 Minuten.
Zwei Tage später brütete ich wieder über meiner Hitliste zum Thema Großer Bruder. Ich überlegte gerade, ob ich eine Kategorie für psychopathische Terroristen hinzufügen sollte. Wir könnten den Würger von Boston und dann den Würger von Hillside studieren und…
Plötzlich dachte ich an Mario und – wie der EST-Guru Werner Erhard, ebenfalls ein Meister der Manipulation, sagen würde – I got it, der Groschen fiel. Ich rief den Berufsverband der Kaminfeger an. Sie hatten noch nie etwas von Mario gehört. Ich versuchte es beim Vorsitzenden der Jugendliga. Dieselbe Antwort. Ich rief meine Bank an. Leider sei mein Scheck bereits eingelöst worden. Brikono im Wert von 250 Dollar?
Schon wieder reingefallen.
Im Rückblick denke ich, daß sich meine 250 Dollar gelohnt haben. Einer der erfolgreichsten Wege, Widerstand gegen mind control aufzubauen, ist, jemanden früh und kontrolliert den Tricks auszusetzen, mit denen er zu rechnen hat. 250 Dollar waren vielleicht nicht gerade die billigste Impfung, aber wer weiß, wieviel mich der nächste Mario gekostet hätte. Für eine dauerhafte Immunisierung hat die Dosis zwar nicht gereicht – ich staune selbst unentwegt über meine Leichtgläubigkeit –, aber sie hat dazu geführt, daß meine Alarmglocke bei vielen einschlägigen Gelegenheiten wesentlich früher schrillt.
Wichtiger ist, daß Mario meine Vorstellung von mind control erweitert hat. Mir wurde klar, daß »Die Sozialpsychologie von 1984« wesentlich mehr umfassen mußte als die Jagd nach den Großen Brüdern. In unserer heutigen Welt sind sie das geringste Problem, weil sie im allgemeinen erkennbar sind. Wir wissen, mit wem und mit was wir es zu tun haben. Die größte Gefahr stellen Menschen dar, auf die wir unvorbereitet sind. Der schnell auf uns einredende Verkäufer weckt unsere Wachsamkeit. Aber dem netten Kerl, dem freundlichen Dieb, der unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle agiert, sind wir ausgeliefert.
Bei der Psychologie der Beeinflussung wirken drei Faktoren zusammen – die Merkmale des Senders, die mentale Haltung der Zielperson und der psychologische Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet. Stellen Sie sich vor, es gibt den anderen, Sie und das »Dazwischen«, wie Martin Buber diesen Bereich genannt hat. Jede einzelne dieser Komponenten oder alle drei zusammen können das Gleichgewicht der Macht verschieben, entweder zu Ihren Gunsten oder zu Ihren Ungunsten. Wenn letzteres eintritt, sind Sie verwundbar.
Mario agierte an allen drei Fronten, als er mich einwickelte. Erstens verführte er mich durch seine Attraktivität als Mensch – sein Auftreten als harmloser, vertrauenswürdiger Familienvater, mit dem er mich köderte. Zweitens ließ sein geduldiges, sorgfältiges Arrangement des Kontextes das Unvernünftige vernünftig erscheinen. Der Kontext, dieses Feld des Dazwischen, ist etwas Kompliziertes. Wie er die Menschen beeinflußt, macht einen Großteil meines Faches Sozialpsychologie und dieses Buches aus. Hätte Mario seine Brikono-Nummer nicht Schritt für Schritt aufgebaut – wäre er unangemeldet erschienen oder hätte ich Mario in einem anderen Kontext kennengelernt (Sing Sing wäre hübsch gewesen) –, wäre mir sein Angebot vielleicht lachhaft erschienen. Aber, wie meine Großmutter zu sagen pflegte, wenn ich vier Räder hätte, wäre ich ein Omnibus. Obendrein hatte Mario noch das Glück gehabt, bei mir aufzutauchen, als meine geistige Orientierung – Ausschau halten nach bedrohlichen Großen Brüdern – mich in grotesker Weise entwaffnet und seinem charmanten Angriff ausgeliefert hatte.
Psychologische Entwaffnung stellt...