Der Kater auf dem heißen Blechdach
Als ich fünf Jahre alt war und wir noch in jener alten Fabrikantenvilla unweit der Irrenanstalt wohnten, saß ich, nur mit einer Unterhose bekleidet, eines Mittags auf dem heißen Blechsims meines Mansardenfensters und ließ die nackten Beine über das Dach baumeln. Ich genoss die Wärme, die in meinen Unterleib stieg. Mein Blick verlor sich in den Wolken, und ich schwelgte in dem angenehmen Kribbeln, das sich in meinem Körper ausbreitete – ein vollkommener Genuss. Da beendete ein Griff ins Genick und eine schallende Ohrfeige meiner Großmutter mein tiefes Glücksgefühl. Ich schrie empört auf und zog mich unter ihrem strengen Blick wieder an. Acht Jahre später stand ich vor der Teppichstange und zog meiner heimlichen Liebe Kathrin die heruntergerutschten Kniestrümpfe hoch. Als meine Hände nicht stoppen wollten, erwischte mich die nächste brennende Ohrfeige einer von mir geliebten Frau.
Verliebtheit ist ein heimtückischer Virus, wenn auch selten ansteckend, deshalb bleibt man damit meist allein. Meine Kindheits- und Jugendlieben blieben immer unerfüllt. Ich gebe zu, dass ich aus heutiger Perspektive an meinen ausgefallenen Annäherungsmethoden zweifle: Als Zeichen meiner Zuneigung schüttete ich zum Beispiel einmal einen Eimer voll Wasser aus dem Fenster auf den Kopf eines Mädchens, das ich verehrte. Schreiend lief es davon. Einem anderen riss ich die schweren Einkaufsnetze aus den Händen, um sie ihm nach Hause zu tragen. Abermals erntete ich eine kräftige Ohrfeige für meinen Annäherungsversuch. Oder ich tunkte die Zopfenden des vor mir sitzenden Mädchens in mein Tintenfass und pinselte damit ihren Namen in mein Schulheft, was mir einige Kratzwunden einbrachte. Die Herzen des anderen Geschlechts schienen mir rätselhaft und unergründlich. So fühlen die Menschen aneinander vorbei.
»Du hast den Charme eines Holzpferdes«, bescheinigte mir vierzig Jahre später spitz lächelnd meine damals achtzigjährige Kollegin Brigitte Mira. Recht hatte sie. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich mich selbst nicht mochte. Ich war lang und dürr und im Sport eine Niete. Während die anderen Jungs aus meiner Klasse Fußball spielten, ging ich zur Festigung meines instabilen Knochengerüsts noch immer zum orthopädischen Turnen. Ich wuchs einfach zu schnell. Und alle Versuche meiner Mutter, mich in Sportvereinen unterzubringen, scheiterten schon nach kurzer Zeit an der dort geforderten Unterordnung und dem Gemeinschaftszwang. Ich brauchte nur die Ausdünstungen meiner künftigen Sportkameraden in Umkleidekabinen und Duschräumen zu riechen, schon wurde mir übel. Außerdem ängstigten mich Menschenansammlungen. Das Eingezwängtsein in Flugzeugkabinen, Fahrstühlen, überfüllten Bussen und Straßenbahnen löst bei mir noch heute Panikattacken aus.
Als ich zwölf war, begegnete ich Anne. Sie war die Tochter des Lungenchirurgen meiner Mutter und eine weitere unerfüllte Liebe meines Lebens. Anne wohnte mit ihren Eltern in einer roten Backsteinvilla in der weitläufigen Parkanlage der Nervenheilanstalt Herzberge. Mein größtes Glück waren ihre Einladungen zu gemeinsamen Fahrradtouren über die romantisch verschlungenen Parkwege. Nur selten nahm Anne mich mit in ihr Zimmer. Da saß ich dann stumm auf einem Stuhl vor ihrem Bett mit dem rosablauen Überwurf, auf dem sie mit ihren langen Beinen wippte und irgendetwas erzählte, während ich in meiner Phantasie allerlei mit ihr anstellte. Bis sie irgendwann bestimmt sagte: »Du musst jetzt gehen!« Eines Tages war Anne verschwunden. Ihre Eltern waren nach Schweden, der Heimat ihres Vaters, zurückgekehrt. »Ein Arzt, der seine Patienten im Stich lässt, ist wie ein Kapitän, der das sinkende Schiff vor dem letzten Passagier verlässt«, sagte unsere Klassenlehrerin mit säuerlicher Miene, als wir nach den Ferien wieder in unseren Schulbänken saßen. Mich interessierte das wenig. Ich trauerte um Anne.
Danach verliebte ich mich in Elisabeth, die Tochter des Pfarrers. Sie durfte ich immerhin streicheln und küssen. Wir gingen in dieselbe Klasse. Nachdem ich sitzengeblieben war und die Schule gewechselt hatte, galt ich plötzlich als schlau, denn ich kannte den Schulstoff ja bereits und hob immer als Erster den Finger. Elisabeth war beeindruckt, und beim Ernteeinsatz lagen wir eines Abends, als alle anderen zur Nachtwanderung unterwegs waren, in ihrem Zelt. Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt, summte ich, und meine Hände wanderten in Gegenden, die mir bis dahin unerreichbar schienen. Ob ich etwas falsch machte, weiß ich nicht, doch sie ließ das nie wieder zu. Ich versank in einsame Schwermut und brauchte Monate, um meinen Liebeskummer zu kurieren. Dunkel ahnte ich, dass es noch einen anderen, zwar unfehlbaren, aber dafür umso beschwerlicheren Weg geben musste, die Herzen der Frauen zu erobern: Geld, Macht und Ruhm!
Zu einer Zeit, als ich besonders unerträglich für meine Mitwelt war, glaubte meine Mutter, meine Bösartigkeit und Unausgeglichenheit durch Musik bändigen zu können. »Du wirst jetzt Geige spielen lernen!«, sagte sie eines Tages, als ich mal wieder beim Klauen erwischt worden war. Ich hatte beim Gemüsemann um die Ecke, wo es immer so wunderbar modrig nach Kartoffeln, Salzgurken und Sauerkraut roch, Apfelsinen mitgehen lassen. APFELSINEN!, eine absolute Rarität im Osten, und das ausgerechnet kurz vor den Weihnachtsfeiertagen.
Ich hatte nichts dagegen, Geigespielen zu lernen, und sah mich schon auf einer Bühne stehen, um die Ovationen eines begeisterten weiblichen Publikums entgegenzunehmen. Doch wie sich bald herausstellte, war dieser Weg für mich völlig ungeeignet. Mein ganzer Körper sträubte sich gegen das Instrument. Ich passte einfach nicht zur Geige. Egal, wie ich mich drehte und wendete, immer war etwas falsch an meiner Haltung, mal war der Arm zu lang und die Geige zu kurz, der Rücken zu krumm oder der Kopf zu schief. Außerdem hatte ich einen alten, dicken und immerfort schwitzenden Lehrer, der mich damit quälte, den kleinen Finger am Ende des Geigenbogens auf eine ganz bestimmte Art abzuspreizen. Er zupfte mit seinen nikotingelben Fingern endlos an mir herum, mit dem einzigen Ergebnis, dass ich noch mehr verkrampfte. Einmal wurde ich so wütend, dass ich mich losriss und mit der Geige nach seinem fetten Leib schlug. Sein hilflos-entsetzter Blick war das heiß ersehnte Ende dieser Quälereien. Ich rührte nie wieder eine Geige an.
Die Aussicht, auf musikalische Weise die Sympathien der Frauen zu gewinnen, hatte sich damit erledigt. Dafür tat sich eine andere künstlerische Chance auf. In Lichtenberg, An der Parkaue, in der Nähe unserer Wohnung, befand sich das »Haus der Jungen Pioniere«, das mein Großvater zusammen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl einst eingeweiht hatte. Dort wurde ich eines Tages Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Theater. Wenige Wochen später stand ich als Schneider Hupf zum ersten Mal auf einer Bühne. Es war die Hauptrolle. Ich gab mein Bestes, denn unten im Zuschauerraum saßen nicht nur meine beiden Mütter und meine geliebte Deutschlehrerin, sondern auch diverse von mir seit längerem angehimmelte Mädchen. Als ich mich nach der Premiere verbeugte und in all die begeisterten Gesichter blickte, spürte ich zum ersten Mal die Erotik des Erfolgs.
Von da an war ich ständiger Zuschauer im »Theater der Freundschaft«, das sich unmittelbar neben dem »Haus der Pioniere« befand. Und ich ließ mich in der Schule zum Kulturfunktionär wählen. Denn dass man mit Ruhm allein die wählerischen Mädchen nicht halten kann, merkte ich schnell. Irgendwie gehörten auch noch Macht und Geld dazu. Dies wollte ich in meiner neuen Funktion als Kulturobmann der Klasse erreichen. Ich hatte die Aufgabe, das Geld für das Theaterabonnement einzusammeln. Die hoch subventionierten Tickets kosteten für Schüler zwei Mark. Da viele Schüler sich nicht besonders für Theater interessierten, baten sie mich, sie wieder zu verkaufen, was mir ohne große Anstrengung an der Abendkasse und sogar mit einem kleinen Gewinn gelang.
Eine andere Quelle von Geld und Ruhm tat sich in der Vorweihnachtszeit auf. Ein Freund meiner Mutter, der als Betriebsleiter in einem Keramikwerk für kulturelle Höhepunkte zu sorgen hatte, war auf mich aufmerksam geworden. Ich hatte mich bereit erklärt, einen Beitrag zu unserer Schulweihnachtsfeier zu leisten, und mir war die Kiste mit meinen Kasperlepuppen auf meinem Schrank wieder eingefallen, die ich jahrelang nicht mehr geöffnet hatte. Kasper, Gretel, Hänsel, Hexe, Prinz und Prinzessin, kleine grobe Holzköpfe – kostbar, wie ich heute weiß –, und eine aufstellbare Kulisse mit gestreiften Vorhängen. Meine dramatisch-finstere Version von »Hänsel und Gretel« beeindruckte jenen Freund so sehr, dass er mich anschließend fragte, ob ich mit dem Märchen nicht seine Betriebsweihnachtsfeier krönen wolle. »Gegen eine Gage von vierzig Mark«, fügte er mit einem tiefen Blick in meine sich weitenden Augen hinzu. Ich schluckte heftig. Vierzig Mark! Was für ein unvorstellbarer Reichtum! In meinem Kopf ratterten sofort die Ideen, was ich alles damit anstellen könnte. Endlich ein Fahrrad. Neue Schlittschuhe flimmerten vor meinen Augen – bisher hatte ich nur Kufen gehabt, die mit dünnen, ständig rutschenden Lederriemen festgeschnallt wurden, mit denen hatte ich mich auf der Eisbahn bei den Mädchen immer lächerlich gemacht. »Fünfzig«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Wenn ich fünfzig kriege, mach ich’s.« Ich sah, wie meine Mutter, die danebenstand, vor Scham rote Flecken im Gesicht bekam und mir einen dieser Strafblicke zuwarf, die mich für gewöhnlich disziplinieren sollten. Aber ich blieb dabei. »Fünfzig«, sagte ich, obwohl meine Knie zitterten. Aber der Freund meiner Mutter...