Erstes Kapitel
Was heißt hier Ethik?
Die Empfindungen anderer • Um welche Tierarten geht es? • Der Vorwurf des Anthropomorphismus • Die Asymmetrie des moralischen Universums • Von Rechten und Pflichten • Gleichheit versus Speziesismus • Zusammenfassung
Manchmal meint man, anderen aufgrund ihrer deutlichen Körperhaltung und Mimik direkt ins Herz blicken zu können; ein solches Erlebnis hatte ich auf einem vegetarischen Straßenfest in Berlin. Eine Tierrechtsgruppe hatte einen Monitor mit einem Video aufgebaut, das die Vorgänge in einem Schlachthof zeigte: Eine Kuh wird herbeigezerrt, bekommt das Bolzenschussgerät an den Kopf gesetzt, und so fort. Ich wandte mich sofort schaudernd ab.
Wenig später sah ich eine Frau, die etwa zehn Meter vor diesem Bildschirm wie in der Bewegung erstarrt stehengeblieben war. Sie war modisch angezogen, vielleicht Mitte zwanzig, und auch wenn es streng genommen nichts zur Sache tut, fiel sie doch auch deswegen auf, weil sie ausgesprochen schön war, mit einem makellosen mediterranen Teint und langen dunklen Locken. Ihre Augen waren weit geöffnet und auf den Bildschirm gerichtet. Offenbar war sie gerade vom Einkaufen gekommen, hatte zufällig den Alexanderplatz mit den vegetarischen Ständen überquert, den Bildschirm passiert und sich vom Anblick der Schlachtung gefangen nehmen lassen.
Sie war sichtlich entsetzt, hatte dergleichen möglicherweise noch nie gesehen. Doch am bewegendsten war eigentlich, was sie nicht tat: Sie ging nicht weiter. Sie wandte die Augen nicht ab, nicht einmal kurz; sie hielt auch nicht die Hände in einer Mischung aus Erschrecken und Selbstschutz vor den Mund. Sie stand einfach nur da und schaute. Ich glaube, ich habe keinen erwachsenen Menschen je dermaßen ungeschützt und vorbehaltlos schauen sehen. Als das Video nach zwei, drei Minuten zu Ende war, gab sie sich nicht etwa einen Ruck, um das Gesehene abzuschütteln, sondern setzte ihren Weg langsam und sichtlich mitgenommen fort.
Natürlich weiß ich nicht, was diese Frau genau dachte, und vor allem: wie lange sie es dachte. Ob sie Konsequenzen für ihr Handeln zog, wie schnell sie zu vergessen suchte. Und doch denke ich, dass uns das Erleben dieser Frau, das sich so ungefiltert an ihrem Gesicht ablesen ließ, den Ausgangspunkt von Moral bildhaft vor Augen führt: die Erkenntnis, dass es da einen anderen gibt. Einen Gegenüber, der fühlt, leidet, wünscht – vielleicht verzweifelt –, lebt. Und dass sein Erleben, obwohl weder sein Schmerz noch seine Freude unsere eigenen sind, auch uns etwas angeht und uns nicht gleichgültig sein darf.
Mehr ist es zunächst nicht, und doch ist eines entscheidend: dass hier Befindlichkeit und Interessen eines anderen Wesens in die eigenen hineingenommen werden. Das, was es will, fühlt und braucht, wandert gleichsam in das ein, was auch ich will, was ich überlege und entscheide. Moral beginnt da, wo ich zulasse, dass die Interessen eines anderen meine Interessen und Handlungen mitformen; wo ich darüber nachzudenken bereit bin, in welchem Verhältnis seine oder ihre Interessen und meine gewichtet und wie sie miteinander abgestimmt werden sollen.
Die Empfindungen anderer
Im Folgenden will ich ein wenig detaillierter betrachten, was Ethik motiviert, und Grundbegriffe wie Empfindungsfähigkeit, Anthropomorphismus, Rechte und Pflichten, Speziesismus diskutieren. Leserinnen und Leser, die primär an konkreten tierethischen Fragen interessiert sind, können gleich zum nächsten Kapitel – über Tierversuche – oder zur Zusammenfassung am Ende dieses Kapitels springen.
Gegenüber den anderen sei eingeräumt: Das Beispiel der Frau auf dem vegetarischen Straßenfest zeigt natürlich nur eine Möglichkeit von vielen, wie moralische Prozesse in Gang gesetzt werden können. In diesem speziellen Fall hat vermutlich ein Gefühl, nämlich im buchstäblichen Sinne Mit-Leid, den Ausschlag gegeben. Vermutlich hätte die Frau diese Minuten vorrangig als gefühlsintensive Minuten beschrieben: «Es war schrecklich. Die Kuh tat mir leid.»
Doch es gibt viele Menschen, deren emotionale Reaktion auf solche Bilder und überhaupt auf Tiere deutlich kühler ausfällt. Dafür lassen sie sich bisweilen rein rational motivieren, ihren Umgang mit Tieren zu überdenken. So kenne ich Leute, die aufgrund einer Internet-Diskussion mit völlig Unbekannten innerhalb kurzer Zeit zu Veganern geworden sind. Sozusagen «rein über den Kopf». Ich war ziemlich überrascht, als mich eine von ihnen, eine Freundin aus Berlin, auf meinem Hof besuchte und sich den Schafen näherte, hinkauerte, sie zu streicheln begann – und mir nachher sagte, dass dies die ersten größeren Tiere seien, die sie je angefasst habe. Sie habe sich eigentlich nie für Tiere interessiert, nicht einmal als Kind. Aber sie hatte sich schon lange gegen Rassismus engagiert, und bei einer Internetdiskussion sei ihr klar geworden, dass unser derzeitiger Umgang mit Tieren ja auch eine Form von Rassismus sei – «Rassismus gegen Tiere», wie sie es ausdrückte. Wenige Wochen nach jener Diskussion hörte sie mit dem Konsum von Fleisch, Milch und Eiern auf. Und erst seitdem sie dadurch mehr über Massentierhaltung und ähnliche Themen liest, interessiert sie sich auch zunehmend für «reale» Tiere.
Bei ihr hat also kein Gefühl, kein Mitleid, keine Tierliebe, sondern eine rationale Einsicht am Anfang des moralischen Umdenkens gestanden. Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn wir für Menschen in fernen, uns unbekannten Ländern spenden oder unsere Wählerstimme einer Partei geben, deren Politik für uns selbst vielleicht wenig Unterschied machen würde, aber auf mehr Gerechtigkeit für andere hoffen lässt. Man muss nicht jeden mögen und auch nicht mit jedem mitfühlen, für den man sich moralisch oder politisch engagiert.
So besitzt der Ausgangspunkt der Moral sowohl eine emotionale als auch eine kognitive Komponente. Das exakte Mischungsverhältnis von «Verstand» und «Gefühl» ist dabei nicht wichtig, denn beide führen zu einer zentralen Einsicht sozialer Art: dass andere ähnliche Empfindungen haben wie wir. Auch wenn wir ihre Empfindungen und Gedanken nicht unmittelbar «in uns selbst» spüren, wissen wir: Auch diese anderen sind ein Ich, auch sie sind Subjekte ihres Lebens.[1] Die anderen sind auch «Jemand», ein Alter Ego, das ich nicht ignorieren darf.[2]
Dieser Einsicht folgt ein weiterer, nun tatsächlich eher rationaler Gedanke. Und zwar wissen wir oder verstehen irgendwann, dass es keine absoluten, übergeordneten Gründe gibt, warum «Ich» wichtiger sein sollte als «Du» – denn auch Du bist ein eigenes Ich. Wir können aus uns selbst nicht heraus. Doch wenn es, hypothetisch gesprochen, die Möglichkeit gäbe, einmal aus uns herauszutreten, einmal kurz über allen zu schweben, würden wir sehen: Da gibt es keine unterschiedlichen Wertigkeiten, da ist ein Ich nicht realer, nicht zentraler, nicht ausschlaggebender als das andere. Gewiss steht man sich selbst meist näher; man fühlt selbst, was man fühlt, während man es bei anderen eher «über Bande» nachvollzieht. Aber rational müssen wir doch anerkennen, dass alle Ichs, unser eigenes und die der anderen, gleichrangig sind. Jeder von uns ist der Nabel seines eigenen Universums, das mit etwas Abstand betrachtet eben unser gemeinsames Universum ist.[3]
Bisher bin ich recht zwanglos zwischen Beispielen mit Kühen und Menschen hin- und hergewechselt. Denn das, was Moral in Gang setzt, was jemanden veranlasst, andere mit zu berücksichtigen, ist ja dasselbe: Ob Mensch oder Tier, jeder von uns ist ein Zentrum bewusster Wahrnehmungen, besitzt seine subjektiven Empfindungen, Wünsche und Interessen. In der konkreten Ausgestaltung gibt es natürlich Unterschiede: Kühe wollen meistens am liebsten Gras fressen, Menschen können sich manchmal minutenlang nicht zwischen den Optionen einer mehrseitigen Menükarte entscheiden. Kühe schlecken einander mit der Zunge Kopf und Körper ab, verwenden einen sparsamen «Wort»schatz; wir Menschen hingegen gehen zusammen kegeln, treffen komplizierte Absprachen bezüglich der gemeinsamen Kinder, schreiben Romane und Gedichte.
Diese Unterschiede zwischen dem vermeintlich Simplen und dem eher Komplexen beschreiben jedoch keine Wertigkeiten. Jemand, der stark verfeinerte Vorlieben hat und diese sprachlich gut ausdrücken kann, genießt gegenüber jemand anderem, der «schlichter gestrickt» ist, keine moralischen Privilegien. Tatsächlich würden wir sogar sagen, dass es zu allererst die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Gemeinschaft und Sicherheit sind, für die moralisch zu sorgen ist; weitere Details der Lebensart folgen erst später. Dass wir aber jeder ein Lebewesen mit eigenen Wünschen und Zwecken sind und dass wir nicht primär auf der Welt sind, um jemand anderem zu Nutzen zu sein, sondern mit vollem Recht unseren eigenen Interessen folgen – das gilt für Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Schlauere und weniger Schlaue, Menschen und Tiere.[4]
Um welche Tierarten geht es?
Wenn wir also auch Tiere moralisch berücksichtigen sollen, sind dann wirklich...