Der Wahnsinn im Wandel der Zeiten – ein Vorwort
Auf Zeichnungen oder Gemälden von »Tollhäusern« früherer Jahrhunderte können wir sehen, wie angekettete, geistig umnachtete Gefangene unter menschenunwürdigen Bedingungen und unter der Aufsicht von »Zuchtmeistern« wie Vieh gehalten werden. Mit verzerrtem Gesicht und weit geöffneten oder verdrehten Augen dämmern sie teilnahmslos dahin, ein schauriger Anblick des Jammers, den man nicht so schnell vergessen kann. Überall auf der Welt hat es zu den unterschiedlichsten Zeiten Wahnsinnige gegeben, in der Antike ebenso wie in der Neuzeit. Bereits in der antiken Mythologie finden sich Beispiele dafür. Medea erdolcht ihre eigenen Söhne, und auch Herkules tötet im Wahnsinn seine Kinder, ebenso wie König Lykurg in Thrakien, der seinen Sohn für einen Weinstock hält und ihm alle Glieder abhackt.
Einige von diesen Verrückten sind bekannte und mächtige Herrscher gewesen. Diesen historischen Gestalten aus dem Römischen Reich, England, Frankreich, Spanien, Schweden, Dänemark und Deutschland werden wir in chronologischer Reihenfolge begegnen. So können wir genau verfolgen, was man zu verschiedenen Zeiten unter Wahnsinn verstanden und wie sich der Umgang mit Wahnsinnigen, speziell ihre ärztliche Betreuung und Versorgung, gewandelt hat.
Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander. Schon der griechische Philosoph Demokrit behauptet etwa 400 Jahre vor Christus, kein großer Dichter sei ohne Wahnsinn. Ein paar Jahrzehnte nach Christus erweitert der römische Philosoph Seneca diese Feststellung zu der Erkenntnis, es habe überhaupt noch keinen großen Geist ohne einen Schuss Wahnsinn gegeben. Doch damit ist nicht das gemeint, was unsere heutige Psychiatrie unter dem Begriff versteht. Die griechischen und römischen Philosophen sahen im Wahnsinn einen Zustand der Besessenheit (von einer Gottheit), einen Zustand der Erregtheit und Ekstase, der Entrücktheit und Inspiration. Die Herrscherpersönlichkeiten, auf die wir treffen werden, sind nicht in diesem Sinne geistig entrückt. Sie sind vielmehr wahnsinnig im klinischen Sinn.
Der Begriff Wahnsinn ist nicht nur sprachlich unscharf. Die Psychiater unserer Tage befassen sich nicht mehr mit ihm. Sie sprechen von Geisteskrankheiten, Gemütsleiden oder Psychosen, speziell von Schizophrenie. Sie wird als ein »Spaltungsirresein« definiert. Der »Duden medizinischer Fachausdrücke« beschreibt diese Gruppe von chronischen, meist erblichen, progressiven und oft im jüngeren Lebensalter beginnenden Leiden mit Denkzerfall, Sinnestäuschungen, Wahnideen und absonderlichem Verhalten. Ältere Bezeichnungen wie Dementia praecox (»Jugendirresein«) werden nicht mehr verwandt, weil sie nicht treffend sind. Im Lateinischen bedeutet »demens« so viel wie »unvernünftig«, »wahnsinnig«, »blöd«. Im heutigen Sprachgebrauch versteht man unter Demenz ganz allgemein den krankheitsbedingten Abbau der Leistungsfähigkeit des Gehirns. Von den Schizophrenen abzugrenzen sind die Schizoiden. Der »Pschyrembel«, das klassische deutsche klinische Wörterbuch, das 2013 bereits seine 264. Auflage erreicht hat, klassifiziert sie als eigenartige, ungesellige, überempfindliche, oft stumpfe Persönlichkeiten, die meist auch »autistisch« von der Welt abgesondert sind. In der Form »bleibender psychopathischer Dauerverfassungen« sind sie als »prämorbide Form« der Schizophrenen anzusehen, als eine Art Vorstufe.
Die Juristen wiederum haben einen ganz anderen Sprachgebrauch. Sie reden von Unzurechnungsfähigkeit, nach heutiger Terminologie von Schuldunfähigkeit. Wer ohne Schuld handelt, kann nicht bestraft werden. Nach § 20 unseres deutschen Strafgesetzbuchs handelt ohne Schuld, »wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln«. Die genannten Merkmale sind in der allgemeinen Medizin und Psychologie nicht gebräuchlich. Sie werden allenfalls von der Forensik verwandt, der Gerichtsmedizin. Das macht die Sache noch komplizierter. Auch kulturgeschichtlich ist der Begriff des »Wahnsinns« nicht leicht einzugrenzen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmen nämlich fast ausschließlich die gesellschaftlichen Konventionen, wer als verrückt zu gelten hat und wer nicht. Ob eine Abweichung von dieser Norm noch als bloßes seltsames, verschrobenes Verhalten hingenommen oder bereits als wahnsinnig eingestuft wird, hängt von diesen Bräuchen ab. Und die sind wiederum abhängig von der jeweiligen Zeit, dem Ort sowie den sozialen Gegebenheiten. Aus welcher Perspektive wollen wir folglich beurteilen und nach welchen Kriterien wollen wir entscheiden, welche Herrscher verrückt waren oder nicht? In den zurückliegenden Jahrtausenden und Jahrhunderten hat es sicherlich eine ganze Reihe von sehr sonderbaren Menschen gegeben, die man anhand der verfügbaren Fakten und Quellen aus heutiger Sicht mit einer gewissen medizinischen Berechtigung als geisteskrank bezeichnen könnte. Wenn ihre Zeitgenossen sie nun aber nicht als wahnsinnig betrachtet haben, was dann?
Ein gutes Beispiel dafür ist der ägyptische Pharao Amenophis IV. , der von 1375 bis 1358 vor Christus gelebt hat und unter dem Namen Echnaton bekannt geworden ist. Der unkriegerische, kränkliche und körperlich schwächliche junge Mann ist so weich und zart, dass einige Forscher vermutet haben, er sei eine Frau gewesen. Er erhebt den Sonnengott Aton zum obersten Gott. Dieser wird als blanke Sonnenscheibe mit menschlichen Händen am Ende der Sonnenstrahlen dargestellt und verehrt. Da Echnaton felsenfest davon überzeugt ist, er sei der Sohn Atons, lässt er sich selbst als Gott anbeten. Diesen Kult setzt er mit brachialen Methoden durch. Seine Herrschaft wird deshalb auch als schwarze Periode in der Geschichte Ägyptens bezeichnet. Als Echnatons Mutter stirbt, bestattet er sie, getrennt vom Vater, in seinem eigenen späteren Grab. Damit will er, als Atons Spiegelbild, den Vater gänzlich ausschalten und seinen Mitmenschen eine Selbstzeugung suggerieren. Nach heutigen Vorstellungen ist dieses Verhalten nicht normal. Es deutet auf eine schwere Psychose hin, spricht aber zumindest für eine schizoide Persönlichkeit. In den Augen der Zeitgenossen war dieses Verhalten jedoch durchaus normal. Sie glaubten tatsächlich, er sei der Sohn des neuen obersten Sonnengottes.
Zur Problematik der richtigen Einordnung Wahnsinniger kommt noch eine schwierige Frage hinzu. Soll sich die Darstellung in diesem Buch auf die pathologischen Züge der ausgewählten Persönlichkeiten beschränken? Die Antwort lautet: »Nein«. Reine Pathografien sind eine recht heikle Sache. Eine Beschränkung auf die bloße Schilderung der Fakten und Umstände, die mit der Krankheit zusammenhängen, wäre einseitig. Sie würde das Bild verzerren. Der Achtung und dem Respekt gegenüber den betroffenen Personen sind wir es schuldig zu versuchen, jeweils den ganzen Menschen darzustellen, die ganze Persönlichkeit zu erfassen, wenn auch nur in der knappen Form einer Fallstudie. Dabei müssen wir versuchen, uns möglichst auf Tatsachen zu stützen, auf Fakten, die für den Leser nachprüfbar sind. Wenn der wahnsinnige Herrscher allerdings schon seit Jahrtausenden tot ist, ist das so gut wie unmöglich. Selbst wenn nur Jahrhunderte dazwischen liegen, ist dies je nach Quellenlage schwierig. Voltaire ging sogar so weit zu behaupten, nur ein Scharlatan könne sich anmaßen, einen Menschen zu schildern, mit dem er nicht zusammengelebt hat. Da es keiner biografischen Darstellung gelingen kann, einen Toten wieder zum Leben zu erwecken, müssen sich die Charakterskizzen der toten Herrscher darauf beschränken herauszufinden, was für Menschen sie gewesen sind und wie sich ihr Wahnsinn geäußert hat.
Ein weiteres Anliegen dieses Buches ist es aber auch, den Blick freizugeben auf unterschiedliche Epochen der Geschichte und bemerkenswerte Gestalten aus dem Umfeld der wahnsinnigen Könige und Kaiser sowie auf dramatische Geschehnisse, die mit ihnen verbunden sind. In nicht wenigen Fällen bedeutet die Geisteskrankheit eines Herrschers weit mehr als eine persönliche Katastrophe. Das ganze Land kommt in Bedrängnis, Not und Elend machen sich breit, und es drohen Bürgerkriege oder Invasionen feindlicher Mächte. Wir werden auch sehen, wie die von Misstrauen, Intrigen und Rivalitäten geprägte Atmosphäre eines Königshofes den geistigen Zusammenbruch eines jungen und leicht zu beeinflussenden Königs fördern kann und der auf ihm lastende große politische Druck gute Bedingungen für den Ausbruch von Wahnsinn schafft. Das Buch will kein wissenschaftliches Fachbuch sein, sondern es will den Leser in erster Linie in leicht lesbarer Form unterhalten und ihm mit interessanten Informationen ein buntes Panorama öffnen. Bei der Spurensuche werden manche weniger bekannte Details zutage treten.
In den einzelnen Zeitepochen, in die dieses Buch führt, haben die Mediziner auf die Frage, wodurch der Wahnsinn hervorgerufen wird sowie ob und wie er geheilt werden kann, verschiedene Antworten gefunden. Bereits um 400 vor Christus erklärt der berühmteste und schon zu Lebzeiten hochverehrte Mediziner der Antike, der auf der Insel Kos lebende griechische Arzt Hippokrates, die Entstehung von Krankheiten aus dem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, zum Teil auch Wasser. Deshalb behandelt er die Krankheiten vorwiegend durch Lebensumstellung und Diät, aber auch durch Arzneien und operative Eingriffe. Auf dieser hippokratischen Saftlehre beruht...