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E-Book

Johann Sebastian Bach

AutorMartin Geck
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl165 Seiten
ISBN9783644516915
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Johann Sebastian Bach, der große schwierige Einzelgänger, bot lange genug Stoff für Mythen. Allmählich nimmt sein Bild deutliche Züge an: Bach bedient einerseits die gängigen Gattungen seiner Zeit wie Orgelchoral, Konzert, Kantate und Passion, andererseits ist er von einem autonomen Selbstwillen beseelt, dem alle Bereiche seines Komponierens unterworfen sind. In dieser kurzen Biographie erfährt der Leser alles Wichtige über Leben und Werk des großen Musikers. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Martin Geck, 1936-2019, studierte Musikwissenschaft, Theologie und Philosophie in Münster, Berlin und Kiel. 1962 Dr. phil., 1966 Gründungsredakteur der Richard-Wagner-Gesamtausgabe, 1970 Lektor in einem Schulbuchverlag, nachfolgend Autor zahlreicher Musiklehrwerke, 1974 Privatdozent, 1976 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der deutschen Musik im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Autor der Rowohlt-Monographien über Bach, Beethoven, Brahms, Mendelssohn Bartholdy, Wagner und die Bach-Söhne.

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Leseprobe

Hoforganist und Konzertmeister: Bach in Weimar (1708–1717)


Ob Bach vor seiner Übersiedelung nach Weimar im Juli 1708 ein formelles Probespiel absolviert hat, ist nicht bekannt; der Nekrolog berichtet lediglich, er habe sich vor dem Herzog hören lassen. Jedenfalls ist er nun Hoforganist und Kammermusiker, und der Weg von der Kleinstadt Arnstadt über die Freie Reichsstadt Mühlhausen in die herzögliche Residenzstadt mag ihm – bei verbessertem Gehalt – zu Recht als Aufstieg erschienen sein. In der Schloßkirche steht ihm eine gerade grundlegend erneuerte Orgel zur Verfügung. Bachs Platz ist jedoch nicht nur auf der Orgelempore im schwindelnd hohen Gewölbe der «Himmelsburg», wie man die Schloßkirche wegen einer auf die Decke aufgemalten Himmelsöffnung nennt; als Kammermusiker hat er auch bei der weltlichen Ensemblemusik mitzuwirken – vermutlich vor allem als Cembalist, vielleicht gelegentlich auch als Geiger oder Bratscher.

Die Weimarer Hofkapelle hat in dieser Zeit vierzehn reguläre Mitglieder, und zwar neben Kapellmeister, Vizekapellmeister und Konzertmeister vier Violinisten, einen Fagottisten und sechs Sänger. Die weiterhin angeführten acht Trompeter und Pauker werden nur gelegentlich bei der Kirchen- und Kammermusik mitgewirkt haben.

Bach zieht in das Haus des Kapellkollegen Adam Immanuel Weldig am Marktplatz, um dort das Leben eines Familienvaters und Bürgers zu führen. Ende 1708 wird ihm die Tochter Catharina Dorothea geboren, zwei Jahre später der älteste Sohn Wilhelm Friedemann. Im Februar 1713 kommt Maria Barbara mit Zwillingen nieder, die bald sterben; jeweils im Frühjahr 1714 und 1715 erblicken die Söhne Carl Philipp Emanuel und Johann Gottfried Bernhard das Licht der Welt. Pate des ersteren ist Georg Philipp Telemann, mit dem Bach nach der späteren Erinnerung des Täuflings «in seinen jungen Jahren oft zusammen war». Johann Gottfried nennt Bach im Jahre 1738 einen leider mißrathenen Sohn, der damals gerade – nach anderen Mißerfolgen – seine Organistenstelle in Sangerhausen ohne jeden Bescheid verlassen hat und schon im Jahr darauf an einem hitzigen Fieber stirbt.[16]

Bachs Weimarer Alltag ist durch die erhaltenen Quellen mehr oder weniger zufällig dokumentiert: Er sucht Paten für seine Kinder, steht selbst Gevatter und befreundet sich mit Weimarer Bürgern, u.a. mit Johann Gottfried Walther, Stadtorganist, Kunstkenner und späterer Lexikograph. Er nimmt Orgelprüfungen ab, bildet Schüler aus, reist zu Musikaufführungen an den nahen Weißenfelser Hof. Gleichwohl zieht es ihn schon nach wenigen Jahren wieder von Weimar fort: Ende 1713 bewirbt er sich erfolgreich – vielleicht mit der Kantate BWV 61 «Ich hatte viel Bekümmernis» im Gepäck – auf die angesehene Organistenstelle an der Liebfrauenkirche in Halle, schlägt sie jedoch wegen mangelnden Einvernehmens über die Besoldung letztlich aus. Immerhin scheint seine Bewerbung nach auswärts eine Aufwertung seiner Position am Weimarer Hof nach sich gezogen zu haben: Man schafft für ihn das Amt eines Konzertmeisters und läßt ihn damit von einer der letzten Stellen in der Hierarchie der Kapelle auf die dritte vorrücken. Die im März 1714 ausgesprochene Ernennung ist mit einer beträchtlichen Gehaltserhöhung und zugleich mit der Verpflichtung verbunden, allmonatlich eine Kirchenkantate zu komponieren und mit der Kapelle einzustudieren. Eine entsprechende Aufgabe hatte bis dahin traditionsgemäß der Vizekapellmeister gehabt; vielleicht hatte er sie nicht genügend wahrgenommen, vielleicht sollte er auch nur einen Konkurrenten bekommen.

Als die von seiner Absage enttäuschten Hallenser Kirchenvorsteher Bach vorwerfen, er habe nur taktiert, wehrt sich dieser in einem Brief vom 19. März 1714 vehement. Die am Weimarer Hof herrschenden mißlichen Verhältnisse lassen es nicht ausgeschlossen erscheinen, daß Bach in der Tat gern nach Halle gegangen wäre, jedoch vom regierenden Herzog Wilhelm Ernst nicht nur zum Bleiben, sondern auch zum Stillschweigen über den ganzen Vorgang genötigt worden ist. Dieser herrscht nämlich nicht allein, muß vielmehr die Mitregentschaft seines Neffen Ernst August, Sohn des oben bereits erwähnten Johann Ernst, zulassen. In den Strudel des erbitterten Machtkampfes zwischen Onkel und Neffe geraten zunehmend auch die Musiker: Der Ältere verbietet ihnen, für den Jüngeren tätig zu werden; dieser – ein spezieller Musikliebhaber – droht seinerseits mit Repressalien, wenn sie diesen Anordnungen Folge leisten. Ein besonders krasser Fall ist derjenige des Waldhornisten Adam Andreas Reichhardt: Immer wenn er um seine Entlassung einkommt, wird er zu einhundert Schlägen und Gefängnis verurteilt. Nachdem er den Hof endlich heimlich verlassen hat, wird er für vogelfrei erklärt und in effigie gehängt.[17]

Vor diesem dunklen Hintergrund wirkt es kaum noch befremdlich, daß auch Bach für einen knappen Monat in Haft genommen und danach ungnädig entlassen wird, als er – im Herbst 1717 – nachdrücklich um seinen Abschied bittet. In den Weimarer Hofakten[18] heißt es dazu:

«eod. d. 6. Nov., ist der bisherige Concert-Meister u. Hof-Organist, Bach, wegen seiner Halßstarrigen Bezeügung u. zu erzwingenden dimission, auf der LandRichter-Stube arrêtiret, u. endlich d. 2. Dec. darauf, mit angezeigter Ungnade, Ihme die dimission durch den Hofsecr: angedeütet, u. zugleich des arrests befreyet worden.»

Der Vorgang läßt ahnen, weshalb sich Bach augenscheinlich schon des längeren von Weimar weggesehnt hat: Die dortigen Verhältnisse müssen einem so selbstbewußten Menschen wie ihm zunehmend unerträglich erschienen sein. Daß Wilhelm Ernst für die Stelle des Ende 1716 verstorbenen Kapellmeisters Johann Samuel Drese augenscheinlich dessen Sohn und amtlichen Vertreter in Aussicht nimmt, könnte das Faß zum Überlaufen gebracht haben. Wenn damit auch nur dem Prinzip der Anciennität entsprochen worden sein mag, muß der Vorgang auf Bach als Zeichen der Geringachtung gewirkt haben. Übrigens soll der Herzog Ernst August auch an Georg Philipp Telemann interessiert gewesen sein; der Komponist selbst berichtet darüber in Johann Matthesons «Ehrenpforte» von 1740 freilich zu allgemein, als daß sich mit Sicherheit feststellen ließe, er sei damals ein potenzieller Konkurrent Bachs gewesen.

Die wunderliche Obrigkeit, über die sich der Leipziger Bach später beklagen wird, mag er bereits in Weimar als solche erlebt haben – vielleicht sogar schon in Arnstadt und Mühlhausen. Es ist gewiß kein Zufall, daß er zu Anfang der Leipziger Kantate Nr. 84, «Ich bin vergnügt mit meinem Glücke, das mir der liebe Gott beschert», seinen Textdichter Picander korrigiert, der gereimt hatte: «Ich bin vergnügt mit meinem Stande, den mir der liebe Gott beschert»! Nein, für ein solches Vergnügen zu danken, hält Bach nicht für angemessen; und sein Glück muß er anderswo suchen – vielleicht in seinem Schaffen. Für den Biographen aber stellt sich die Frage, wie sich all die beruflichen Probleme – gleich, ob man sie als aufgetischt oder selbstgemacht interpretiert – auf dieses Schaffen ausgewirkt haben mögen: Ist die Erwähnung von lebensgeschichtlichen Glücksfällen und Widrigkeiten bloße Chronistenpflicht, dient sie nur dazu, uns den «Menschen» Bach näherzubringen, oder sagt sie etwas über sein «Werk» aus?

Man kann auf diese Frage wohl nur in größerem Zusammenhang eingehen: Kaum einem der großen deutschen Komponisten der neueren Zeit wird man ein glückliches Leben bescheinigen wollen! Zwar gibt es Meister der Lebensplanung und -gestaltung wie Georg Philipp Telemann, Carl Philipp Emanuel Bach oder Joseph Haydn und Virtuosen der Lust am Augenblick wie Mozart. Doch insgesamt herrscht das Bild des chronisch verwundeten, mit seiner Innen- und Außenwelt schwer ringenden oder gar zerfallenen Komponisten vor; und Eintragungen wie die auf dem Titelblatt von Beethovens Violoncello-Sonate op. 69 – «Inter Lacrimas et Luctum», das heißt «zwischen Tränen und Trauer» – oder am Ende des Kompositionsentwurfs vom «Fliegenden Holländer» – «In Noth und Sorgen» – spiegeln mehr die Regel als die Ausnahme.

Einiges spricht dafür, daß für die Repräsentanten der großen «deutschen» Musik seit Bach das Moment der Verletztheit und Verletzlichkeit – woher deren Ursachen auch immer gerührt haben mögen – zumindest ein wesentlicher Antrieb zum Schaffen gewesen ist, daß diese Komponisten damit eine Art gesellschaftlichen Geheimauftrags erfüllt haben: Die Seufzer über die Last des Lebens, die in einem offiziell vom Optimismus des Fortschritts regierten Gemeinwesen als abartig verpönt waren, durften im tröstlichen Medium der Musik laut werden – zumal in geistlicher Musik, innerhalb deren des Christen Klage über das elende irdische Leben sub specie aeternitatis seit jeher ihre Legitimation hatte.

Solche Gedanken führen zu Bach zurück. Vielleicht gäbe es, wenn sein Leben in regelmäßigeren Bahnen verlaufen wäre, ähnlich viele Kompositionen von ihm wie von Telemann. Vielleicht wäre er weniger schnell bei der Fertigstellung großangelegter Projekte ermüdet – etwa, im Blick auf die Weimarer Zeit, bei der Arbeit am Orgelbüchlein und an seinem ersten Kantatenjahrgang. Vielleicht...

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