Die Aura eines Namens
Als Jean-Paul Sartre am 19. April 1980 in Paris beerdigt wird, folgen mehr als fünfzigtausend Menschen seinem Sarg. Es ist ein Trauerzug, der einer Kundgebung gleicht, einem Bekenntnis zu diesem Toten, der doch nichts repräsentiert, nur ein Philosoph, ein Schriftsteller war. Der Abschied von Sartre gerät zu einem unvergleichlichen Ereignis, bestürzend fast in seiner Mächtigkeit, unendlich beeindruckend in seiner Spontaneität. Kann man es verstehen, kann man die Aura eines Namens verstehen, die Tausende bewegt, um diesen Menschen zu trauern, dem sie, bis auf wenige, nie begegnet sind?
Was ließ den Namen Sartres zum Symbol werden, was begründet die Weise, in der dieser Name für einen Begriff, für ein Bild des Menschseins steht in einer Zeit, in der die metaphysischen Begriffe des Menschen ihre Überzeugungskraft verloren haben? Jean-Paul Sartre: der Denker der Freiheit des Menschen. Einer Freiheit aber, die die Existenz des Einzelnen meint statt ein Wesen des Menschen bedeuten zu wollen. Ich kann gewiß nicht eine Freiheit beschreiben, die dem andern und mir selbst gemeinsatm ist; ich kann also nicht ein Wesen der Freiheit annehmen. [1] Meine Freiheit verweist mich allein auf mich selbst, darauf, dass ich es bin, der darüber zu entscheiden hat, wer ich sein will, welche Gestalt mein Leben gewinnt.
Ist Sartres Ruhm dem geschuldet, dass er in einzigartiger Konsequenz die Situation des Menschen beschreibt, der alle metaphysischen Sicherheiten verloren hat, alles Vertrauen darin, dass der Welt ein Sinn eignet, der seine Existenz trägt und umgreift? Dass er von der Endlichkeit, der Wirklichkeit des Menschen spricht statt von seinem ‹Wesen›, einem idealen Selbst, das sich in seiner Reinheit einer unvollkommenen, vernunftlosen Welt entgegensetzt? Und dass er dies tut nicht als Klage über einen Verlust, sondern als ein Sprechen für den endlichen Menschen in der Kontingenz seines Daseins, die seiner Würde, und das ist seine Freiheit, nicht widerspricht?
Es ist sicher zuerst dies, was die Faszination ausmacht, die von Sartres Namen ausgeht. Hier richtet ein Philosoph, entgegen einer machtvollen Tradition, seine Aufmerksamkeit nicht auf den Menschen, wie er zu sein hat gemäß seiner metaphysischen Bestimmung, sondern auf ihn, wie er als ein Einzelner existiert in einer Welt, deren mögliche Wahrheit ihm entgeht. Eine Welt, die seine ist, indem sie sich seinem Blick zeigt, eröffnet, indem seine Freiheit ihr Sinn, Bedeutung gibt – die zugleich und immer schon eine Welt der Dinge und eine der Anderen ist: eine gegebene, fremde Welt, in der der Einzelne auftaucht, ohne dass sie seiner bedarf, in der er überflüssig ist, zu viel, in der er grundlos existiert. Für Sartre gibt es keine Welt, in der die Dinge, vom Menschen geformt, gestaltet, ihm ein getreues Bild seiner selbst darbieten, in der die Anderen der Spiegel sind, in dem der Einzelne sich wiederzuerkennen vermag. Jenseits dieser metaphysischen Bilder einer Welt der Versöhnung der Freiheit des Einzelnen mit dem widerständigen Sein der Dinge, mit der fremden Freiheit der Anderen beschreibt er die unaufhebbare Einsamkeit der Freiheit, die der Mensch ist. Die sich ihm offenbart im Scheitern all seiner Versuche, ihr zu entfliehen, und sich, sein Dasein als notwendig, als gerechtfertigt zu begründen.
Der Philosoph Sartre, der gegen die Versprechen der Metaphysik die Grundlosigkeit der Existenz des Menschen und zugleich seine Freiheit behauptet, ist auch der Schriftsteller, der, was die philosophischen Begriffe nicht zu fassen vermögen, was ihrer Allgemeinheit entgeht, zu bewahren, festzuhalten sucht, indem er dafür eine andere Sprache findet. Erst so erreicht er die Wirklichkeit der Situation des Menschen, erreicht ihn in seiner Einzelnheit. Es ist diese Fähigkeit Sartres, der begrifflichen Bestimmung in der Beschreibung der Phänomene menschlicher Existenz eine sinnliche Gestalt zu geben, die seinem Denken Ausstrahlungskraft verleiht weit über ein akademisches philosophisches Publikum hinaus. Mitten in den abstraktesten Analysen von Das Sein und das Nichts geht es plötzlich um das Erlebnis des Skifahrens, um den Flirt, die sich widerstreitenden Empfindungen einer umworbenen Frau, um die Bewegungen, Gesten eines Kellners, in denen er dies spielt, Kellner zu sein, um die Erfahrung des ‹Klebrigen›, die Empfindung des Ekels angesichts der wuchernden Lebendigkeit der Dinge, angesichts der Körperlichkeit des eigenen Selbst. In alldem zeichnet er Situationen des Menschseins, die in ihrer scheinbaren Unbedeutendheit Auskunft darüber zu geben suchen, «was es heißt, ein Mensch zu sein». Und zuletzt widmet Sartre Jahre seines Lebens einem Roman: dem Tausende Seiten langen, unvollendeten Werk über Gustave Flaubert, das auf diese einzige Frage eine Antwort zu geben sucht: «Was heißt es, einen Menschen zu verstehen?» Eine Antwort, die von seiner philosophischen Bestimmung menschlicher Existenz getragen wird – die zugleich diesen einzelnen Menschen meint, den kein Begriff erreicht, dem sich eine Erzählung zu nähern sucht, die ihn in der Einmaligkeit, der Unwiederholbarkeit seines Ich erfassen will.
Aber natürlich kann man die literarische Dimension der Philosophie Sartres auch in ihrer pragmatischen Bedeutung betrachten. Dass man sich ihr, dass man sich dem Denken Sartres über seine Erzählungen, Romane und Theaterstücke nähern kann, hat zweifelsfrei seinen einzigartigen Ruhm entscheidend mitbegründet. Die Literatur, das Theater öffnen andere Räume der Wahrnehmung eines Denkens als das hermetische philosophische Werk. Hier muss man die Tradition sehen, der Sartre angehört. Kant, Hegel, Heidegger oder Habermas kann oder mag man sich nicht als Schriftsteller vorstellen. In Frankreich jedoch hat die Figur des Philosophen als «écrivain» eine lange und ehrenvolle Geschichte. Die Neigung der deutschen Interpreten Sartres, ihn im Horizont ihrer Denktradition zu sehen, irrt nicht vollständig, verengt aber die Perspektive, nimmt den anderen Raum nicht wahr, dem Sartre angehört. Es ist, natürlich, der Raum Descartes’, aber es ist auch der Raum der Skepsis, der Montaignes, der der «französischen Moralisten», deren Blick sich durch die begrifflichen Systeme hindurch auf die Wirklichkeit des Menschen richtet. Es ist der Raum Voltaires, seines aufklärerischen moralischen Pathos. Es ist der Diderots, der der scheinbaren ‹Ordnung der Dinge› ihre Gleichgültigkeit, die ‹Zerrissenheit› des Bewusstseins konfrontiert. Sie alle haben sich als «philosophes» und zugleich als Schriftsteller verstanden, die, in skeptischer Distanz zu den Wahrheiten der Metaphysik, das Sein der Menschen, das ihrer Welt zu beschreiben, darzustellen suchen. Deren Sprache sich darum souverän jenseits der Formen, der Grenzen des akademischen Diskurses bewegt, sich an ein öffentliches Publikum wendet statt einzig an die Republik der Gelehrten.
Gehört hierhin das Bild Sartres als des ‹Denkers im Café›, der die Weltlosigkeit einsamer Kontemplation scheut, bewusst den öffentlichen Raum als den Ort seines Denkens wählt? Sartre selbst nennt ein anderes Motiv für seine lebenslange Gewohnheit des Schreibens im Café: Ich ziehe es vor – oder zumindest werde ich dessen nicht überdrüssig –, mich auf Stühle zu setzen, die niemandem gehören – oder allen, wenn man so will –, an Tische, die niemandem gehören. Aus diesem Grunde gehe ich zum Arbeiten in Cafés, ich gelange zu einer Art von Einsamkeit und Abstraktion. [2] Der scheinbare Bohemien sucht nichts als einen Ort außerhalb der bürgerlichen Atmosphäre des Besitzes, einen Ort, der ihn von dieser Atmosphäre befreit, ihn abstrakt sein lässt, ein Subjekt des Denkens statt ein bürgerliches Individuum. Und zugleich bekennt Sartre die Eitelkeit dieses Habitus: Ich will nicht besitzen, zuallererst aus metaphysischem Stolz. Ich genüge mir selbst in der nichtenden Einsamkeit des Für-sich. [3] Der Habitus wird zur Geste, in der ein Individuum sich und eine philosophische Haltung stilisiert. Und vielleicht hat ein an Haltungen interessiertes Publikum diese Geste als bedeutender empfunden als Sartre selbst.
Wichtiger ist etwas anderes, das Sartres Namen zu einem Symbol werden ließ: seine öffentliche Existenz als Zeuge einer Moralität, die keiner metaphysischen Versicherung bedarf, um Gewalt, Unrecht, Unterdrückung anzuklagen. Der Freiheit des Menschen, von der Sartre spricht, die...