Kindheit und Jugend
Am 2. Brumaire des Jahres XII, am 24. Oktober 1804, starb im französisch besetzten Trier der Rabbiner Samuel Marx Levi. Am selben Tag wurde er auf dem jüdischen Friedhof in der Weidengasse begraben. Samuel Marx Levi, 1746 im böhmischen Postoloprity geboren und mit Eva (Chaje) Moses Lewuw aus Anspach verheiratet, war der Großvater von Karl Marx, ein gelehrter und universaler Herr[1], wie es in der hebräischen Inschrift auf seinem Grabstein heißt, der heute noch dort steht, wo er damals errichtet wurde.
Französisches Recht herrschte zu dieser Zeit in Trier, von oben verordnet, und mit ihm die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Napoleon Bonaparte, am 18. Mai des Jahres in Paris zum Kaiser der Franzosen ausgerufen, hatte kurz vor Samuels Tod – am 6. Oktober – die seit dem Frieden von Campo Formio 1797 als Verwaltungszentrum des französischen Départements de la Sarre fungierende Stadt besucht, vom «Herrn Maire», dem Bürgermeister, mit einem Ehrenwein aus den Moselbergen in goldenem Becher, einem «coupe des vins-d’honneur», ehrfurchtsvoll begrüßt. «Ja, Herr Maire, Sie haben einen recht guten Wein», meinte Napoleon[2], doch zehn Jahre später, seit dem 8. Januar 1814, befand sich Trier nach über zwei Dekaden des ersten großen europäischen Bürgerkriegs plötzlich unter preußischer Herrschaft. Am 2. November dieses Jahres ließen sich Marx’ Eltern Heschel und Henriette auf dem Trierer Standesamt trauen. Am 30. November fand die jüdische Hochzeit statt.
Als Karl Marx am 5. Mai 1818 geboren wurde, war Heschel bereits zum protestantischen Christentum übergetreten und hatte sich damit jenes unvermeidliche Entrebillet in die offizielle Gesellschaft verschafft, wie Heinrich Heine es einmal nannte, der sich wenig später ebenfalls taufen ließ. Heschel Marx war Rechtsanwalt und Notar und hatte alle Gründe, in Zeiten des Rollbacks der Freiheitsrechte nach dem Wiener Kongress als Glaubensjude andernfalls um seine berufliche Existenz zu fürchten.
Am 9. März 1815 beispielsweise musste der beamtete Frankfurter Polizeiaktuar Löb Baruch, der sich später als Schriftsteller mit dem Namen Ludwig Börne einen Namen machte, erleben, dass er wieder auf die Straße gesetzt wurde, nur weil er Jude war. Die Dekrete zur Gleichberechtigung der Juden waren dem Bemühen der Heiligen Allianz, die Verhältnisse vor der Französischen Revolution wiederherzustellen, zum Opfer gefallen. «Mein eigener Bruder war unter den Frankfurter Freiwilligen nach Frankreich gezogen», erzählt Börne, «während meine Mutter in Angst und Kümmernis war, ihr geliebter Philipp – so heißt er, ich bitte Seine Majestät den König von Preußen ganz untertänig um Entschuldigung – möchte für die deutsche Freiheit totgeschossen werden, entsetzte man mich meines Amtes, weil ich ein Jude war.»[3] Er hätte, um im Amt zu bleiben, zum Christentum konvertieren müssen.
Immer mehr entfernten sich die meisten deutschen Staaten von jener funktionalen und liberalen Auffassung der Religion, welche das preußische Emanzipationsedikt von 1812 noch geprägt hatte.[4] Auch der Rabbinersohn Heschel Marx bekam das zu spüren.
Doch ohnehin war er schon lange dem Einfluss des freien Geistes der Aufklärung erlegen. Er betrachtete sich, wie viele intellektuelle Zeitgenossen, eher als Deist und das Göttliche als ein unpersönliches moralisches Prinzip. Dem, was Newton, Locke und Leibniz geglaubt haben, dieser freien «Anbetung des Höchsten» dürfe sich jeder getrost unterwerfen, meinte er.[5] Deshalb galt ihm, wenn schon die Taufe unabwendbar sein sollte, der Übertritt zum Protestantismus im tiefkatholischen Trier auch als ein bescheidenes Zeichen freien Geistes, das ihm zudem die neue preußische Elite zumindest nicht entfremdete.
Die Wandlung des Heschel zum christlichen Heinrich Marx fand möglicherweise 1816, wahrscheinlich aber später statt. Genau weiß man das nicht mehr. Am 26. August 1824 wurden auch seine sieben Kinder, unter ihnen der sechsjährige Karl, dem Taufritual unterzogen.[6] Sie erhielten nie eine jüdische Erziehung, obwohl ihr Onkel Samuel Marx, der 1827 starb, als Oberrabbiner an die Stelle des Großvaters getreten war.
Die Mutter, auch sie von altem Rabbinerstamm, mit berühmten gelehrten Vorfahren in Krakau und an der talmudischen Hochschule in Padua, wartete, aus Rücksichtnahme auf ihre Familie, bevor auch sie sich im November 1825 taufen ließ. Sie war im niederländischen Nijmegen aufgewachsen und würde nie richtig Deutsch schreiben lernen. Diese Familie sollte Kapitalismusgeschichte schreiben. Henriette Marx’ Schwester Sophie heiratete den Tabak- und Kaffeehändler Lion Benjamin Philips aus Zalt-Bommel, dessen Sohn Benjamin Frederik David 1891 in Eindhoven mit der Glühlampenfabrik Philips N.V. den Grundstein für den späteren Weltkonzern gleichen Namens legte.
Onkel Lion übrigens würde nach dem Tod von Marx’ Vater zum Verwalter des Familienvermögens werden.[7] Dazu gehörte unter anderem das Haus an der Porta Nigra und landwirtschaftlicher Grundbesitz, vor allem Weinberge in Kürenz und Mertesdorf.[8] Marx bezeichnete sich noch 1866 in einem Brief an den Vater seines künftigen Schwiegersohns, den großbürgerlichen Weinhändler François Lafargue, als Ex-Weinbergsbesitzer[9], als dieser ihm eine Lieferung guter Tropfen aus Bordeaux zukommen ließ.
Napoleon war nicht der einzige Imperator, den Trier gesehen hatte. Die Stadt war eine imperiale Gründung, einst die größte römische Ansiedlung nördlich der Alpen, in der Konstantin der Große entscheidende Jahre seines Lebens verbrachte. Die Porta Nigra, heute noch das Wahrzeichen der Stadt, stammt aus konstantinischer Zeit, ebenso wie die alte Basilika und die Ruinen der großzügig angelegten römischen Thermen. Meditationen über den Aufstieg und Verfall der Staaten konnten in dieser Umgebung mehr als modische romantische Träume sein.
Nichts war von Dauer. Weltreiche und gesellschaftliche Ordnungen konnten entstehen und vergehen. In solcher Umgebung, die das sinnfällig zeigte, wuchs Marx auf, in der Simeonstraße, die geradewegs auf das alte römische Tor zuführt. Er hatte Rom gewissermaßen vor Augen, als er in seiner lateinischen Abiturientenarbeit über die Größe des Augustus schrieb, er habe durch seine Institutionen und Gesetze den zerrütteten Staat in einen besseren Zustand versetzt.[10]
Auch die Zeit seiner Jugend war eine Zeit der einschneidenden politischen Veränderungen. Fünf Jahre vor seinem Abitur hatte man mit der Pariser Julirevolution von 1830 den Versuch der Wiederherstellung bourbonischer Legitimität – ein Geschöpf der Heiligen Allianz – unversehens in sich zusammenbrechen sehen. Mit diesem Ereignis war für die Zeitgenossen deutlich geworden, dass das Prinzip der Revolution, nicht das der Restauration – wie bereits von Napoleon auf St. Helena prognostiziert[11] –, den weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bestimmen würde.
Die erste Folge war die Unabhängigkeit des benachbarten Belgien. England erlebte 1832 eine Wahlrechtsreform, Spanien erhielt 1834 eine konstitutionelle Charta. In Deutschland sammelten sich 1832 Liberale und Demokraten auf dem pfälzischen Schloss Hambach zu einem Fest der Völkerverbrüderung. Im gleichen Jahr gründete Giuseppe Mazzini die Freiheitsbewegung La Giovine Italia und öffnete sie dem europäischen Gedanken. Marx gehörte gewissermaßen zur europäischen Revolutions-Generation seines Jahrhunderts.
Am 13. Januar 1834 veranstaltete die liberale Trierer Casino-Gesellschaft ein Bankett anlässlich der Rückkehr der Deputierten des Landtags in die Stadt. Das war ungewöhnlich, zeigte doch diese öffentliche Demonstration ein deutlich gewachsenes Selbstbewusstsein der Bürgerschaft gegenüber den monarchischen Autoritäten.
Marx’ Vater gehörte zu diesem Kreis einheimischer liberaler Honoratioren. Er war auch einer der Organisatoren jenes damals als ungewöhnlich empfundenen Banketts, hielt dort eine Rede und wurde daraufhin zur polizeilichen Vernehmung zitiert. In Wirklichkeit hatte er auf der Veranstaltung aber nur seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, der König werde den «gerechten und vernünftigen Wünschen seines Volkes immer hold und offen bleiben»[12]. Er war ein preußisch-patriotischer Liberaler. Und er blieb eine wichtige Bezugsperson für seinen Sohn. Karl Marx trug zeit seines Lebens immer ein Bild des Vaters bei sich, der 1838, schon lange leberleidend, plötzlich an einer Tuberkulose verstarb.
Liberal war auch der Geist des Trierer Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums, in das Marx im Jahr der Pariser Julirevolution aufgenommen wurde. Direktor Hugo Wyttenbach, der Geschichtslehrer und ein Freund des Vaters, gehörte zu den Mitgliedern der Casino-Gesellschaft und stand seit dem Hambacher Fest – an dem er teilgenommen hatte – unter Polizeibeobachtung. Die preußischen Behörden stellten ihm bald als Korrektiv und Ko-Rektor den stockkonservativen Altphilologen Vitus Loers zur Seite, der sich immer mehr in den Vordergrund drängte. Man hätte, meinte Heinrich Marx zu seinem Sohn über Wyttenbach, «weinen mögen über die Kränkung dieses Mannes, dessen einziger Fehler allzu große Gutherzigkeit ist»[13]. Preußen war für Heinrich Marx, wie für viele Zeitgenossen, ein Land der gelegentlichen Hoffnungen und vielen Enttäuschungen.
Karl Marx’ bester...