Rappaports klassisches Werk „Creating Shareholder Value“ (1986) leitete international eine Neuausrichtung der Unternehmenspolitik ein, von der reinen Rentabilitätsorientierung hin auf die Steigerung des Aktionärsvermögens. Diese hat sich seitdem auch in Deutschland als „Wertorientierung“ bzw. „wertorientierte Unternehmensführung“, sowohl in der betriebswirtschaftlichen Literatur als auch in der Unternehmenspraxis, als akzeptierte unternehmerische Zielmaxime durchgesetzt[1].
Im wertorientierten Paradigma bzw. im Rahmen der sog. Shareholder-Value-Orientierung werden die Interessen der Eigenkapitalgeber, die auf eine nachhaltige Maximierung des Unternehmenswertes, respektive des Marktwerts des von ihnen investierten Kapitals (Shareholder Value) gerichtet sind, in den Vordergrund des Zielsystems des Unternehmens gerückt. Nur eine gute Wettbewerbsposition des Unternehmens auf den Kapitalmärkten schafft Finanzierungsmöglichkeiten für weiteres Wachstum oder Umstrukturierungen und lässt damit letztlich alle Interessensgruppen (Stakeholder) der Unternehmung profitieren. Darüber hinaus verringert sich die Gefahr einer Übernahme[2].
Gründe für die gestiegene Bedeutung des Shareholder Value seit Ende der 1980er Jahre sind insbesondere die wegen gestiegener Kapitalintensität der Produktion und der Globalisierung und Institutionalisierung der Kapitalmärkte gewachsene Konkurrenz an den Aktienmärkten, weiterhin die zunehmende Gefahr von Unternehmensübernahmen durch Unterbewertung (Value Gaps), sowie die gewachsene Bedeutung von Unternehmensveräußerungen (Merger & Aquisitions-Aktivitäten)[3]. Jüngst hinzu kamen die Bonitätsanforderungen der Basel II-Richtlinie[4]. Die Einsicht in die Schwächen traditioneller Erfolgsmaßstäbe bzw. Renditekennzahlen (z. B. Gewinn pro Aktie, Return on Investment)[5] wie die unzureichende Berücksichtigung von Risiko und des Zeitwerts des Geldes, Außerachtlassen von Eigenkapitalkosten und Zahlungsströmen, Verzerrungen durch Ansatz- und Bewertungswahlrechte und die mangelnde Korrelation zum Börsenkurs, sowie schließlich die Erkenntnis, dass langfristige Entlohnungssysteme mit der Eigentümerrendite eng gekoppelt sein müssen, führten zur Entwicklung wertorientierter Kennzahlen, bei denen die Kapitalkosten inklusive der risikoadjustierten Eigenkapitalverzinsung mit in das Kalkül eines Erfolgs- bzw. Wertbeitrags einbezogen werden. Die wertorientierte Unternehmenssteuerung ist als konzeptionelle Weiterentwicklung der rentabilitätsorientierten Unternehmenssteuerung zu verstehen. Die Zielsetzung der Maximierung von Wertsteigerungseffekten über möglichst effektive Kapitallenkung verlangt eine über Gewinnstreben und Bemühen um größtmögliche Kapitalrentabilität hinausgehende durchgängig integrierte Erfolgskonzeption[6].
Eine Aufgabe der wertorientierten Unternehmenssteuerung ist die verhaltenssteuernde Leistungsbeurteilung von Entscheidungsträgern mittels periodenbezogener Performancemaße, Kontrollrechnungen und Abweichungsanalysen. Einperiodische Kennzahlen sollen als Kontrollgrößen die Wertgenerierung einzelner Perioden transparent machen (Informationsfunktion)[7] und Shareholder-Value-maximierende Managemententscheidungen im Sinne der Prinzipal-Agent-Theorie gewährleisten (Verhaltenssteuerungsfunktion)[8]. Diese Kennzahlen unterstützen zudem die Operationalisierung der abstrakten Zielsetzung der Unternehmenswertsteigerung, um dieser handlungsleitende Wirkung zu verschaffen (z. B. über Werttreibersysteme und Werttreiberanalysen in Verbindung mit Zielvereinbarungen)[9].
Daneben kommt einer wertorientierten Unternehmenssteuerung auch die Aufgabe zu, mittels zukunftsorientierter, mehrperiodischer Planungskalküle wertsteigernde Strategien und Projekte zu identifizieren und umzusetzen. Daher sind auch Methoden einer kapitalmarktorientierten Unternehmensbewertung[10] zentraler Bestandteil der wertorientierten Unternehmenssteuerung. Die ursprünglich vornehmlich extern bedeutsamen Bewertungsmethoden zur Ermittlung von Zukunftserfolgswerten gewinnen durch die interne Ermittlung von Unternehmenswerten im Rahmen der wertorientierten Unternehmensführung einen neuen, höheren Stellenwert[11]. Um die Maxime der Unternehmenswertmaximierung praktisch umsetzen und wirksames Wertmanagement betreiben zu können, ist der anhand zukunftsbezogener Profile finanzieller Überschüsse abgeleitete Unternehmenswert regelmäßig (mindestens im Jahresturnus) – ohne dass konkrete Verkaufs- oder Übernahmeabsichten bestünden[12] – zu berechnen und der aktuellen Börsenkapitalisierung gegenüberzustellen. In dieser Weise werden „Value Gaps“ (Wertlücken) identifiziert[13] und deren Behebung kontrolliert, d.h., den für die Unternehmensführung verantwortlichen Mitarbeitern auf allen Managementebenen wird transparent, ob die Geschäftspolitik zur Steigerung des Unternehmenswertes beigetragen hat; die Kalküle externer Analysten werden antizipiert[14]. Wertorientierte Unternehmenssteuerung impliziert somit die Förderung jener Strategien und Bereiche, die den Shareholder Value erhöhen, entsprechend der Durchführung von Projekten, die zum Durchführungszeitpunkt einen positiven Wertbeitrag (Kapitalwert) aufweisen[15]. Daher spielen neben der fortlaufenden Quantifizierung und Überwachung von Unternehmenswerten auch investitionsrechnerische Kalküle sowie die Bewertung einzelner Projekte und Geschäftsbereiche[16] zur „rechnerischen Simulation der Wertbeiträge alternativer Investitions- und Marketingstrategien“[17] eine Rolle.
Rappaport und Copeland/Koller/Murrin als Urväter der Wertorientierung propagierten zunächst den Discounted Cash Flow (DCF) als Hauptansatzpunkt der wertorientierten Unternehmensführung[18]. Wie diverse Studien aufzeigen[19], nehmen jedoch Residualgewinnkonzepte, allen voran der Economic Value Added (EVA), im Rahmen der wertorientierten Steuerung in der Unternehmenspraxis mittlerweile eine herausragende Stellung ein (vgl. Abbildung 1). Das an sich mehrperiodische Shareholder-Value-Konzept wird, wegen des proklamierten direkten Bezugs zum Unternehmenswert, überwiegend mittels einperiodischer Residualgewinne als „Shareholder-Value-Spitzenkennzahl“ umgesetzt[20].
In Bezug auf die interne Unternehmensbewertung werden vorrangig die DCF-Methoden, insbesondere der WACC-Ansatz eingesetzt[21]. In der 2003 von KPMG durchgeführten Studie zu Shareholder-Value-Konzepten bei DAX100-Unternehmen behaupten zwar 68 % der befragten Unternehmen eine „Kompatiblität der verwendeten Hauptmethode der Unternehmensbewertung mit ihrer Shareholder-Value-Spitzenkennzahl, jedoch können [...] stellenweise inkompatible Ansätze von Shareholder-Value-Spitzenkennzahl sowie Hauptmethode der Unternehmensbewertung eine durchwegs konsistente Verbindung nicht immer bestätigen“[22]. Residualgewinnkonzepte können nicht nur als Unternehmensleistungsmaßstab (EVA/Delta EVA), sondern auch als Instrument der Unternehmensbewertung (Market Value Added (MVA)) eingesetzt werden[23]. In diesem Fall würde das Konsistenzproblem gar nicht erst entstehen; die Praxis nimmt den MVA jedoch noch kaum zur Kenntnis[24]. Dies wirft die Frage nach der grundsätzlichen Kompatibilität von Residualgewinnkonzepten und DCF-Methoden auf.
Abbildung 1: Studie: Shareholder Value-Spitzenkennzahlen bei DAX100-Unternehmen
Seit Jahrzehnten weist die betriebswirtschaftliche Literatur darauf hin, meist mit Verweis auf das sog. Lücke-Theorem, dass die Unternehmensbewertung mittels der erfolgsorientierten Residualgewinnkonzepte (bzw. die Unternehmensbewertung anhand von Ertragsüberschüssen unter Berücksichtigung kalkulatorischer Zinsen) und die auf Basis der zahlungsorientierten DCF-Methoden (bzw. die Unternehmensbewertung anhand von Einzahlungsüberschüssen) unter bestimmten Prämissen wertäquivalent sind[25]. Beide beruhen auf dem mittlerweile als maßgeblich anerkannten sog. Zuflussprinzip, wonach die Netto-Entnahmeüberschüsse der Anteilseigner für den Shareholder Value maßgeblich sind[26].
Im Rahmen dieser Arbeit soll die Beziehung zwischen Residualgewinn-basierten und Cash Flow-basierten Unternehmensbewertungsverfahren untersucht werden. Methodische Unterschiede und Gemeinsamkeiten, sowie Bedingungen und Einschränkungen der Wertäquivalenz werden diskutiert. Dabei wird deutlich, dass identische Finanzierungsprämissen Vergleichbarkeit und Wertäquivalenz determinieren.
Kapitel 2 gibt einen Überblick über die Residualgewinnkonzepte, Kapitel 3 legt den methodischen Grundstein für die einzelnen...