Orientierung am Neuen Testament
Die Krise der Kirche in Deutschland und Europa ist unübersehbar. Die Zeit, da man »Hymnen an die Kirche« (Gertrud von le Fort)1 gesungen hat, ist vorbei. Nach wie vor gibt es »Kirchenträume« (Norbert Lohfink)2: heute vor allem die Vision einer Gemeinschaft, die sich auf dem Wege weiß; bei einigen die Sehnsucht nach einem Freundeskreis, der Geborgenheit und Sicherheit im Glauben verleiht; bei wenigen die Utopie einer Kontrastgesellschaft, in der die Menschen anders leben, anders denken, anders arbeiten, anders beten als in der Umwelt. Doch für allzu viele sind diese Träume nur Schäume.
Die Situation scheint paradox: Zum ersten Mal in der Konzilsgeschichte hat das Zweite Vatikanum die Kirche zum großen Thema gemacht; zwei seiner Schlüsseldokumente, Lumen gentium (»Licht der Völker«) und Gaudium et spes (»Freude und Hoffnung«), sind von den aufgeschlossenen Zeitgenossen als wegweisende Reflexionen begrüßt worden, weil sie trotz aller Kompromisse, die eingegangen werden mussten, dem Prinzip des aggiornamento (Verheutigung) ebenso verpflichtet gewesen seien wie der Treue zum Ursprung. Allerdings ist die Wirkung kein durchschlagender Erfolg gewesen.
In den Kirchen der südlichen Hemisphäre und des ehemaligen Ostblocks haben sich Entwicklungen abgespielt, die einerseits die Identität der Kirchen auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, andererseits aber die moralische Autorität der Ortskirchen vergrößert haben. Es gibt wachsende Gemeinden, besonders in Afrika und Asien, mit neuen Formen des Gottesdienstes, der Spiritualität und der Ethik, die für die gesamte Kirche eine große Bereicherung sind, besonders wegen der Glaubensfreude, die sie ausstrahlen. Allerdings gibt es auch ein massives Erstarken der Freikirchen, die vielen Katholikinnen und Katholiken freier, offener, intensiver erscheinen als die Kirche, in der sie getauft worden sind.
Im Westen ist die Ära nach dem Konzil nicht nur eine Zeit massiver Kirchenkritik wegen ausgebliebener oder halbherziger Reformen, sondern auch eine Zeit großer Frustrationen über fehlende Resonanz in der Gesellschaft und starker Unsicherheiten hinsichtlich der neuen Rolle, die der Kirche als ganzer, aber auch den verschiedenen Gliedern innerhalb der Kirche, insbesondere den Klerikern und den Laien, nicht zuletzt den Frauen zufallen soll. Die Phänomene deuten nicht nur auf eine Krise der pastoralen Strategien und institutionellen Strukturen, sondern der kirchlichen Identität in einer demokratischen und pluralistischen Wohlstandsgesellschaft hin. Diese Identitätskrise resultiert einerseits daraus, dass die ekklesiologischen Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils erst in Ansätzen aufgenommen, realisiert und weitergedacht worden sind; andererseits resultiert sie daraus, dass in den Jahrzehnten nach dem Konzil eine Vielzahl neuer, ebenso rasanter wie tiefgreifender gesellschaftlicher Entwicklungen eingetreten ist, auf die neue Antworten gesucht werden müssen.
Die Geschichte der europäischen Neuzeit ist auch die Geschichte der Säkularisierung Europas. Weite Bereiche des Lebens, nicht nur die Wissenschaft und die Technik, auch der Staat und die Ökonomie, die Kultur und die Gesellschaft, selbst die ganz persönlichen Wertvorstellungen und Überzeugungen, nicht zuletzt die Sexualmoral und das Familienbild, werden immer weniger von religiösen Traditionen und Positionen beeinflusst, auch bei denen, die sich voll und ganz zur Kirche rechnen. Soziologen sprechen von einer fortschreitenden Segmentierung der Gesellschaft; die Religion ist nur einer von vielen Lebensbezirken, ohne große Ausstrahlung auf die anderen Bereiche und ohne große Einflüsse von ihnen. Die Konsequenzen sind unvermeidlich: Der Einfluss der Kirchen auf das öffentliche Leben ist gesunken. Die Identifikation mit der Kirche wird immer weniger selbstverständlich. Das elementare Glaubenswissen schwindet. Die Zahl der Kirchenaustritte schwillt wellenförmig an. Volkskirchliches Leben löst sich immer weiter auf. Die Zahl der Konfessionslosen steigt, zumal im Osten und Norden, zunehmend auch im Westen und im Süden. Die Symbiose von abendländisch-europäischer Kultur und christlicher Kirchlichkeit ist dahin. Wenn man nicht auf die offiziellen Mitgliedszahlen schaut, sondern auf die aktive Teilnahme am Gemeindeleben, bilden die Christen beider großen Konfessionen in weiten Teilen Deutschlands und Europas nur mehr eine Minderheit. Dass dies die Kirchen in eine schwere Identitätskrise stürzt, ist unvermeidbar.
Freilich zeigt sich in letzter Zeit auch, dass die Säkularisierungsschübe im Wirbel postmoderner Lebenskonzepte durchaus mit einer neuen Religionsfreudigkeit einhergehen können. Buchhandlungen machen beste Umsätze mit esoterischer Literatur. Firmen verordnen ihren Managern Kurse für positives Denken und transzendentale Meditation. Fernsehsendungen, die Lebenshilfe mit allerlei religiösen Betrachtungen verbinden, erzielen beachtliche Einschaltquoten. Das Interesse für fernöstliche, indianische und afrikanische Religionen ist nicht gering, wenn es auch nur einen kleinen Teil der Bevölkerung erfasst.
Das Phänomen ist ambivalent. Einerseits scheint es zu bestätigen, dass Religiosität eine Konstante menschlicher Existenz ist, auch in der Moderne. Andererseits signalisiert es eine tiefe Unsicherheit in den transzendentalen Suchbewegungen vieler heutiger Menschen. Wie Johann Baptist Metz analysiert hat, lassen sie sich auf eine eher vage, konsumorientierte, gewiss pluralistische, in jedem Fall synkretistische Religiosität ein, die mit einem eigentümlichen Ausweichen vor der Frage nach einem persönlichen Gott einhergeht.3 Er spricht von einer Gotteskrise; eher sollte man von einer Glaubenskrise sprechen. Die Religiosität der Menschen gerät in der Sog einer breiten geistigen Strömung, die in den letzten Jahren gerade in Deutschland zu einem tiefgreifenden Wandel des Lebensklimas geführt hat: Aus einer Konflikt- und Risikogesellschaft ist eine Erlebnisgesellschaft geworden.4 Zur Steigerung des eigenen Lebensgefühls ist – neben vielem anderen – auch das Religiöse durchaus willkommen; es wird freilich funktionalisiert: als Mittel zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz.
Ist diese Analyse nur in Ansätzen richtig, nimmt es nicht Wunder, dass die Kirchen von neuen Formen der Religiosität wenig profitieren können. Mit verbindlichen Entscheidungen, mit langfristigen Festlegungen, mit klaren Bekenntnissen, mit harten Forderungen verträgt sich dieser Trend nicht. Mehr noch: Die neue religiöse Welle verändert das Denken und Glauben der Kirchenmitglieder selbst. Die Lust an der Vielfalt, am Experiment, am Neuen und Unbekannten ist groß: Man nimmt sich die Freiheit, anders als die Kirchenleitungen zu denken; man sieht keine Probleme darin, das Glaubensbekenntnis für sich persönlich nur in Teilen als verbindlich zu erachten; man lässt sich im Gottesbild, in der Frömmigkeit, in der privaten Theologie ganz unbefangen von buddhistischen, hinduistischen, animistischen Traditionen inspirieren; die Differenzen zu anderen Religionen werden relativiert, von den Unterschieden zwischen den christlichen Konfessionen ganz zu schweigen.
Diese breite Bewegung ist unter vielerlei Rücksichten zweifellos positiv zu beurteilen: der Trend weg von Fixierungen auf kirchliche Autoritäten, weg von Selbstimmunisierungen vor fremden Einflüssen, hin zur Anerkennung des hohen Wertes anderer Religionen, hin zur Akzeptanz und Praktizierung eines legitimen, weil vom Evangelium selbst begründeten Pluralismus in Theologie und Kirche. Aber die Grenze zwischen Pluralismus und »Vielmeinerei« (Johann Wolfgang Goethe) ist fließend. Interessenvielfalt kann auch Oberflächlichkeit, Toleranz auch Profillosigkeit, Offenheit auch Denkschwäche kaschieren. Eine Unterscheidung der Geister tut not; sie vorzunehmen und für den Aufbau der Ekklesia zu nutzen, ist schwer. Die gesamtgesellschaftlichen Trends zur Privatisierung des Glaubens, zur Funktionalisierung der Religion und zum harmlosen Synkretismus sind so stark, dass sie durch einzelne Initiativen noch so engagierter Gemeinden, noch so begabter Lehrerinnen und Lehrer, noch so aufgeschlossener Pfarrer nicht gestoppt werden können. Sie verlangen nach einer neuen Ortsbestimmung der Kirchen, nach einer selbstkritischen Situationsanalyse, in der sie ihre Berufung neu zu entdecken hätten.
Die Kritik an den bestehenden Verhältnissen und die Suche nach Alternativen bleiben allerdings immer wieder an volkskirchlichen Modellen orientiert, die eine irgendwie geartete Symbiose von kirchlichem und gesellschaftlichem Leben voraussetzen.5 Das ist zum Scheitern verurteilt. Auch die klassische Pfarreistruktur löst sich langsam auf, mögen auch die Gemeinden besser sein als ihr Ruf. Die Suche nach Alternativen ist notwendig.
In dieser Situation nach den Kirchenbildern des Neuen Testaments zu fragen, kann nicht Ausdruck eines biblischen Romantizismus sein. Eine heile Anfangszeit der Kirche hat es nie gegeben. Die These, die Geschichte der Kirche sei eine einzige Geschichte des Abfalls von den Idealen Jesu, ist, so kritisch und aufgeklärt sie sich geben mag, selbst der ideologische Ausdruck eines unkritischen und unaufgeklärten Bewusstseins. Die sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Lebensbedingungen haben sich seit der urkirchlichen Zeit derart immens verändert, dass eine Rückkehr zu neutestamentlichen Kirchenstrukturen ins Abseits führen müsste.
Dennoch ist die Frage nach den neutestamentlichen Gemeindeformen von größter Aktualität. Jede Reform der Kirche, die wirklich zu neuen Ufern geführt hat, ist entscheidend durch die Rückbesinnung auf den...