EIN NEUER PAPST
Montag, 11. Februar 2013
In der Wohnung von Alejandro Russo klingelte am frühen Morgen das Handy. Der Rektor der Kathedrale von Buenos Aires traute der Botschaft zunächst nicht. »Der Papst ist zurückgetreten«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine Viertelstunde früher, um 11.54 Uhr MEZ, hatte die Deutsche Presse-Agentur dpa per Blitzmeldung folgende Nachricht in die Welt gesetzt: »Papst Benedikt XVI. gibt Pontifikat am 28. Februar auf.« Die Welt hielt den Atem an. Sieben Minuten später folgte die Klarstellung der dpa: Papst Benedikt XVI. habe bei einem Treffen mit Kardinälen in einer lateinisch gehaltenen Rede angedeutet, wegen seiner angeschlagenen Gesundheit sein Amt zum 28. Februar abgeben zu wollen. Radio Vatikan sprach im deutschen Programm – eine von 39 Sendesprachen – vom Amtsverzicht des Papstes. Es wurde vor allem eine Frage diskutiert: Warum sah sich Joseph Ratzinger plötzlich nicht länger in der Lage, die Weltkirche zu regieren? War Benedikt XVI. krank oder am Ende seiner Kräfte? War er ins Visier der Mafia geraten? Oder hatte er Petri Stuhl geräumt, um es auf diese Weise den Kurienmitgliedern heimzuzahlen, die ihm mit Skandalen und Unterlassungen das Regieren so erschwert hatten?
In Buenos Aires, in 13.000 Kilometern Entfernung, feierten die Argentinier an diesem heißen Montagmorgen den Karneval. Millionen Menschen hatten die Brückentage Montag und Dienstag zwischen dem Wochenende und dem Aschermittwoch dazu genutzt, einen Kurzurlaub einzulegen. Die pulsierende Hauptstadt Argentiniens, der kulturelle Mittelpunkt Südamerikas, mit ihren fast drei Millionen Einwohnern war wie leergefegt. Eine Geisterstadt. Alejandro Russo setzte sich sofort nach Erhalt der Nachricht mit dem Kardinal der Erzdiözese Buenos Aires, dem Jesuiten Jorge Mario Bergoglio, in Verbindung.
»Eminenz, der Papst ist zurückgetreten. Wissen Sie etwas davon?«
Den als Sohn italienischer Einwanderer am 17. Dezember 1936 in Buenos Aires geborenen Bergoglio, der 1958 als damals 22-Jähriger in das Noviziat des Jesuitenordens eingetreten war, erreichte der Anruf in dem kleinen, einfachen Dienstzimmer, das er an der Kathedrale hatte, nur 100 Meter vom Regierungspalast (der Casa Rosada) entfernt, also direkt an der Plaza de Mayo, mitten im Regierungsviertel der argentinischen Hauptstadt.
»Ich bekomme einen Anruf nach dem anderen, aber aus Rom hat mich bislang noch niemand informiert. Weißt du Näheres?«, fragte Bergoglio bei Russo nach.
»Ich habe die Papstrede gerade im Fernsehen gesehen.«
»Wo bist du jetzt?«
»Bei mir zu Hause. Ich liege im Bett.«
»Dann zieh dich an und komm zu mir ins Büro.«
Russo brauchte keine halbe Stunde, um die Calle San Martín 42 zu erreichen und durch einen kleinen Nebeneingang zu Bergoglios Dienststelle zu gelangen. Der Kardinal, dessen Wohnung sich im gleichen Gebäude, dem Sitz des Erzbischofs von Buenos Aires, befand, telefonierte gerade.
»Grazie, grazie«, hörte er Bergoglio sagen.
»Warum bedankst du dich?«, fragte Russo.
»Sie wollen für mich beten«, erwiderte Bergoglio und bezog sich damit auf die letzten Worte seines Gesprächspartners aus dem Vatikan: »Pregiamo per te.« Einigen in Rom war bekannt, dass Bergoglio seit seiner Bischofsernennung immer um ein Gebet bat. Es ist eines seiner Markenzeichen, mit dem er zum Ausdruck bringen möchte, dass er sich der Grenzen seines Wirkens bewusst ist und sich stets auf Gottes Hilfe angewiesen weiß.
Joseph Ratzinger habe eine revolutionäre Geste vollbracht, die einen Umschwung in der Geschichte des Vatikans bedeuten würde – so Bergoglios erste Stellungnahme, die er Russo nach Beendigung seines Telefonats anvertraute.
Noch am Vortag hatte er, wie stets, Klartext geredet und die Argentinier dazu aufgerufen, dem »Imperium des Geldes« und dessen teuflischen Auswirkungen abzuschwören und sich dem Wechsel zu öffnen. »Langsam gewöhnen wir uns daran, über die Medien die traurige Realität der heutigen Gesellschaft verkündet zu bekommen. Wir leben mit einer tödlichen Gewalt zusammen, einer Gewalt, die uns umbringt und Familien auseinanderdividiert, einer Gewalt, die Kriege und Konflikte schürt«,1 hatte er zu Beginn der Fastenzeit erklärt.
Die Frage nach dem Nachfolger – aus südamerikanischer Sicht
In Brasilien, dem größten Land Südamerikas, galt seit der Bekanntgabe des Rücktritts von Benedikt XVI. Dom Odilo Pedro Kardinal Scherer aus der Megalopolis São Paulo als einer der aussichtsreichsten Anwärter auf den Stuhl Petri. Der Nachfahre deutscher Einwanderer aus dem Saarland, der außer Deutsch und Portugiesisch auch Englisch und Französisch beherrscht, 2007 in den Kardinalsstand berufen wurde und die größte brasilianische Diözese leitet, galt als konservativ und weltgewandt. Wegen des Weltjugendtages, der im Juli 2013 in Rio de Janeiro stattfand, schaute man mit besonderem Interesse auf den jüngsten der fünf Kardinäle, die Brasilien zur Papstwahl zum Konklave entsandte – schließlich würde die Stadt am Zuckerhut zum Ziel der ersten Auslandsreise des neuen Heiligen Vaters werden. Zwar wusste in Brasilien vor Mitte März noch niemand, ob der neue Würdenträger beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro die Massen auf Portugiesisch begrüßen würde – aber heißt es nicht im Volksmund, dass Gott ein Brasilianer sei?
Die Brasilianer ihrerseits sahen in Kurienkardinal Leonardo Sandri, der mit 69 Jahren sechs Jahre älter als Kardinal Scherer und neben Jorge Mario Bergoglio zweiter argentinischer Kardinal im Konklave war, ebenfalls einen ernstzunehmenden Kandidaten. Sandri, der bereits als Nuntius in Mexiko und Venezuela gewesen war, hatte in seiner damaligen Position als Substitut im vatikanischen Staatssekretariat in der Nacht vom 2. April 2005 die traurige Aufgabe zu erfüllen, auf dem Petersplatz den Tod von Johannes Paul II. zu verkünden. Sandri wurde 2007 von Benedikt XVI. zum Kardinal ernannt.
Jorge Bergoglio, stärkster Konkurrent von Joseph Ratzinger beim Konklave von 2005, wurde 1997 zum Erzbischof von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal ernannt. Er galt wegen seines Alters von 76 Jahren eher als ein Außenseiter für die Nachfolge des zurückgetretenen Papstes. Bergoglio hatte Benedikt XVI. bereits im Dezember 2011 seinen Amtsverzicht angeboten. Längst hatte der Jesuit geplant, in die Residenz für ältere Priester zu gehen, in das schlichte Heim in der Straße Condarco im Stadtteil Flores, wo er geboren wurde. Aber Benedikt XVI. entschied anders und verlängerte Bergoglios Amtszeit als Erzbischof dieser großen Diözese um weitere zwei Jahre – weit mehr als eine päpstliche Höflichkeitsgeste, die in solchen Situationen üblich ist. Trotzdem rechnete der Argentinier im Innern fest damit, noch im Laufe des Jahres 2013 aus diesem Amt entlassen zu werden, auch wenn er gegenüber seinen engsten Mitarbeitern durchaus nicht den Anschein erweckte, wegen seines Alters oder aus gesundheitlichen Gründen abdanken zu müssen.
Der Gedanke, dass sich die Zukunft des Kardinals außerhalb von Buenos Aires abspielen könnte, war den meisten Vertrauten von Jorge Bergoglio völlig fremd. Zu tief war Bergoglio in den Sitten und Gebräuchen seiner geliebten Geburtsstadt verwurzelt. Es gab jedoch auch Stimmen, die dem Kardinal in Europa dennoch nicht unerhebliche Chancen einräumten, darunter die Mitglieder der argentinischen Bischofskonferenz. So hatte deren Sprecher, Federico Walls, schon wenige Stunden nach dem historischen Rücktritt von Papst Benedikt XVI. erklärt, dass Bergoglio in ganz Lateinamerika ein sehr respektierter Kandidat sei.2 Während bei den Buchmachern in der britischen Hauptstadt der Name von Jorge Bergoglio weit abgeschlagen auf Platz 44 zu finden war, hatten offenbar einige wenige in den kirchlichen Kreisen von Buenos Aires den Kardinal nicht gänzlich abgeschrieben.
Warum auch sollte Jorge Mario Bergoglio dieses Mal erneut am Votum der Kardinäle scheitern? Schließlich war der Argentinier vielen der Kardinäle, die am letzten Konklave vor acht Jahren teilgenommen hatten, sehr gut in Erinnerung geblieben. Schon damals galt der Südamerikaner einigen italienischen wie französischen Medien als weltoffener, behutsamer Vermittler.
Die Regierung in Buenos Aires, wie es hieß, favorisierte den kanadischen Kardinal Marc Ouellet, den Präfekten der Kongregation für die Bischöfe und Vorsitzenden der Kommission für Lateinamerika. Für die meisten Kurienkardinäle galt Bergoglio zunächst als Außenseiter. Nicht so für den Kardinalbischof und Leiter des Konklaves Giovanni Battista Re, einen engen Freund und starken Befürworter seiner Kandidatur. Re könnte hinsichtlich einer Mehrheitsfindung eine entscheidende Rolle auf dem Weg Bergoglios zum Oberhaupt der katholischen Kirche gespielt haben. Viele Kardinäle begrüßten, dass der Argentinier über keine eigene Lobby verfügte. Nach Auskunft der ehemaligen Menschenrechtlerin Alicia Oliveira – einer langjährigen Freundin und Vertrauten von Bergoglio, deren jüngster Sohn sein Patenkind ist – soll es um Héctor Aguer, den Erzbischof der argentinischen Provinzhauptstadt La Plata, Kreise gegeben haben, die seine Kandidatur kolportierten. Oliveira kennt Bergoglio seit Anfang der 70er-Jahre und ist auf Einladung von Cristina Kirchner zur Amtseinführung nach Rom in der Präsidentenmaschine mitgeflogen.
Der neue Papst solle ein Lateinamerikaner sein, hörte man unisono in den wichtigsten Hauptstädten des Subkontinents. Schließlich sei dies nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch ein tragfähiger Kompromiss, sollte bei den Wahlgängen im Konklave eine...