Den aussagekräftigsten Satz, der Brechts politisches Theater am passendsten beschreibt, hat er selbst geäußert: „Ich wollte auf das Theater den Satz anwenden, daß es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern“.[40] Ausgangspunkt für diese Absicht bildet die Konzeption des eingreifenden Denkens, die schließlich zu seinen Theatertheorien führt. Diese stellen seine Art des politischen Theaters dar.
Brechts Theaterkonzeptionen sind durch die Hinwendung zum Marxismus geprägt. Sie ermöglichte ihm eine neue Qualität seiner Stücke. Beeinflusst wurde er dabei vor allem durch die Theorien von Hegel und Marx, die ihm von seinen Bekannten Karl Korsch, Fritz Sternberg und Ernst Bloch näher gebracht wurden.[41] Damit begannen seine Überlegungen zu der Kategorie des „Eingreifenden Denkens“. Diese Zielsetzung entstand in den frühen dreißiger Jahren. Um sie verstehen zu können, muss zunächst die widersprüchliche Verbindung von „Eingreifen“ und „Denken“ beleuchtet werden. Unter „Denken“ wird eine Distanzierung von Subjekt zum Objekt verstanden. Es beschreibt eine Verbindung zu einem Objekt oder einem Ereignis, das analysiert und auf Logik überprüft wird. „Eingreifen“ ist das Gegenteil von „Denken“, da es eine Handlung charakterisiert, die vom Subjekt ausgeht. In Brechts Sinne meint das „Eingreifen“ eine Verhaltensweise, die auf das Objekt oder das Ereignis einwirkt, wodurch die Änderung der Welt möglich wird. Während in der Realität Kreativität von der Zuspitzung der Widersprüche am Leben gehalten wird, also durch dynamische Vorgänge, versucht Brecht durch „Eingreifendes Denken“ von einer solchen Dynamik zu distanzieren. Seine Konzeption ist eine Einstellung, die nach Erkenntnis und Bewusstwerdung der Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangt: „Erkannt zu haben, daß das Denken was nützen müsse, ist die erste Erkenntnis“.[42] Als Folge dieser Erkenntnisse soll es zu Anwendung und Wirkung in der Realität kommen. Dies versucht Brecht mit besonderen ästhetischen Formen hervorzubringen.[43] Dazu benutzt er zunächst seine andersartige Theorie der Lehrstücke, die den Weg zu einer spezielleren Form, das epische Theater, ebnen. Darin produziert er Widersprüche, die die Passivität des Publikums durchbrechen sollen und die umgebenden Verhältnisse beleuchten. Seiner Meinung nach ist eingreifendes Denken nur möglich, „wenn es [das Individuum] um sich selbst und das Verhalten der Umwelt Bescheid weiß. Aussichtsreich nur, wenn es imstand ist, die Umwelt zu beeinflussen“.[44] Somit versucht er in seinem politischen Theater, das Epische, diese Determinanten hervorzurufen: die Erkenntnis über die Realität und das Bewusstwerden von Handlungsmöglichkeiten. Das politische Theater Bertolt Brechts ist demnach in dem epischen Theater und den Lehrstücken zu finden.
Brecht leitet von seinen Erfahrungen mit der Theaterpraxis ein theoretisches Modell ab, das unter dem Namen des „epischen Theaters“ bekannt geworden ist. Dieses entwickelte sich in verschiedenen Phasen, die hier in Kürze dargestellt werden sollen.
Die ersten systematischen Äußerungen zu seiner Vorstellung von Theater liefern Anmerkungen, die er in den Jahren 1930 bis 1932 zu folgenden Stücken abfasste: „Dreigroschenoper“, „Mann ist Mann“, „Die Mutter“ und zu der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. In diesen Texten wertet er seine Erfahrungen aus, die er mit den Inszenierungen seiner Stücke gemacht hat. Der letztgenannten Anmerkung zur Oper fällt dabei ein besonderes Gewicht zu, da in dieser die Akzentverschiebungen, welche vom dramatischen zum epischen Theater erfolgen, deutlich gemacht werden. Weiterhin ist erkennbar, dass Brecht versucht, das Lehrhafte eines Theaterstücks in den Vordergrund zu stellen, wobei jedoch der Unterhaltungsaspekt in den Hintergrund treten soll. Er möchte aus „dem Genußmittel den Lehrgegenstand“[45] entwickeln.[46] Brecht, der bereits zu dieser Zeit als ein Kenner des Marxismus gilt, beabsichtigt „dem Theater eine gesellschaftsändernde Funktion zu geben“.[47]
Der Autor sieht dabei keinen Gegensatz zwischen der Belehrung und der Unterhaltung im Theater. Er beurteilt das Lernen an sich als Genuss, wodurch er an seinen Absichten festhält, das Genussmittel Theater in einen Lehrgegenstand zu überführen. Diese Meinung differenziert er in seiner Arbeit „Über Experimentelles Theater“, in der er das Vergnügen am Lernen von der jeweiligen Klassenlage und somit von der politischen Haltung des Zuschauers abhängig macht. Dabei soll die politische Haltung durch Provokation in den Stücken vom Theaterbesucher eingenommen werden, wodurch gleichzeitig der Kunstgenuss gesteigert wird. Das Publikum, das sich mit seiner Klasse in der Gesellschaft identifiziert, ist interessiert am Lernen und daher durchaus fähig einen Lerngegenstand zu genießen. Demnach kommt es zu ,,einer Verschmelzung der beiden Funktionen Unterhaltung und der Belehrung“.[48]
Eine weitere Entwicklungsstufe wird im Jahre 1948 gleichzeitig mit Brechts Arbeit „Kleines Organon für das Theater“ erreicht, die erstmalig in komplexer Form seine theoretischen Überlegungen für das epische Theater fixiert. Bereits im Vorwort schränkt er seine zuvor postulierte Meinung über Theater als Lehrgegenstand ein:
Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern, nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen.[49]
Diese Äußerung ist allerdings nicht mit einer Abkehr Brechts von seinem politischen Theater gleichzusetzen, sondern zielt in eine ganz andere Richtung. Er schränkt seine Aussage, indem er fortfährt: „Behandeln wir das Theater als Stätte der Unterhaltung, wie es sich in seiner Ästhetik gehört und untersuchen wir, welche Art der Unterhaltung uns zusagt“.[50] Fraglich ist daher, welche Art der Unterhaltung nach Meinung Brechts seinem Publikum zusagt. Es wird deutlich, dass es sich in diesen Darstellungen keinesfalls um Gegensätze zu den oben erläuterten handelt, sondern um eine Differenzierung seiner Bemerkungen. Die Unterhaltung und die Freude, welche der Zuschauer aus seinem Theaterbesuch mitnehmen soll, sieht Brecht in dem „Gefühl der Freude über eine neue Erkenntnis, über eine Erweiterung seines Wissens“.[51]
Im Jahre 1953 veröffentlicht Brecht die Abfassung „Die Dialektik auf dem Theater“, was eine Erweiterung seiner bisherigen theoretischen Schriften darstellt. Besonderes Augemerk liegt hierbei auf dem Gegensatz von Vernunft und Gefühl, welcher nach Brecht zu einer großen Produktivität führen kann:
Die aufsteigende neue Klasse hingegen und jene, die mit ihr zusammen kämpfen, haben es mit Vernunft und Gefühl in großem, produktivem Widerspruch zu tun. Uns drängen die Gefühle zu äußerster Anspannung der Vernunft, und die Vernunft reinigt unsere Gefühle.[52]
Zusätzlich steht Brechts Theater dem Illusions- und Identifizierungstheater von Stanislawskys, welches von der kommunistischen Obrigkeit bevorzugt wurde, entgegen. Brecht versucht durch seine Neuveröffentlichung sein episches Theaters als das wahre marxistische Theater durchzusetzen, sodass ihm eine Umbenennung in dialektisches Theater nötig erscheint[53]: „Episches Theater ist für diese Darbietungen wohl die Voraussetzung, jedoch erschließt es noch nicht allein die Produktivität und Änderbarkeit der Gesellschaft, aus welchen Quellen sie das Hauptvergnügen schöpfen müssen.[54] Im Vordergrund steht demnach die Aufdeckung von Widersprüchlichkeiten, wodurch gewährleistet wird, dass Veränderbarkeit sichtbar gemacht wird und Veränderungen möglich sind.[55]
Anhand der aufgeführten Veränderungen in Brechts Theorie des Theaters und den zunächst sporadischen Arbeiten zu diesem Thema wie die Anmerkungen zu den verschiedenen Stücken wird deutlich, dass sich der Regisseur und Autor zunehmend mit konkreteren und umfassenderen Ausführungen befasste. Dies liegt nicht an irgendwelchen neuen theoretischen Erwägungen seinerseits, sondern in der Notwendigkeit, seine Theorie über das Theater an den sich ändernden Fluss der Praxis anzupassen. Dabei ist erkennbar, dass Brecht dafür auf seine praktischen Erfahrungen, die er durch seine Inszenierungen erhielt, zurückgriff und somit seine Theatertheorie als Wechselwirkung von Theorie und Praxis verstand.[56] Daher sollten Brechts schriftlich fixierte Vorstellungen über das epische Theater nicht als fest geltende Regeln betrachtet werden, die nicht überschritten werden dürfen, sondern als eine Richtschnur, wie sein Theater funktionieren könnte. Viele Kritiker warfen Brecht und seinen Inszenierungen unbegründet vor, dass er sich als Regisseur nicht an seine eigenen...