Lob des Durchwurstelns oder: Sich glücklich durchs Leben improvisieren
Wie Sie erkennen, daß Sie sich mit dem Versuch, eine Riesenkarriere, jede Menge Kinder, absolute Unabhängigkeit, großen Reichtum, strahlende Schönheit, umfassende Geborgenheit, ewige Jugend, zügellosen Sex und ein bequemes Leben unter einen Hut zu bringen, ein wenig viel abverlangen – und wie Sie es mit fröhlichem Durchwursteln und selbstbewußtem Improvisieren hinbekommen können, einiges davon doch noch zu erreichen.
Wir Menschen mögen grundsätzlich keine Kompromisse, das haben Untersuchungen immer wieder gezeigt. Sie machen uns unglücklich, weil wir das Gefühl haben, nur etwas Halbgutes bekommen zu haben und nicht das Beste. In solchen Momenten springen einem gern Prominente ins Auge, Angelina Jolie und Brad Pitt zum Beispiel. Das strahlende Paar lächelt uns von jedem zweiten Illustrierten-Cover entgegen, sexy, in den besten Jahren, vermögend, liebevoll, schön, entspannt und selbstbewußt; zudem haben die beiden jede Menge Kinder und sind ständig unterwegs, entweder zum Drehort ihres nächsten erfolgreichen Films oder zu ihrem Landhaus in Europa, wo gerade die wilden Malven blühen oder irgend etwas anderes Top-Exotisches. Was das mit uns zu tun hat? Viel, denn so, wie sie da abgebildet sind, lassen sie uns glauben, sie hätten jene magische Formel gefunden, nach der wir uns sehnen: Sie verstehen es ganz offensichtlich, alles im Leben zu bekommen, ohne Kompromisse zu machen, und sich gleichzeitig alle Optionen offenzuhalten, einschließlich der, auch mal im Jogginganzug und mit Gummilatschen den Müll rauszubringen und dabei fotografiert zu werden.1 Natürlich wissen wir, daß das strahlende Paar auch so seine Probleme hat – im letzten gemeinsamen Urlaub mit George Clooney regnete es ein paar Tage, und ein undankbares Ex-Kindermädchen plauderte intime Details aus (wir lesen regelmäßig darüber). Natürlich wissen wir, daß die anmutig-entspannten Szenen mit den Kindern sorgsam inszeniert wurden, wir sind weder naiv noch gutgläubig – und doch kann der flüchtige Blick auf eines dieser Brangelina-Cover etwas tief in unserem Inneren anrühren, wie ein feiner Nadelstich in unsere Seele fühlt er sich an.
Dahinter steckt ein ebenso einfacher wie hartnäckiger Impuls. Im Grunde unseres Herzens wollen wir das auch: Alles! Zugleich! Und uns dabei nicht festlegen! Nein, wir sind weder habgierig noch verblendet, noch unintelligent. Ganz im Gegenteil: Wenn wir uns morgens im Spiegel sehen, ringen wir uns durchaus dazu durch, uns für liebenswerte, gutaussehende, kluge, selbstbewußte und aufgeklärte Zeitgenossen zu halten, die klare Entscheidungen treffen, an der Karriere arbeiten und samstags auf den Wochenmarkt gehen, um sehenden Auges überteuertes Biogemüse zu kaufen. Aber vom leuchtenden Vorbild der beiden Hollywoodstars wähnen wir uns denkbar weit entfernt. Unsere Beziehung zum Beispiel. Eigentlich ist sie ganz gut, wäre da nicht diese Unentschiedenheit des Partners, der sich seit Jahren nicht festlegen kann, wo er wohnen, ob er heiraten, ob er Kinder haben und die nackte Glühbirne im Wohnzimmer durch eine Designerlampe ersetzen möchte. Und der Job? Auch so lala, anfangs noch spannend, mittlerweile von allzuviel Routine bestimmt, aber angesichts der allgemeinen Krise eine Art Lebensversicherung, die wir nicht kündigen sollten. Und schließlich die kleinen Kränkungen, die uns der eigene Körper zufügt, wenn wir aus der Dusche steigen und uns beiläufig im Spiegel mustern; da müssen wir feststellen, daß der Kampf gegen die Cellulite nicht mehr gewonnen werden kann oder der vor kurzem noch scherzhaft kommentierte winzige Bauchansatz sich zu einer nicht mehr ignorierbaren Problemzone entwickelt hat. Es sind Gedanken wie diese, die uns in die Buchhandlungen treiben und die endlosen Regale mit den Ratgebern abschreiten lassen, geben sie uns doch ein großes Versprechen: Es gibt absolut nichts, was sich nicht in drei Tagen, in zehn Lektionen oder mit sieben Weisheiten lehren ließe. Kein Buch, das uns nicht in die Lage versetzen würde, binnen kurzer Zeit unser Leben zu ändern und alles zu erreichen: Alles! Zugleich! Und ohne uns dabei festzulegen!
Wir erwarten viel von uns, sehr viel. Wir wollen alles schaffen: eine Riesenkarriere stemmen, jede Menge Kinder bekommen, dabei jedoch völlig unabhängig bleiben, reich werden, schön sein, ewig jung bleiben, eine vertrauensvolle Beziehung führen, zügellosen Sex erleben und es rundum bequem haben.
Doch damit nicht genug: Wir haben auch nicht die geringste Lust, irgendwelche Kompromisse einzugehen und uns durch unsere Entscheidungen andere Optionen zu verbauen.
Gegen all das ist prinzipiell nichts einzuwenden. Erwartungen und selbstgesteckte Ziele spornen uns an, uns nicht mit dem Nächstbesten, sondern erst mit dem Allerbesten zufriedenzugeben. Doch wenn wir die Sache genauer besehen, werden wir entdecken, daß wir uns an einer Aufgabe versuchen, die wir nicht schaffen können. Nicht weil wir untalentiert, träge oder unfähig wären. Im Gegenteil: Wenn wir uns ins Bewußtsein rufen, wie wir die auseinanderstrebenden Teile unseres Lebens zusammenhalten, wie wir unsere Wünsche und Ideale miteinander zu versöhnen suchen, wie wir gleichzeitig dreigängige Menüs kochen, ein paar SMS beantworten und mit unserem etwas anstrengenden Vater telefonieren (der unsere Anrufe gerne mit dem Satz «Nie rufst du an!» eröffnet), dann werden wir Respekt vor uns haben. Daß es mit unserem Lebensentwurf trotz aller Mühen nicht klappt, liegt vielmehr daran, daß wir etwas Unmögliches versuchen. Schon eine feste Beziehung, ein autonomes Leben, ein oder zwei Kinder, ein kuscheliges Heim und eine berufliche Karriere miteinander verbinden zu wollen ist eine ziemliche Anstrengung; wenn wir uns aber zugleich nicht wirklich festlegen wollen (um für alles mögliche offenzubleiben) und wenig Lust verspüren, uns auf Kompromisse einzulassen (weil wir glauben, die ideale Beziehung, den idealen Job und das ideale Leben erst noch zu finden), fordern wir den Mißerfolg geradezu heraus und manövrieren uns in eine Sackgasse aus Hoffen, Bangen und Traurigsein.
Das Große Nichts ist prinzipiell nicht schlecht – macht aber auch Arbeit
Da wir die Ursachen für Probleme gern bei uns selber suchen, wird uns folgender Hinweis das Leben ein wenig leichter machen: Mit alledem sind wir nicht allein! Und wir sind nicht unbedingt schuld daran! Vielmehr gehören wir einer Generation an, die in eine offene Gesellschaft hineingeboren wurde: Keine Tabus mehr, keine religiöse Gängelei und keine verbiesterten Tanten und Onkel, die den Jugendlichen sagen, daß sie sonntags das kleine Brave beziehungsweise den dunklen Anzug tragen sollen. Leider produzierte das historisch einzigartige Entrümpelungsprojekt namens Aufklärung, das die offene Gesellschaft letztlich hervorbrachte, auch einige Kollateralprobleme. Unter anderem verlor das klassische Beziehungsmodell Vater-Mutter-Kind seine Verbindlichkeit. Das ist einerseits kein Schaden, weil es die Frauen eingesperrt und die Männer auf die Rolle der Familienernährer reduziert hat; andererseits trat an die Stelle der oft ungerechten und repressiven Strukturen das Große Nichts. Keine Vorbilder mehr, an denen man sich orientieren oder auch abarbeiten kann, wenn einem für eigene Modelle die Phantasie fehlt; keine Konventionen mehr, die Beziehungen äußere Stabilität verleihen. Statt dessen müssen wir alles alleine machen. Alles! Entscheiden, mit wem wir wie lange zusammenleben; ob und, wenn ja, wann wir Kinder bekommen; wie wir sie erziehen; welche Rolle wir als Frau anstreben und welche als Mann; ob wir die Lebensgemeinschaft festigen oder scheitern lassen. Zugleich sehen wir uns einer Welt ausgesetzt, die von Kompromissen wenig hält, von der Forderung der Maximalisten, lieber auf eine Beziehung oder einen Job zu verzichten, statt sich mit Halbheiten zufriedenzugeben, dafür um so mehr. Das geheime Motto, das hinter allem steht: «Ich will frei sein, mir nichts vorschreiben lassen, nicht in Routine erstarren, mich weiterentwickeln.»
Wer wissen will, wie neu – historisch gesehen – diese Herausforderungen sind, muß nur die eigenen Eltern fragen. Wer es tut, bekommt Geschichten über Lebensentscheidungen zu hören, die klingen, als stammten sie aus grauer Urzeit, dabei sind sie gerade einmal sechzig Jahre her. So hat zum Beispiel mein Vater das Studium der Bodenkultur begonnen, weil seine Eltern meinten, er solle was studieren, bei dem er «viel an der frischen Luft» sei; als er es beendet hatte, entschied sein Professor kurzerhand: «Sie gehen nach G.! Dort wird eine Stelle frei, die nehmen Sie.» Und mein Vater? Er nahm seine junge Frau und ging. Und die? Ging einfach mit. Und beide leben sie heute noch dort, wo sie einst vom Herrn Professor hingeschickt wurden.
Daß es heute jedem einzelnen vorbehalten bleibt, das für ihn passende Lebens- und Beziehungsmodell zu finden und am Leben zu erhalten, hat gravierende Auswirkungen. So leiden siebenunddreißig Prozent der Männer unter Bindungsängsten; scheitern über fünfzig Prozent der Ehen; bekommen immer weniger Paare immer später immer weniger Kinder; schieben die Menschen ihre zentralen Lebensentscheidungen immer länger auf (und dehnen damit ihre Jugend bis über das dreißigste Lebensjahr aus); wachsen fünfzehn Prozent der Kinder bei nur einem Elternteil auf, meistens bei den Müttern (Tendenz steigend); reden die allermeisten Männer davon, unbedingt Kinder haben zu wollen, stellen aber Vorbedingungen, die mehr der Verhinderung des Unternehmens dienen als dessen Realisierung.2 Mit einem Wort: Steckten die Menschen...