September-Dachse
Mitte September. Zwei neun Kilogramm schwere Dachsfähen habe ich vor 14 Tagen beim Ansitz am Pass mit der Flinte bereits erlegt. Jetzt jedoch, eine halbe Stunde vor der Abenddämmerung, sitze ich auf einem nur 20 Meter vom Bau entfernten Hochsitz und bin guter Hoffnung, dass es auch heute wieder klappt, einen Schmalzmann zu erlegen.
Die offene Kanzel befindet sich inmitten uralter Eichen. Gleich mehrere Sonnenlichtbündel strahlen durch die Lücken im Blätterdach und bringen den Waldboden zum Glühen.
Im Baum direkt über mir, das weiß ich, hat die Hohltaube gebrütet. Ohne jede Gegenleistung und völlig kostenlos hat ihr der Schwarzspecht das Kinderzimmer hergerichtet. Bis zum Waldrand sind es gerade mal 30 Meter, und als Waffe führe ich meine bewährte Büchse im Kaliber 7x57 mit lichtstarkem Zielfernrohr.
Die Kontrolle eine Woche zuvor bestätigte: Der mit drei Ausgängen versehene Bau ist befahren. Wie mit einem Besen bearbeitet, führte der nahezu blattfreie, pieksaubere »Pirschweg« direkt ins Innere der Höhle und sprach Bände. Unverkennbar: Hier schleppte ein Dachs trockenes Gras und Getreidestängel an, um seine Winterbehausung auszupolstern.
Vor Jahren hatte ich an einem anderen Bau beobachtet, wie eine alte Dachsfähe mit dem »Nistmaterial« zwischen den Vorderläufen rückwärts in den Bau einschliefte. Ein faszinierender Anblick. Erst während der Dämmerung am letzten Tag im Oktober gelang es mir, sie zu erlegen.
Zurück zu meinem Ansitz. In drei Tagen haben wir Vollmond, und ich richte mich darauf ein, dass sich der Höhlenbewohner erst sehr spät blicken lässt.
Es beginnt dunkel zu werden. Draußen, auf weiter Flur, hat sie ein wenig länger zu tun. Mitten hinein in die Stille flöten zwei Amseln ihr Abendlied.
In der letzten Dämmerungsphase nehmen die bizarren Schatten um mich herum zu. Je länger ich hinschaue, umso ungewöhnlicher präsentieren sie sich. Wenn die Blicke lange genug verweilen, beginnen sich die Objekte zu bewegen. Hexentanz! Ich kenne es und lasse mich nicht täuschen.
Mit Gezeter und Getick ziehen sich die Amseln zur Nachtruhe zurück ins Geäst, und nicht weit entfernt ruft ein Kauz sein Kiewitt. Weil es sich anhört wie »Komm mit«, wird er Totenvogel genannt. In den Kronen der Eichen rauscht der Wind, und mein Herz jubelt. Heute Nacht lässt sich der Maskenmann blicken. Ich bin sicher.
Der Himmel ist klar. Nicht mehr lange, und der Mond wird aufgehen. Während ich bei noch guter Sicht mit dem Fernglas abwechselnd zu den drei Öffnungen der Röhren schaue, steigt die Spannung, denn es ist immer wieder etwas Besonderes, wenn sich ein Dachs im allerletzten Licht wie aus dem Nichts schemenhaft auf die Bildfläche schiebt.
Ein Reh! Kaum 25 Meter entfernt schleicht ein Jährling durch die Büsche. Deutlich kann ich sogar mit bloßen Augen das Kurzwildbret erkennen. Eindeutig ein junger Bock.
Apropos Kurzwildbret. Wie war das noch damals? Als eine junge, hübsche Frau während der mündlichen Jägerprüfung zum Thema Kurzwildbret befragt wurde, äußerte sie zu guter Letzt augenzwinkernd, dass dieses allzu kurz jedoch nicht sein sollte … Klar, dass sie die Prüfung mit Bravour bestand. So viel Fachkenntnis muss ja schließlich belohnt werden.
Als der Waldkauz zum vierten Mal mit schrillem Ruf die Stille unterbricht, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Aber noch tut sich nichts. So vergeht die Zeit. Schließlich ist es stockdunkel. Würde sich der Dachs jetzt blicken lassen, ich könnte keinen sicheren Schuss abgeben.
Knack! Da ist doch was. Aber nicht am Bau, sondern etwa 30 Meter weiter links. So intensiv ich auch durchs doppelte Glas schaue, ich kann nichts erkennen. Es ist zu dunkel. Ein Reh, ein Hase, ein Fuchs, ein Marder? Ich weiß es nicht. Ein Dachs dürfte es nicht sein.
Wieder vergeht eine gute halbe Stunde, ohne dass ich irgendwo eine Bewegung erkennen kann. Dann jedoch kommt Licht ins Dunkle: Der Trabant gibt sich die Ehre. Viel zu langsam für mich erhebt er sich über den Horizont und spendet zwischen den Baumstämmen spärliches Licht.
Ob sich Schmalzmann während der Dunkelheit klammheimlich davongemacht hat? Ich glaube nicht, denke, ich hätte es bemerkt. Auf den Wellen des kleinen Teichs in der Nähe brechen sich die Lichtstrahlen des Mondes.
Und da ist es wieder, dieses unglaubliche Glücksgefühl, wenn sich die schwarz-weiße Maske in der Röhre zeigt. Minutenlang sichernd bewegt der Dachs kaum merklich den Kopf. Ich höre, wie mein Herz schlägt, spüre, wie der Blutdruck steigt. Meinem Gegenüber gleich verhalte auch ich mich mucksmäuschenstill, traue mich nicht einmal, das Fernglas an die Augen zu nehmen. Der Höhlenbewohner äugt zu mir herüber, wittert. Aber der Wind steht gut. Reine Nervensache.
Genauso unvermittelt wie er erschien, ist er wieder weg, der Dachs. Weil ich jetzt weiß, dass er da ist, nutze ich die Situation und mache mich fertig für den Schuss. Wenn Schmalzmann seinen walzenförmigen Körper aus dem Bau geschoben hat, werde ich warten, bis er mindestens zehn Meter davon entfernt ist, um zu vermeiden, dass er sich bei einer nicht sofort tödlichen Kugel verklüftet.
Schon passiert’s: Der lautlose Sohlengänger verlässt sein Zuhause, verharrt einige Sekunden vor dem Bau und bleibt erst mehrere Meter weiter ein zweites Mal breit stehen. Schuss! Donnernd rollt das Echo des Knalls über den Hang.
Mir ist, als hätte ich in einen Sandsack geschossen. Ohne jegliches Zucken ist der Dachs augenblicklich verendet. Wie ich später feststelle, ging die Kugel mitten durchs Herz.
Durchatmen. Die Anspannung weicht stiller Freude, und ich beschließe, noch ein wenig sitzen zu bleiben. Nur Sekunden später ertönt in der Ferne ein dumpfer Knall. »Waidmannsheil«, flüstere ich, hoffe, dass auch der unbekannte Jäger erfolgreich war.
Immer heller wird es. Der fast kreisrunde Mond am sternenklaren Himmel erzeugt ein gleichmäßiges, diffuses Licht, und ich kann ziemlich gut sehen. So vergeht eine weitere Viertelstunde ohne einen einzigen Laut, ohne dass ich irgendeine Bewegung wahrnehme. Immer wieder schaue ich durchs Fernglas und freue mich über den großen, dunkelgrauen Hügel mit schwarz-weißer Maske. Mein Dachs, meine Beute.
Über mir glitzern die Sterne, und während ich versuche, sie zu zählen, wird mir bewusst, dass der Blick in die schier unendlichen Weiten des Weltalls stets zugleich auch ein Blick zurück in die Vergangenheit ist. Wie mag das alles wohl entstanden sein? Wie lange hat es gedauert, bis es so wurde, wie es ist?
Erst neulich habe ich gelesen, dass die klassische und heute weithin anerkannte Entstehungstheorie des Universums davon ausgeht, dass es in einem bestimmten Augenblick, dem Urknall, aus einer Singularität heraus entstand und sich seitdem ausdehnt. Das Alter des Kosmos, der »Gesamtheit aller Dinge«, ist aufgrund von Präzisionsmessungen durch das Hubble-Weltraumteleskop mithilfe von Gravitationslinsen mit 13,75 Milliarden Jahren relativ genau berechenbar. 13,75 Milliarden Jahre! Unvorstellbar.
Jetzt komme ich so richtig ins Grübeln. Ob es außer auf der Erde wohl irgendwo im Weltall noch Lebewesen gibt? Warum nicht? Der Astrophysiker Stephen Hawking fasst seine Erkenntnisse allgemeinverständlich wie folgt zusammen:
Das Universum habe 100 Milliarden Galaxien, jede von ihnen mit Millionen Sternen. Bei diesem gigantischen Volumen sei es unwahrscheinlich, dass nur die Erde Lebewesen aufweise. Nun denn. Selbst wenn es irgendwo Leben gibt, wird man sich aufgrund der Entfernung zueinander wohl nie begegnen.
Fasziniert schaue ich einer Sternschnuppe nach. Sie gaukelt mir eine Feuerkugel mit langem Schweif vor. Mit bloßen Augen kann ich erkennen, wie sie infolge Verdampfung verglüht. Genug philosophiert. Zurück zum Geschehen:
Ich weiß nicht, der wievielte Rundblick es ist, aber während eines erneuten Abglasens erscheint am Ausgang der ganz links befindlichen Röhre ein weiterer Geselle aus der Familie der Grimbarts. Nur kurz zwar, aber eindeutig kann ich das schwarz-weiße Gesicht erkennen. Ich hab’s geahnt.
Fünf Minuten später kommt der Dachs vertraut an die Erdoberfläche und tappt zielstrebig zum Gestreckten. Dort windet er kurz und zieht dann, so scheint es, absolut ruhig ein paar Meter weiter, um wiederum zu verharren.
Verdammt. Woher kommt denn plötzlich die Wolke, die sich genau im falschen Moment vor den Mond schiebt? So ein Pech. Eine einzige Wolke am Himmel, und die segelt exakt in dem Moment vor die große Lampe, als ich schießen will. Zwar kann ich den Dachs mit dem Fernglas erkennen, im Zielfernrohr jedoch erscheint er mir für einen Schuss zu verschwommen. Auf Abenteuer solcher Art lasse ich mich nicht ein.
Nur langsam, viel zu langsam treibt der leichte Westwind die Wolke an der weißen Himmelsscheibe vorbei, und ich bin fest davon überzeugt, dass sich der Dachs verdrückt hat, wenn ich wieder besseres Licht habe.
Von wegen! Als es hell wird, sitzt der größte unserer Marderartigen immer noch lethargisch dösend am Fleck und wartet, bis ich ihm die Kugel antrage. Unglaublich. Zwar liegt Dachs Nummer zwei nicht auf der Stelle, aber nachdem er höchstens fünf Meter ins Unterholz geflüchtet ist, höre ich, wie er röchelnd zusammenbricht.
Weil die Schweinesonne, oder besser gesagt, die Dachssonne, bei mittlerweile wieder wolkenlosem Himmel regelrecht zu glühen scheint, bleibe ich noch eine weitere Stunde sitzen und genieße die Stimmung. Dann jedoch baume ich ab, berge mit Hilfe meiner Taschenlampe die beiden Dachse und schleppe sie, jeweils einen in jeder Hand, zum Auto. Rucksack und...