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Vorgehensweise bei der Bearbeitung eines Schadensfalles
Günter Lange
1.1 Aufgaben und Ziele der Schadensanalyse
Die Schadensanalyse soll in erster Linie die Ursachen für das Versagen eines Bauteils klären und die dabei ablaufenden Mechanismen aufdecken. Sie dient darüber hinaus der Verhütung weiterer Schäden durch ihre Rückwirkung auf Konstruktion, Werkstoffwahl, Fertigungsprozesse, Prüfverfahren und Betriebsbedingungen sowie durch Inspektion und ggf. Austausch gefährdeter Bauteile im Betrieb befindlicher Maschinen, Apparate, Geräte und Anlagen. Unerwartetes Materialverhalten kann gelegentlich Forschungsaktivitäten anregen (Abb. 1.1).
Aufgrund der außerordentlichen Vielfalt der Schadensursachen und -erscheinungsformen können im vorliegenden Rahmen nur grundsätzliche Bearbeitungsrichtlinien und Beurteilungskriterien behandelt werden. Sinngemäß für das jeweilige Einzelereignis modifiziert, dürften sie sich für die größte Zahl der Schadensfälle erfolgversprechend anwenden lassen.
Abb. 1.1 Aufgaben und Ziele der Schadensanalyse.
1.2 Vorgehensweise
Die Vorgehensweise gleicht der in der Medizin: Anamnese, Diagnose, Therapie (Tab. 1.1). Wird ein detaillierter Leitfaden gewünscht, so empfiehlt sich die VDI-Richtlinie 3822 [1]. Sie führt in logischen Schritten von Schadensbeschreibung und Bestandsaufnahme über Schadenshypothese(n), Instrumentelle Analysen und Untersuchungsergebnisse zu Schadensursache(n), Abhilfe und Bericht mit abschließendem Wissensmanagement. Unabhängig davon hat der Verfasser in den nachfolgenden Abbildungen 1.2 bis 1.4 sowie Tabelle 1.1 eine Reihe von Punkten zusammengestellt, die sich im Rahmen seiner 50-jährigen Gutachtertätigkeit als maßgeblich erwiesen haben.
1.3 Schadensaufnahme und Beweissicherung
Als erster Schritt sollten die Spuren des Schadensfalles gesichert werden (Abb. 1.2). Nicht nur bei Flugzeugabstürzen, Explosionen usw. sollte man möglichst sämtliche Bruchstücke bergen. Auch beim üblichen „2-Teile-Schaden“ empfiehlt es sich, beide Bruchflächen einzubeziehen, vertretbarer Aufwand für deren Ausbau vorausgesetzt. Eine der Bruchflächen (Datenträger!) enthält nicht selten Topografie- oder Gefügehinweise, die auf der Gegenfläche fehlen (Ausscheidungen, Lunker u. a. m.). Weitaus gravierende Differenzen beider Seiten resultieren aus nachträglichen mechanischen Beschädigungen oder unterschiedlichen Korrosionszuständen.
Frische Bruchflächen sind reaktionsfreudig und müssen vor (weiterer) Korrosion geschützt werden: Exsikkator, zumindest trockene Raumluft, Sprühlack (sofern später keine Korrosionsprodukte zu analysieren sind). Bruchflächen niemals berühren! Rostbeläge lassen sich zwar mit Desoxidationsmitteln (Wardox, warme Zitronensäure u. a. m.) ablösen, die Original-Topografie wird jedoch infolge des lokal unterschiedlichen Korrosionsangriffes bestenfalls näherungsweise reproduziert.
Tabelle 1.1 Vorgehen bei der Schadensfallbearbeitung.
Fotografische Aufnahmen („Schadensteil in Anlieferungszustand“) sind fast immer erforderlich (Maßstab, charakteristische Bauteilabmessungen festhalten). Sie dienen nicht nur der Dokumentation (Untersuchungsbericht); nicht selten werden im Verlauf der Untersuchung nach Zerschneiden des Bauteils Erkenntnisse gewonnen, die eine erneute Beurteilung des Original-Schadenszustandes nahelegen. Ein zusätzlicher Ausdruck erweist sich häufig als nützlich, um die Entnahmepositionen von Proben oder Schnittstellen einzuzeichnen.
Wird der Schaden unmittelbar am Entstehungsort inspiziert – im Gegensatz zu einem eingereichten Schadensteil –, so ist das makroskopische Erscheinungsbild des augenblicklichen Bruchzustandes zu bewerten. Gesamteindruck und Begleitumstände des Schadens sowie Zeugenaussagen sind festzuhalten. Kann der Gutachter das Schadensteil bzw. den betroffenen Abschnitt nicht mitnehmen, sind detaillierte Anweisungen für den Ausbau oder das Herausarbeiten von Teilen für die Untersuchung erforderlich, um nachträgliche Veränderungen zu vermeiden (z. B. Schnitte mit Schneidbrenner oder Trennscheibe nur in genügendem Abstand von der Bruchfläche, evtl. Kühlung ohne Benetzung der Bruchflächen). Die Kennzeichnung herauszutrennender Bauteilabschnitte mit dem Schlagstempel schützt gegen Vertauschen der Teile; bei Bedarf sollte der Entnahmebereich in Skizze oder Zeichnung festgehalten werden.
1.4 Informationen über den Schadensfall
Ausführliche, zuverlässige Informationen vereinfachen die Schadensuntersuchung erheblich und verhindern häufig Fehlbeurteilungen. Die Richtigkeit einer garantierten Eigenschaft lässt sich zudem meist leicht überprüfen; nachträgliche Bestimmungen unbekannter Größen sind dagegen aufwendig (und werden gelegentlich angezweifelt).
Abb. 1.2 Beweissicherung.
Abb. 1.3 Informationen über den Schadensfall.
Als nützlich haben sich die in Abbildung 1.3 zusammengestellten Angaben erwiesen (fehlerhafte Auskünfte einkalkulieren). Erfahrungsgemäß steht dem Gutachter meist nur ein bescheidener Teil dieser Angaben zur Verfügung. Häufig sind daher verschiedene dieser Punkte Gegenstand der Untersuchung. (Zwei bezeichnende Fälle werden am Schluss dieses Kapitels erläutert.)
1.5 Durchführung
Vorgehensweise und Umfang sollten mit dem Antragsteller abgestimmt werden (Abb. 1.4). Vielfach wird vom Gutachter ein rasch und kostengünstig erarbeiteter Abhilfevorschlag erwartet, jedoch keine fundamentale Klärung aller Schadensumstände. Auf die Grenzen der Verfahren ist hinzuweisen, besonders bei Wünschen nach speziellen Untersuchungsmethoden. Rückfragen ergeben im Übrigen häufig, dass sich die geforderte Prüfung zur Klärung des vorliegenden Schadensfalles in keiner Weise eignet. Einzeluntersuchungen, die ohne Erläuterung des Gesamtzusammenhangs verlangt werden, erweisen sich gewöhnlich als nutzlos (beantragt wird eine chemische Analyse, tatsächlich gesucht werden die Ursachen eines Schwingbruches).
Das Untersuchungsprogramm ist – unter Beachtung des gesamten Umfeldes – sorgfältig zu planen, so dass keine Indizien zerstört werden, die man zu einem späteren Zeitpunkt noch benötigen könnte. Das Verfahren muss sich auch dann noch fortsetzen lassen, wenn ein Test die aktuelle Arbeitshypothese nicht bestätigt und neue Möglichkeiten in Betracht gezogen werden müssen. (Aus dem Kopfeiner herausgearbeiteten Zugprobe lässt sich ein metallografischer Schliff anfertigen, aus einem Schliff kein Zugstab.) Fließbilder und Programme in der Literatur ignorieren häufig die begrenzte Masse des Schadensteiles.
Abb. 1.4 Durchführung der Schadensanalyse.
Die Entnahme von Proben erfordert besondere Sorgfalt. Die Probe muss repräsentativ für die zu untersuchende Eigenschaft sein und darf diese beim Heraustrennen nicht verändern (Gefügeänderung durch Erwärmen, Verlust von Graphit beim Herausarbeiten von Analysespänen aus Gusseisen usw.). Mehrere Proben müssen wegen latenter Verwechselungsgefahr deutlich gekennzeichnet und penibel verwaltet werden (z. B. einzeln in beschrifteten Klarsichttüten; niemals zwei Proben gleichzeitig aus ihren Tüten entnehmen). Bei moderater Probenzahl vereinfachen unterschiedliche geometrische Formen und Abmessungen die Zuordnung. Die Entnahmestellen sollten auf der Zeichnung oder auf Fotos markiert werden.
Besonders fehlinterpretationsgefährdet sind Proben für rastermikroskopische Untersuchungen; so kann z. B. energiedispersiv auf der Bruchfläche nachgewiesener Schwefel aus der Sparbeize vom Reinigen stammen, Titan oder Barium aus Farbresten (Markierungsstifte) und Kupfer von der Elektrode bei funkenerosiv herausgetrennten Abschnitten. Wegen der Gefahr des Überbeizens (Lochfraßteppich!) entrostet man sinnvoller Weise nicht gleichzeitig beide Bruchflächen; erhöhte Vorsicht erfordern verzinkte Stahlteile.
Bevor man sich mit dem Schadensteil im Einzelnen auseinandersetzt, sollte man sein Zusammenwirken mit anderen Bauteilen überprüfen. Mitunter werden einwandfreie Komponenten durch andere Teile eines Systems geschädigt, vgl. z. B. das Flugturbinenlaufrad in Abschnitt 7.5.3, „Schwingbrüche an ausgewählten Bauteilen“.
Die Bestimmung der Bruchart bildet in den meisten Fällen das Kernstück der Untersuchungen. Nicht selten reicht sie zur Klärung des Schadens aus. Art und individuelle Ausbildung des Bruches geben Hinweise auf den Beanspruchungszustand – teilweise auch auf den Werkstoffzustand – und damit auf die Ursachen des Versagens. Vielfach erlaubt die Bruchart darüber hinaus, zwischen primärem Bruch und Folgeschäden zu unterscheiden.
In jedem Fall sollte man den Bruch zunächst makroskopisch beurteilen (Betrachtung...