Leseprobe Die subtile Fähigkeit Zuzusehen, wie der Hausdetektiv John Berger im Erdgeschoss eines Warenhauses an der Upper East Side in Manhattan mit seinen Blicken die Kunden verfolgt, heißt, Aufmerksamkeit aus nächster Nähe zu erleben. In seinem unauffälligen schwarzen Anzug, weißen Hemd und roter Krawatte, das Walkie-Talkie in der Hand, ist John ununterbrochen in Bewegung. Ständig kreist seine Konzentration um diesen oder jenen Kunden. Man kann ihn als Auge des Kaufhauses bezeichnen. Es ist eine schwierige Aufgabe. Immer sind mehr als 50 Kunden auf seiner Etage: Sie schlendern von einem Schmuckstand zum nächsten, probieren die Valentino-Schals an, sehen sich bei den Prada-Taschen um. Und während sie die Waren begutachten, werden sie von John begutachtet. John wandert zwischen den Kunden hin und her - eine Studie in Brown'scher Bewegung. Ein paar Sekunden steht er, den Blick auf einen Kunden geheftet, hinter einem Stand mit Handtaschen, dann schlendert er zu einer Tür, von der aus er gute Sicht hat, nur um sich im nächsten Augenblick in eine Ecke zu bewegen, wo er von einem erhöhten Punkt aus ein potenziell verdächtiges Trio unauffällig im Auge behalten kann. Während die Kunden sich nur für die Waren interessieren und Johns aufmerksame Blicke nicht bemerken, überprüft er sie alle. In Indien sagt man: »Wenn ein Taschendieb einen Heiligen trifft, sieht er nur die Taschen.« John würde in jeder Menschenmenge die Taschendiebe sehen. Sein Blick wandert hin und her wie ein Suchscheinwerfer. Ich kann mir vorstellen, wie sein Gesicht sich scheinbar zu einem einzigen großen Auge verengt, das an den einäugigen Zyklopen denken lässt. John ist verkörperte Konzentration. Wonach sucht er? »Es ist die Art, wie sich ihre Augen bewegen, oder eine Bewegung in ihrem Körper«, die ihm die Absicht zum Klauen verrät, erzählte er mir. Oder diese Kunden, die dicht zusammenstehen, oder der eine, der sich verstohlen umsieht. »Ich mache das schon so lange, ich kenne die Anzeichen.« Wenn John einen unter den 50 Kunden aufs Korn nimmt, gelingt es ihm, die restlichen 49 und auch alles andere auszublenden - eine Konzentrationsleistung inmitten der ganzen Ablenkungen. Eine solche Panoramawahrnehmung, die mit der ständigen Wachsamkeit für aufschlussreiche, aber seltene Signale abwechselt, erfordert mehrere Formen der Aufmerksamkeit: ständige Konzentration, Alarmbereitschaft, Orientierung und die Koordination von alledem. Jede davon stützt sich auf ihr eigenes Netz von Gehirnschaltkreisen, und jede ist ein unentbehrliches mentales Werkzeug. Johns ständige Suche nach einem seltenen Ereignis repräsentiert einen der ersten Aspekte der Aufmerksamkeit, die man wissenschaftlich untersuchte. Die Erforschung der Frage, was uns hilft, wachsam zu bleiben, begann im Zweiten Weltkrieg. Dahinter stand eine militärische Notwendigkeit: Man brauchte Radarbeobachter, die stundenlang höchste Wachsamkeit aufbringen konnten - und man stellte fest, dass sie gegen Ende ihrer Schicht, wenn die Aufmerksamkeit nachließ, mehr Signale übersahen. Ich kann mich noch erinnern, wie ich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges einen Wissenschaftler besuchte, der im Auftrag des Pentagon das Aufmerksamkeitsniveau bei drei- bis fünftägigem Schlafmangel untersuchte - ungefähr so lange mussten Offiziere den Schätzungen zufolge während eines Dritten Weltkriegs im Bunker wach bleiben. Glücklicherweise musste das Experiment nie in der harten Realität überprüft werden, aber er gelangte zu einem ermutigenden Befund: Selbst nach drei oder mehr schlaflosen Nächten können Menschen noch hohe Konzentration aufbringen, wenn die Motivation stark genug ist (aber wenn sie nicht aufpassen, nicken sie augenblicklich ein). In den letzten Jahren ist die Aufmerksamkeit zum Gegenstand einer umfangreichen Forschung geworden, die weit über die Wachsamkeit hinausgeht. Die Fähigkeit, aufmerksam zu sein, so die Erkenntnis, bestimmt darüber, wie wir beliebige Aufgaben bewältigen. Ist sie eingeschränkt, schneiden wir schlecht ab; ist sie besser ausgebildet, erbringen wir gute Leistungen. Unsere Lebensgewandtheit hängt von dieser subtilen Fähigkeit ab. Meist bleibt der Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und hervorragenden Leistungen zwar im Verborgenen, aber er wirkt sich auf fast alles aus, was wir zuwege bringen wollen. Dieses vielseitige Werkzeug klinkt sich in unzählige mentale Tätigkeiten ein. Eine kurze Liste einiger grundlegender Operationen umfasst Auffassungsgabe, Gedächtnis, Lernen, das Gespür dafür, wie wir uns fühlen und warum, die Deutung der Gefühle anderer und eine reibungslose Kommunikation. Wenn wir diesen unsichtbaren Leistungsfaktor ans Licht holen, erkennen wir besser, wie nützlich die Verbesserung solcher geistigen Fähigkeiten ist, und wir verstehen auch, wie man das macht. Durch eine optische Täuschung des Geistes bemerken wir in der Regel nur die Endprodukte der Aufmerksamkeit: unsere guten und schlechten Ideen, eine aufschlussreiche Bewegung, ein einladendes Lächeln, den morgendlichen Kaffeeduft. Vom Strahl der Wahrnehmung selbst dagegen nehmen wir keine Notiz. Obwohl die Aufmerksamkeit ungeheuer wichtig dafür ist, wie wir uns im Leben zurechtfinden, stellt sie eine kaum beachtete und unterschätzte mentale Gabe dar. Ich verfolge hier das Ziel, diese schwer fassbare, unterbewertete geistige Fähigkeit, ihre Bedeutung für das Wirken des Geistes und ihre Rolle für ein erfülltes Leben ins Rampenlicht zu holen. Zu Anfang wollen wir einige grundlegende Aspekte der Aufmerksamkeit untersuchen; Johns wachsame Alarmbereitschaft ist nur einer davon. Die Kognitionsforschung beschäftigt sich mit einem breiten Spektrum verschiedener Phänomene wie Konzentration, selektive Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit, aber auch mit der Frage, wie unser Geist die Aufmerksamkeit nach innen richtet und so seine eigene Tätigkeit beaufsichtigt. Auf solchen grundlegenden Mechanismen unseres Geisteslebens bauen lebenswichtige Fähigkeiten auf. Zum einen ist da die Selbstwahrnehmung, die das Selbstmanagement ermöglicht. Dann gibt es die Empathie als Grundlage der Beziehungsfähigkeit. Das alles sind fundamentale Elemente der emotionalen Intelligenz. Und wie wir noch genauer erfahren werden, kann eine Schwäche in solchen Bereichen ein Leben oder eine Karriere untergraben, während entsprechende Stärken das Gefühl von Erfüllung und Erfolg begünstigen. Über solche Bereiche hinaus führt uns die Systemforschung in ein weiteres Feld der Konzentration, wenn wir die Welt um uns herum betrachten und uns auf die komplexen Systeme einstellen, die unsere Umwelt definieren und einschränken. Einer solchen nach außen gerichteten Konzentration steht die verborgene Schwierigkeit gegenüber, uns an derart lebenswichtige Systeme anzupassen: Unser Gehirn wurde nicht für eine solche Aufgabe konstruiert, und deshalb geraten wir ins Straucheln. Aber durch die Wahrnehmung von Systemen begreifen wir die Funktionsweise eines Unternehmens, einer Wirtschaftsordnung oder der globalen Prozesse, die das Leben auf unserem Planeten möglich machen. All das lässt sich auf eine Dreiheit reduzieren: Konzentration nach innen, auf andere und nach außen. Unser Leben können wir nur dann gut führen, wenn wir alle drei beherrschen. Eine gute Nachricht über die Aufmerksamkeit kommt aus den Laboren der Neurowissenschaftler und den Klassenzimmern der Schulen: Befunde dort weisen darauf hin, wie wir diesen unentbehrlichen geistigen Muskel stärken können. Aufmerksamkeit funktioniert tatsächlich fast wie ein Muskel: Wird sie wenig gefordert, schwindet sie dahin; wenn wir sie aber trainieren, wächst sie. Wir werden erfahren, wie wir mit klugen Übungen den Muskel unserer Aufmerksamkeit weiterentwickeln und verfeinern, ja sogar ein konzentrationsmüdes Gehirn wieder auf Vordermann bringen können. Damit Führungskräfte zu guten Ergebnissen gelangen, brauchen sie alle drei Formen der Konzentration. Die Konzentration nach innen stimmt uns auf unsere Intuitionen, Wertvorstellungen und bessere Entscheidungen ein. Die Konzentration auf andere sorgt für reibungslose Verbindungen zu den Menschen in unserem Leben. Und mit der Konzentration nach außen finden wir uns in unserer größeren Umwelt zurecht. Eine Führungskraft, die nicht auf ihre innere Welt hört, hat keinen Kompass; ist sie blind für die Welt der anderen, erhält sie keine Anhaltspunkte; und wer den größeren Systemen, in denen wir tätig sind, gleichgültig gegenübersteht, wird von Entwicklungen wie aus heiterem Himmel überrascht. Aber nicht nur Führungspersonen profitieren von einem Gleichgewicht zwischen diesen drei Formen der Konzentration. Wir alle leben in einer anstrengenden Umwelt, die voller Spannungen, konkurrierender Ziele und Verlockungen des modernen Lebens ist. Jede der drei Formen von Aufmerksamkeit kann uns helfen, ein Gleichgewicht zu finden, mit dem wir sowohl glücklich als auch produktiv sind. Aufmerksamkeit stellt Verbindungen zwischen uns und der Welt her, prägt und definiert unsere Erfahrungen. »Aufmerksamkeit«, so schrieben die Kognitionsforscher Michael Posner und Mary Rothbart, liefere die Mechanismen, »die unserer Wahrnehmung der Welt sowie der willkürlichen Steuerung unserer Gedanken und Gefühle zugrunde liegen.« Anne Treisman, eine führende Vertreterin des Forschungsgebiets, machte noch auf etwas anderes aufmerksam: Was wir sehen, hängt davon ab, wie wir unsere Aufmerksamkeit einsetzen. Oder wie Yoda sagte: »Deine Konzentration ist deine Realität.« Der gefährdete menschliche Augenblick Das kleine Mädchen reichte der Mutter gerade bis zur Taille. Die Kleine schlang die Arme um ihre Mama und klammerte sich fest, während sie mit der Fähre zur Ferieninsel übersetzten. Aber die Mutter reagierte nicht, ja sie schien das Mädchen überhaupt nicht wahrzunehmen: Sie war die ganze Zeit mit ihrem iPad beschäftigt. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich ein paar Minuten später, als ich mich zusammen mit neun Verbindungsstudentinnen, die an diesem Abend auf ihrem Wochenendausflug waren, in ein Sammeltaxi zwängte. Nachdem sie ihre Sitze in dem dunklen Kleinbus eingenommen hatten, flackerte innerhalb einer Minute überall fahles Licht auf: Jede der jungen Frauen hatte ein iPhone oder ein Tablet eingeschaltet. Während sie simsten oder durch Facebook scrollten, flogen vereinzelte Gesprächsfetzen hin und her. Meist aber herrschte Schweigen. Die Gleichgültigkeit der Mutter und das Schweigen unter den Studentinnen sind Beispiele dafür, wie die Technologie unsere Aufmerksamkeit beansprucht und unsere Bindungen beeinträchtigt. Im Jahr 2006 ging das Wort pizzled in den englischen Wortschatz ein. Die Kombination aus puzzled (verblüfft) und pissed (beleidigt) fängt das Gefühl von Menschen ein, deren Begleitung plötzlich ein Blackberry zückt und mit jemand anderem zu sprechen beginnt. Damals fühlten sich Menschen in solchen Augenblicken noch verletzt und verärgert. Heute ist es die Norm. Im Mittelpunkt stehen dabei die Teenager, die Vorreiter unserer Zukunft. In den ersten Jahren dieses Jahrzehnts war die Zahl ihrer monatlichen SMS auf 3017 gestiegen, das Doppelte der Zahl ein paar Jahre früher. Inzwischen verbringen sie wieder weniger Zeit am Handy. Der durchschnittliche amerikanische Teenager versendet und empfängt täglich mehr als 100 SMS, zehn in jeder wachen Stunde. Ich habe schon Jugendliche gesehen, die Rad fahren und gleichzeitig Textnachrichten tippen. Ein Bekannter berichtete: »Kürzlich habe ich ein paar Cousins in New Jersey besucht. Ihre Kinder hatten alle elektronischen Apparätchen, die der Mensch kennt. Ich habe immer nur ihre Hinterköpfe zu Gesicht bekommen. Sie haben ständig auf ihren iPhones nachgesehen, wer ihnen eine SMS geschickt hat und was es auf Facebook Neues gibt, oder sie waren in ein Videospiel vertieft. Dafür haben sie überhaupt nicht wahrgenommen, was um sie herum vorgeht, und hatten keine Ahnung, wie man längere Zeit mit anderen interagiert.« Kinder wachsen heute in einer neuen Realität auf, in der sie sich mehr auf Maschinen und weniger auf Menschen einstellen als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Das ist aus mehreren Gründen beunruhigend. Erstens lernen die sozialen und emotionalen Schaltkreise eines Kindergehirns durch Kontakte und Gespräche mit allen, denen das Kind im Lauf des Tages begegnet. Solche Interaktionen formen die Gehirnschaltkreise; dass Kinder weniger Zeit mit Menschen verbringen - und entsprechend länger auf digitale Bildschirme starren -, deutet auf Defizite hin. Für die Beschäftigung mit der digitalen Welt bezahlen wir den Preis einer kürzeren Zeit mit echten Menschen - mit dem Medium, durch das wir nonverbale Äußerungen »lesen« lernen. Der neue Stamm der Eingeborenen in dieser digitalen Welt mag an der Tastatur versiert sein, aber wenn es darum geht, Verhalten von Angesicht zu Angesicht und in Echtzeit zu deuten, stehen sie auf dem Schlauch; insbesondere spüren sie nicht das Unbehagen des anderen, wenn sie mitten im Gespräch innehalten, um eine SMS zu lesen. Ein Collegestudent bemerkte, welche Einsamkeit und Isolation es mit sich bringt, wenn man in der virtuellen Welt der Tweets, Statusaktualisierungen und »geposteten Bilder vom Abendessen« lebt. Er stellte fest, dass seine Klassenkameraden die Fähigkeit zu Gesprächen verloren, ganz zu schweigen von den tiefsinnigen Diskussionen, die das Collegeleben bereichern können. Und er sagte: »Geburtstag, Konzert, Kneipenbesuch, Party - anscheinend macht nichts mehr Spaß, wenn man sich nicht die Zeit nimmt, sich von dem, was man tut, zu distanzieren« - und dafür sorgt, dass die Bekannten aus der digitalen Welt sofort wissen, wie viel Spaß man hat. Dann gibt es die Grundlagen der Aufmerksamkeit, jenes kognitiven Muskels, mit dem wir einer Erzählung folgen, ein Thema bis zum Ende durchdenken, lernen oder kreativ sind. Wie wir noch genauer erfahren werden, trägt die endlose Beschäftigung junger Leute mit ihren elektronischen Apparaten in gewisser Weise dazu bei, dass sie ganz bestimmte kognitive Fähigkeiten erwerben. Es gibt aber auch Bedenken; unter anderem stellt sich die Frage, inwieweit sich gleichzeitig Defizite in geistigen Kernkompetenzen herausbilden. Eine Lehrerin einer achten Klasse erzählte mir, sie habe seit vielen Jahren mit ihren aufeinanderfolgenden Schülergenerationen dasselbe Buch gelesen: Mythology von Edith Hamilton. Es habe den Schülern gut gefallen - jedenfalls bis vor etwa fünf Jahren. »Dann habe ich plötzlich beobachtet, dass die Kinder es nicht mehr so spannend fanden - selbst Gruppen mit guten Leistungen konnten keine Beziehung dazu herstellen«, erzählte sie mir. »Sie sagten, es sei zu schwierig zu lesen; die Sätze seien zu kompliziert, und es dauere zu lange, eine Seite zu lesen.« Sie fragte sich, ob vielleicht die Lesefähigkeit ihrer Schüler unter den kurzen, abgehackten Nachrichten, die sie als SMS empfangen, gelitten habe. Ein Schüler gestand, er habe im letzten Jahr 2000 Stunden lang Videospiele gespielt. Und sie fügte hinzu: »Es ist schwierig, Kommaregeln zu lehren, wenn man dabei World of Warcraft als Konkurrenz hat.« Ein Extremfall sind asiatische Staaten wie Taiwan, Korea und andere, die in der Internetsucht - der Sucht nach Spielen, sozialen Medien und virtueller Realität - eine nationale Gesundheitsgefahr sehen, weil junge Leute isoliert werden. Ungefähr acht Prozent aller amerikanischen Computerspieler im Alter zwischen acht und 18 Jahren entsprechen den psychiatrischen Diagnosekriterien für Suchterkrankungen; Untersuchungen am Gehirn zeigen, dass es in ihrem neuronalen Belohnungssystem durch das Spielen zu ähnlichen Veränderungen kommt wie bei Alkoholikern und Drogensüchtigen. Gelegentlich hört man auch Horrorgeschichten von Spielsüchtigen, die den ganzen Tag über schlafen und nachts spielen, kaum einmal etwas essen, sich nicht waschen und sogar gewalttätig werden, wenn Angehörige sie zu bremsen versuchen. Harmonische Beziehungen setzen Aufmerksamkeit voraus - gegenseitige Konzentration. Die Notwendigkeit, uns um solche menschlichen Augenblicke zu bemühen, war angesichts eines Ozeans der Ablenkungen, auf dem wir alle uns täglich orientieren müssen, nie größer als heute. Die Verelendung der Aufmerksamkeit Die Verminderung der Aufmerksamkeit bei Erwachsenen hat ihren Preis. In Mexiko klagte ein Werbemanager eines großen Rundfunksenders: »Vor ein paar Jahren konnte man für die Präsentation bei einer Werbeagentur noch ein Fünf-Minuten-Video aufnehmen. Heute muss man es auf eineinhalb Minuten beschränken. Wenn man sie bis dahin nicht gefesselt hat, fangen alle an, nach ihren SMS zu sehen.« Ein Collegedozent für Filmwissenschaft erzählte mir, er habe die Biografie eines seiner großen Vorbilder gelesen, des legendären französischen Regisseurs François Truffaut. Aber, so stellte er fest, »ich kann nicht mehr als zwei Seiten hintereinander lesen. Dann überfällt mich dieser überwältigende Drang, online zu gehen und nachzusehen, ob ich eine neue E-Mail bekommen habe. Ich glaube, ich verliere die Fähigkeit, die Konzentration auf etwas Ernsthaftes aufrechtzuerhalten.« Die Unfähigkeit, auf die Prüfung von E-Mails oder Facebook zu verzichten, statt sich auf die Person zu konzentrieren, mit der wir gerade reden, führt zu einem »Abwesendsein«, wie der Soziologe Erving Goffman, ein meisterhafter Beobachter zwischenmenschlicher Interaktionen, es nennt - zu einer Attitüde, mit der man den anderen wissen lässt, man sei an dem, was hier und jetzt geschieht, nicht interessiert. Schon 2005 schalteten die Veranstalter der dritten »All Things D(igital)«-Tagung im größten Saal der Veranstaltung die drahtlose Internetverbindung aus, weil das Glimmen der Laptop-Monitore darauf hindeutete, dass die Zuhörer nicht auf das achteten, was auf dem Podium vorging. Sie waren abwesend und in einem Zustand, den ein Teilnehmer als »ständige Teil-auf-merk-samkeit« bezeichnete - eine mentale Verschwommenheit, die durch eine Überfrachtung mit Informationen von Vortragenden, anderen Menschen im Raum und der Beschäftigung mit den Laptops verursacht wurde. Um eine solche Teilaufmerksamkeit zu bekämpfen, haben manche Unternehmen im Silicon Valley mittlerweile Laptops, Mobiltelefone und andere digitale Hilfsmittel bei ihren Besprechungen verboten. Nachdem eine Verlagsmanagerin einige Zeit lang nicht auf ihr Smartphone gesehen hatte, gestand sie ein, sie habe »ein ungutes Gefühl. Man vermisst diesen Kick, den man bekommt, wenn eine SMS da ist. Man weiß, dass es nicht richtig ist, auf das Smartphone zu sehen, wenn man mit jemandem spricht, aber es ist wie eine Sucht.« Deshalb habe sie mit ihrem Mann ein Abkommen geschlossen: »Wenn wir von der Arbeit nach Hause kommen, legen wir unsere Handys in eine Schublade. Wenn es vor mir liegt, werde ich nervös; ich muss einfach nachsehen. Aber jetzt geben wir uns Mühe, mehr füreinander da zu sein. Wir reden miteinander.« Unsere Konzentration kämpft ständig gegen Ablenkungen von innen und außen. Die Frage lautet: Was kosten uns die Dinge, die uns ablenken? Ein Manager eines Finanzunternehmens sagte mir: »Wenn ich merke, dass ich bei einer Besprechung mit meinen Gedanken woanders bin, frage ich mich, welche Gelegenheiten ich gerade eben verpasst habe.« Einem Arzt aus meinem Bekanntenkreis erzählten die Patienten, sie würden »Selbstmedikation« betreiben und Präparate gegen Aufmerksamkeitsstörungen oder Narkolepsie nehmen, um mit ihrer Arbeit zurechtzukommen. Ein Anwalt sagte zu ihm: »Wenn ich das nicht nehmen würde, könnte ich keine Verträge lesen.« Früher brauchten Patienten für die Verschreibung solcher Medikamente eine Diagnose; heute sind sie vielfach zu routinemäßig eingenommenen leistungssteigernden Mitteln geworden. Eine wachsende Zahl von Teenagern täuscht Aufmerksamkeitsstörungen vor, um Rezepte für Aufputschmittel zu bekommen - der chemische Weg zur Aufmerksamkeit. Und Tony Schwartz, ein Berater, der Führungskräften beibringt, wie man mit seiner Energie am besten haushaltet, erzählte mir: »Wir bringen die Leute dazu, ein besseres Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie sie ihre Aufmerksamkeit nutzen - nämlich immer schlecht. Aufmerksamkeit ist heute in den Köpfen unserer Klien-ten das Thema Nummer eins.« Die auf uns einstürzende Datenflut führt zu nachlässigen Abkürzungen: Wir sortieren E-Mails nach dem Betreff, übergehen viele Sprachnachrichten, lesen SMS und Notizen nur noch quer. Wir haben also nicht nur Aufmerksamkeitsgewohnheiten entwickelt, die uns weniger leistungsfähig machen, sondern die Fülle der Nachrichten lässt uns einfach zu wenig Zeit, um noch darüber nachzudenken, was sie eigentlich bedeuten. Das alles sah der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon schon 1977 voraus. In einem Buch über die bevorstehende Welt voller Informationen warnte er: »Die Information verbraucht die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger. Deshalb schafft ein Reichtum an Informationen eine Armut an Aufmerksamkeit.«