1. Die angebliche Tat
Das Modell zittert in seiner Hand, als er es über den Flur balanciert. Ihm ist etwas schwindelig. Ob die Schüler den Geruch von Alkohol gemerkt haben? Wie lange versucht er schon, Menschen auf Abstand zu halten? Eigentlich will er weg von dieser Schule, der Schule, an der er schon seit acht Jahren unterrichtet. Als Sonderling kommt er sich vor, beäugt von den anderen. Dagegen trinkt er an, jeden Abend, und trinkt sich immer weiter fort von den anderen. Seit Jahren.
Wann hat das angefangen? Schon über zehn Jahre ist es nun her, schon kurz nach seiner Hochzeit begann er zu trinken. In guten Phasen mal etwas weniger, aber meistens war es viel, mitunter exzessiv. Immer wieder musste er sich, musste seine Frau ihn entschuldigen in der Schule, und gerade in letzter Zeit hat er sich oft nicht auf den Unterricht konzentrieren können. Es hängt zusammen mit dieser Schule, dass er trinkt. Mit jener Anerkennung, die ihm seit Jahren versagt wird, endlich verbeamtet zu werden, so, wie alle anderen Lehrer an der Georg-August-Zinn-Schule in Reichelsheim. Er ist unter ihnen der einzige Angestellte, trotz so vieler Bewerbungen, Eingaben, Versuche, obwohl er sich engagierte, indem er die Fachschaft Biologie leitete.
Horst Arnold ist nur ein paar Kilometer entfernt von der Schule geboren, an der er unterrichtet. Eigentlich hat er sein ganzes Leben hier verbracht. Weinheim, Waldmichelbach, Darmstadt hießen seine Koordinaten, die ganze Welt in ein paar Quadratkilometern. Der Rest hat ihn nie besonders interessiert. Weder beruflich noch in seinen Anschauungen oder Zielen hat er sich weit davon entfernt, was ihm vertraut war. Er wollte eine Familie, er wollte ein Haus mit Garten, sein Vater war Lehrer, und so wollte auch er diesen Beruf ergreifen. Nur eine halbe Stunde von seinem Elternhaus entfernt studierte er in Darmstadt Sport, Biologie und Sozialkunde. Er war immer fleißig gewesen, zielstrebig, hatte schon während des Studiums unterrichtet, acht Wochenstunden am Gymnasium in Waldmichelbach, wo er später sein Referendariat machte und mit Auszeichnung abschloss. Aber eine Stelle bekam er trotzdem nicht. Er hätte wegziehen können, aber er blieb, bewarb sich weiter, bis er endlich den ersten Vertrag ergatterte, an einer Realschule in Waldmichelbach. Im selben Jahr heiratete Arnold, bekam mit seiner Frau eine Tochter und ließ sich mit seiner Familie unweit des Ortes nieder, an dem er aufgewachsen war. Es schien, als würde sein Leben endlich den Weichen folgen, die er gestellt hatte. Aber dann hing er in der Warteschleife fest, die in seinen Augen verdiente Anerkennung blieb aus.
Er kann sie nicht mehr abstellen, diese kreisenden Gedanken um die unerfüllte Gier nach Lob, nach Anerkennung. Der einzige Fluchtweg hinaus, die einzige Betäubung dieser fortgesetzten Zurückweisung, verspricht ihm seit Jahren der Alkohol. Und so sehr er auch zehrt an ihm und trotz aller Versuche gelingt es ihm nicht mehr, ihm zu widerstehen.
Im Sommer 2001 trinkt Arnold drei Flaschen Wein, jeden Abend. Trotzdem trainiert er noch die Jugendfußballmannschaft in Reichelsheim. Das macht ihm Spaß, nur die Arbeit an der Schule ist er mittlerweile leid. Auch im Kollegium wird er immer isolierter. Er will sich versetzen lassen, so bald wie möglich. Dieser Gedanke beruhigt ihn während der Ferien beim Blick auf das bevorstehende neue Schuljahr.
Im selben Sommer und noch während der Ferien lernt Anja Keinath, die Frauenbeauftragte für diesen Schulbezirk, Heidi K. kennen. Sie bewirbt sich um eine Stelle als Biologie- und Deutschlehrerin an der Georg-August-Zinn-Gesamtschule in Reichelsheim. Die gut gekleidete Frau mit den schulterlangen, rotbraunen Haaren wirkt selbstbewusst, eloquent, fachlich kompetent und zudem sympathisch. Ein Glücksfall, denkt Keinath. Schon von der ersten Begegnung an ist die Grundlage für eine gute Beziehung zwischen den Frauen gelegt. Man mag sich, und obwohl es nicht um eine Freundschaft geht, ist von Anfang an klar, dass man sich auch in Zukunft gerne begegnen würde.
Heidi K. macht ihrerseits schon bei der Bewerbung keinen Hehl daraus, dass sie eine Verbeamtung auf Lebenszeit anstrebt. Aber die soll sie vorerst auch an der Georg-August-Zinn-Schule noch nicht bekommen. Außerdem soll sie lediglich Schüler bis zur Realschulreife unterrichten, nicht aber in der gymnasialen Oberstufe, was sie aber unbedingt möchte. Mündlich sagte man ihr, dass dies sicher vertretungsweise immer wieder möglich sein könnte, aber im Vertrag steht es eben nicht.
Schon in den ersten Tagen stellt Heidi K. vermutlich fest, dass ihr Stundenplan zwar im Einklang mit ihrer Stellenbeschreibung, aber nicht mit ihren Erwartungen steht. Dennoch sehen die anderen Lehrer bei den ersten Begegnungen in ihr eine umgängliche, sympathische Frau, eine Bereicherung für das Kollegium.
Für Horst Arnold sind die ersten Tage nach den Ferien zäh, mehr noch, als er erwartet hatte. Neu ist nur Heidi K. Arnold trifft sie zum ersten Mal im Lehrerzimmer. Sie ist ein paar Jahre jünger als er, eine attraktive Frau, und sie scheint um die Betonung ihres Äußeren bemüht. Arnold, der schon seit Längerem den leidigen und ehrenamtlichen Biologie-Fachschaftsvorsitz loswerden möchte, sieht durch die engagierte Lehrerin eine Chance dafür gekommen. Und sie zeigt sich sofort dazu bereit. Vielleicht verbindet sie ihrerseits damit die Aussicht auf eine schnellere Verbeamtung oder auf den Unterricht in der Gymnasialstufe. Die beiden Lehrer rauchen gemeinsam, Arnold bietet ihr an, ihr einiges an der Schule zu zeigen, aber es bleibt bei diesen kurzen Begegnungen, denn wenige Tage danach wird Horst Arnold krank.
Zwei Wochen bleibt er zu Hause. Auch in diesen Tagen trinkt er viel und regelmäßig. Erst am 28. August kehrt er in die Schule zurück. Schon bei den ersten Gesprächen im Lehrerzimmer erfährt er, dass Heidi K. in der Zwischenzeit den Fachschaftsvorsitz von ihm übernommen hat. Ohne dass man ihn gefragt hatte, ohne dass man ihm die Möglichkeit gegeben hatte, mit darüber abzustimmen, ohne dass er ihn mit einer gewissen Geste hätte übergeben können, ohne Dank. Als er Heidi K. in der Raucherecke des Lehrerzimmers trifft, zeigt er sich feindselig. Er will sie spüren lassen, dass er sich übergangen fühlt. Die Begegnung soll den Eindruck der Flüchtigkeit vermitteln.
Dienstag, der 28. August 2001
Es ist kurz nach elf Uhr morgens. Der Sommer hat noch nicht nachgelassen. Er taucht die Gebäude und den Pausenhof in ein warmes, orangefarbenes Licht. Die Georg-August-Zinn-Schule thront auf ihrem Hügel über der oberhessischen Kleinstadt Reichelsheim. Das Haupthaus besteht aus zwei weißen, rechteckigen Klötzen, deren Stirnseite das Gemälde eines Klassenzimmers ziert, so als würde man durch ein großes Mauerloch den Blick geradewegs in das Innere des Gebäudes werfen können. Folgt man dem asphaltierten Weg nach oben, liegt rechter Hand der Neubau, ein blauer Riegel mit riesigen Fenstern, die einen Blick über das Tal freigeben. Die drei Schulhöfe vor dem Hauptgebäude, zwischen Hauptgebäude und Neubau und hinter dem Neubau sind leer. Auch auf den weit verzweigten Wegen zwischen den Häusern und dem noch höher gelegenen Sportplatz ist niemand zu sehen. Es herrscht eine bleierne Stille, als hätte jemand die Zeit eingefroren. Keiner würde erwarten, dass in den nächsten gerade einmal 15 Minuten etwas geschehen könnte, das den Namen der Schule und das Schicksal einiger Menschen auf Jahre hinaus prägen sollte.
Es klingelt. In Sekunden füllen sich die leeren Flächen, als würde sich eine Flüssigkeit über sie ergießen. Die große Pause treibt die Schüler aus den Klassenräumen ins Freie. Plätze, Flure und Treppen füllen sich mit Menschen. Überall weicht die Ordnung dem Chaos. Nur nicht in dem DNA-Modell in seinen Händen.
Die zwei Stränge umschlingen sich ganz regelmäßig, ohne sich zu berühren. Horst Arnold kommt den Flur entlang, erreicht die Tür des im zweiten Stock des Neubaus gelegenen Biologie-Vorbereitungsraumes. Mit der linken Hand hält er das DNA-Modell fest, mit der rechten fingert er umständlich den Schlüssel aus seiner Tasche.
Heidi K. geht nach ihrer Biologie-Unterrichtsstunde vom angrenzenden Klassenzimmer durch die Verbindungstür direkt in den Vorbereitungsraum. Dort sieht sie Arnolds Unterlagen liegen, auf seinem Arbeitsplatz, direkt am Fenster. Das Fenster ist gekippt. Die Stimmen vom darunter liegenden Pausenhof erfüllen den Raum. Aufmerksam gemacht durch das metallische Geräusch des Schlüsselbundes wandert ihr Blick zur Tür. Auf der anderen Seite balanciert Horst Arnold Schlüssel, Tasche und Modell. Seine Hände zittern. Es gelingt ihm nicht sofort, die Tür aufzuschließen. Mit dem Fuß stößt er sie auf. Dann sieht er Heidi K. Er ist irritiert. Er tritt ein. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
Als die Glocke das Ende der Pause bekanntgibt, setzt Heidi K. den Unterricht in ihrer Klasse pünktlich fort. Zwei Stunden Deutsch stehen auf dem Stundenplan. Thema an diesem Tag: »das lyrische Ich«. Danach fährt sie nach Hause.
Mittwoch, der 29. August 2001
Am Tag nach dem Zusammentreffen im Biologie-Vorbereitungsraum kommt Heidi K. pünktlich zur Schule, unterrichtet sechs Stunden. Auch dieser Tag ist warm, sommerlich. Am späten Nachmittag trifft sie sich auf Vermittlung des gemeinsamen Trainers, der glaubt, die zwei Frauen könnten in ihrer Spielanlage gut zueinander passen, zu einer Tennisstunde mit einer Kollegin. Die beiden Frauen kennen sich nicht. Weil die Kollegin Heidi K. auf Anhieb so sympathisch findet, entscheidet sie sich kurzerhand, sie zu einem Frauenstammtisch einzuladen, der sich an diesem Tag um acht Uhr zum ersten Mal in...