»Meine Narbe? Sie ist mein Markenzeichen.« Franck Ribéry spricht über seine Gesichtsnarbe. Gut zwei Jahre nach seiner Geburt am 7. April 1983 entging der kleine Franck dem Tod nur um wenige Zentimeter. Er fuhr mit seinen Eltern im Auto durch seine Heimatstadt Boulogne-sur-Mer, saß auf dem Rücksitz und war nicht angeschnallt. Plötzlich krachte sein Kopf mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe – der Wagen war gegen einen anderen geprallt. »Zu dieser Zeit gab es für die Rücksitze noch keine Anschnallpflicht«, erzählte François, sein Vater, einem Kollegen von mir. »Franck war schwer verletzt. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, weil er eine lange Zeit im Krankenhaus verbringen musste.«
Doch Franck überlebte. »Ich weiß, dass ich großes Glück hatte«, erinnert sich Ribéry. »Auf eine gewisse Art und Weise hat mir dieses Ereignis geholfen. Daran bin ich gewachsen. Für alles, was danach geschah, hat es mich eindeutig stärker gemacht, auch wenn es unerträglich war, wie mich die erwachsenen Menschen beobachtet und mich angeschaut haben.« Er erzählt eine Anekdote, die er bis heute nicht vergessen hat: »Ich war mit meinen Eltern unterwegs, und mich hat eine Frau mindestens zwei volle Minuten angestarrt, als wäre ich von einem anderen Planeten. Dann sind meine Mutter und mein Vater aufgestanden und haben sie gefragt: ›Hast du ein Problem? Passt irgendwas nicht?‹«
Franck musste mit den bösen Blicken leben, mit dem Spott auf den Straßen von Boulogne-sur-Mer. Die Narben sind ein wichtiger Teil von ihm, haben ihm mehr geholfen als geschadet. Ribéry ohne Narben? Das kann er sich selbst nicht mehr vorstellen. Das wäre nicht mehr dieselbe Person. Als Kind wurde er wegen seines Aussehens jeden Tag dumm angemacht. Er steckte ein, brach nicht selten in Tränen aus – allerdings niemals in der Öffentlichkeit. Und schließlich lernte er, sich zu wehren. Franck war immer ein sensibler Junge, der sich nie gern prügelte, sich aber auch nicht geschlagen geben wollte und sich stets verteidigte. Er ließ sich nicht allzu viel gefallen, ertrug keine Ungerechtigkeit. Es gab durchaus die eine oder anderere Schlägerei, allerdings auch nicht so oft, dass man sagen könnte, Franck wäre der Gewalttyp gewesen.
»Schon als Kind haben mich andere Kinder Quasimodo genannt. Können Sie sich das vorstellen? Das hat wahnsinnig wehgetan. Irgendwie habe ich dann meine ganze Wut in mein Spiel gepackt. Ohne diese Narbe wäre ich ein ganz normaler Typ. Nun habe ich einen starken Charakter und einen unglaublichen Willen. Ich bin stolz auf all das, was ich durchmachen musste. Es war nie einfach. Heute liebe ich mein Gesicht. Und ich liebe mein Leben.«
Mit Papa François, einem Erdarbeiter, Mama Marie-Pierre, einer Kauffrau, seinen zwei Brüdern François und Steven sowie seiner Schwester Ludivine lebte Franck in einer kleinen Plattenbauwohnung. Die Siedlung wird Chemin Vert genannt, was »Grüner Weg« bedeutet, sie hat 12.000 Einwohner und liegt in einem Ortsteil im Norden von Boulogne-sur-Mer. Die sozialen Verhältnisse sind schwierig in der verarmten Arbeiterstadt. Die Wohnblocks sehen alle gleich aus, überall stehen Plattenbauten. Die Fenster sind von Satellitenschüsseln übersät. Die Türen sind rostig, die Betonwände sind von tiefen Rissen durchzogen und sehen aus, als würden sie jede Sekunde zusammenstürzen.
Im Winter nieselt es endlos, und die Straßen sind meistens leer. Le Stade de la Libération (das Stadion der Freiheit) steht im Norden der Stadt, gegenüber vom Friedhof. Der Rasen ist in einem ausgezeichneten Zustand. Noch vor eineinhalb Jahren hat Boulogne-sur-Mer in diesem Stadion in der Ligue 1 gespielt, der höchsten Spielklasse Frankreichs. Nun wird dort 3. Liga gespielt. Als ich selbst bei einem Besuch dort zum Stadion fahre, fällt mir ein Schild auf: »RIBÉRY«. Ein rotes Schild, das auf die Tribüne weist, die nach ihm benannt worden ist. Hier hat man ihn nicht vergessen.
Am Chemin Vert ist wenig los. Das kleine Betonfeld, wo Ribéry früher einmal kickte, ist leer. Es sieht aus, als würde dort nichts mehr stattfinden. Tatsächlich trainieren hier im Sommer noch einige Männer, die vor zwanzig Jahren zusammen mit dem heutigen Wahlmünchner gespielt haben.
Das Gebäude, in dem er früher wohnte, existiert nicht mehr. Die Sozialwohnungen sind vor einigen Monaten abgerissen worden. Die Gegend wird aufgewertet. In dem Viertel, in dem Franck aufgewachsen ist, wird neu gebaut, da die meisten Gebäude inzwischen einsturzgefährdet sind. Seinen Eltern hat Franck ein kleines Haus in der Nähe des Stadions gekauft.
Die Armut der Einwohner bemerkt man in jedem Winkel dieser Hafenstadt. Aber sie sind stolz auf ihren »Francky«. »Regelmäßig kommt er uns besuchen«, erzählte Salim, der früher gegen Ribéry auf dem kleinen Betonfeld spielte. »Er ist der Gleiche geblieben. Er ist zuvorkommend, nett und offen. Der einzige Unterschied: Heute trägt er teurere Klamotten als früher.«
»Auf unserem Platz war er zweifellos der Beste von allen«, so Salim weiter. »Er war schnell, er konnte gut dribbeln, aber er war vor allem wahnsinnig kampfstark. Er war wie besessen. Schon damals hatte er diese Siegermentalität. Dass er es auf das höchste Niveau geschafft hat, überrascht mich nicht besonders.«
Die Jugendlichen verbringen viel Zeit in den Hauseingängen, manche von ihnen tragen das Bayern-Trikot mit der Nummer Sieben. In Boulogne-sur-Mer, oben auf den Klippen, liegt die Arbeitslosenquote bei mittlerweile mehr als 60 Prozent. Auch für Franck war die Zeit damals alles andere als leicht. Wenn er im Kopf nicht stark genug gewesen wäre, dann hätte er sich niemals durchsetzen können. Er war vollkommen auf sich allein gestellt. Und genau das ist, was ihn später so groß gemacht hat.
Mit sechs Jahren spielte Franck beim FC Conti, mitten in der Siedlung. Schon damals dachte er nur an den Ball. Tag und Nacht. Fußball war für ihn mit Abstand das Wichtigste. Auf dem Betonplatz des Chemin Vert verbrachte er viele Stunden mit seinen Kumpels. »Da haben wir täglich zwischen vier und fünf Stunden gekickt. Gespielt wurde jeweils vier gegen vier. Es gab eine Regel: Die Gewinner durften auf dem Platz bleiben und weiterspielen. Schon allein deswegen wollte ich immer gewinnen. Wir hatten das Flutlicht, damit wir bis ein oder manchmal sogar zwei Uhr nachts spielen konnten. Ab und zu kam sogar die Polizei vorbei, weil wir zu laut waren.«
Damals schaffte er es schon, den Ball 400-mal zu berühren, ohne dass er auf den Boden fiel. Es war die Zeit, in der Franck anfing, vom ganz großen Fußball zu träumen. Er war bereits zu dieser Zeit ein Kämpfer, und das bedeutete, dass er auch bei kleinen Spielen, selbst wenn es um nichts ging, grundsätzlich gewinnen wollte. Verlieren war keine Option. Verlieren war etwas, das Franck aus tiefstem Herzen verachtete, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Seine zweite Station: A.C.O. Aiglon, der Nachbarklub von Conti. Dort wurde er sofort zum Spielmacher. Er erzielte die meisten Tore. Von den Gegenspielern wurde er wegen seiner Narbe ständig aufgezogen und provoziert. »Quasimodo« war die übelste, aber auch die häufigste Beschimpfung, die er zu hören bekam. Nicht selten hieß es aber auch »hässliche Krähe« oder »Scarface«.
Seine Antwort: Er spielte seine Gegner mit dem Ball schwindelig und demütigte sie bis zum Umfallen. Seine technischen Raffinessen wurden schnell bemerkt. Ein Scout vom OSC Lille beobachtete ihn eine Zeit lang und unterbreitete Franck dann ziemlich bald ein Angebot, obwohl er erst 13 war. Um in die Fußballakademie des französischen Nordklubs aufgenommen zu werden, hätte er normalerweise mindestens 15 Jahre alt sein müssen. Aber für Ribéry wurde eine Ausnahme gemacht. Seine Eltern überlegten nicht lange und ließen ihren Sohn in die 140 Kilometer entfernte Stadt ziehen. Papa François hat auch heute keine Zweifel: »Mein Sohn war für den Fußball geeignet. Man durfte ihm keinen Stein in den Weg legen. Die Zukunftsperspektiven in Boulogne-sur-Mer waren ja eher düster. Das war die Chance, die er einfach nutzen musste.«
In Lille hatte er keinen Vertrag. Von seinem Verein bekam er kein Gehalt, sondern ein Taschengeld. Damit konnte er ins Kino gehen oder kleine Ausflüge ans Meer machen. Gleichzeitig wurden ihm einmal im Jahr neue Fußballschuhe geschenkt, und zwar vom A.C.O. Aiglon, aus Dankbarkeit, weil er bei seinem alten Verein noch beliebt war und auch weil man ihm Mut für seine Zukunft machen wollte.
Insgesamt blieb er drei Jahre im Internat des OSC Lille. Innerhalb dieser Zeit stellte sich heraus, dass Franck nur sehr langsam wuchs, weshalb die Verantwortlichen nicht recht an ihn glauben wollten. Sie entschieden sich schließlich gegen Ribéry – wegen seiner körperlichen Nachteile und zudem weil er seinen Traum vom Fußball so unbedingt verwirklichen wollte, dass er darüber die Schule vernachlässigte. Aufs Lernen hatte er einfach keine Lust. Im Januar 1999 kehrte er nach Boulogne zurück, traurig und frustriert. »Ich war gut am Ball, aber sie fanden, dass ich zu klein war. Das ist der wahre Grund und nicht, wie sie kolportiert haben, dass ich zu schlecht in der Schule war oder mich geprügelt hätte.« Nichtsdestotrotz steht Franck bis heute in Kontakt mit ein paar Leuten vom OSC Lille, die noch beim Verein arbeiten.
Am Chemin Vert lief er schließlich mit der Jugendmannschaft des USBCO Boulogne auf. Ribéry bekam 150 Euro im Monat. Mit dem USBCO stieg er in die 3. Liga auf. Sein erster kleiner...