VORWORT
Diese biografische Studie erwuchs aus einer einzigen Beobachtung: wie seltsam es doch ist, dass J.R.R. Tolkien gerade im Ersten Weltkrieg begann, seine gewaltige Mythologie zu erschaffen – mitten in der Krise, mitten in jener allgemeinen Entzauberung, aus der die Moderne hervorging.
Sie erzählt von seinem Leben und ersten Versuchen als Schriftsteller in den Jahren 1914–1918, beschreibt die frühen Entwürfe seiner ersten erfundenen »elbischen« Sprache im letzten Studienjahr in Oxford, schildert die Erweiterung seines Horizonts während der harten militärischen Ausbildung und der schreckensvollen Zeit als Fernmeldeoffizier an der Somme, bis hin zu den zwei Jahren, in denen er als chronisch Kranker an Großbritanniens Küste Wache stand und die ersten Erzählungen seines Legendariums niederschrieb.
Dabei bin ich weit über die reinen Kriegserlebnisse hinausgegangen und habe versucht, die breit gefächerten Interessen Tolkiens und die Quellen seiner Inspiration darzustellen. Anhand seiner ersten linguistischen Arbeiten und Gedichte zeige ich, wie seine Mythologie entstand und eine erste Blüte im Buch der Verschollenen Geschichten, dem Vorläufer des Silmarillions, erlebte – Erzählungen, die nach Tolkiens Vorstellung von einer lang vergessenen Welt künden, von der wir durch die Überlieferung der Elben erfahren und die Tolkien später Mittelerde nannte. Zudem habe ich viele seiner frühen Gedichte ausführlich kommentiert, eines davon (›The Lonely Isle‹, ›Die Einsame Insel‹) erscheint hier seit der lang vergriffenen Erstveröffentlichung von 1920 zum ersten Mal in voller Länge. Ich hoffe, Tolkiens früher Lyrik und Prosa gerecht geworden zu sein. Sie verdienen es, nicht nur als Jugendwerke betrachtet zu werden, sondern als Zeugnisse von der Vorstellungswelt dieses einzigartigen Schriftstellers im Frühling seiner Fähigkeiten, die bereits damals schon so lebendig, voller Details und tiefer Einsichten war, beeindruckend in ihrem Weitblick und der gewichtigen Themenwahl.
Eines meiner Anliegen war, Tolkiens kreative Entwicklung in den Kontext des internationalen Konflikts und der mit ihm einhergehenden kulturellen Umbrüche zu stellen. Eine große Hilfe war mir zum einen, dass die lange unter Verschluss gehaltenen Aufzeichnungen britischer Offiziere aus dem Ersten Weltkrieg freigegeben wurden. Zudem gewährten mir die Nachlassverwalter von Tolkien Estate freundlicherweise nicht nur Einblick in Tolkiens persönliche Aufzeichnungen, sondern auch in die so außergewöhnlichen und bewegenden Briefe der TCBS – jenes Zirkels früherer Schulfreunde, die in ihrem Leben so viel hatten erreichen wollen, dann aber die schlimmsten Härten und die Tragödie ihrer Zeit erlebten. Und schließlich half mir auch die Familie von Tolkiens wunderbarem Freund Rob Gilson, indem sie mir großzügig uneingeschränkten Zugang zu all dessen Aufzeichnungen gewährte. Die miteinander verwobenen Geschichten von Gilson, Geoffrey Bache Smith, Christopher Wiseman und Tolkien – sowohl die Gemeinsamkeiten ihrer Visionen als auch die manchmal hitzigen Meinungsverschiedenheiten – tragen meiner Meinung nach viel dazu bei, Tolkiens Motivation als Schriftsteller zu verstehen.
Zwar hat Tolkien in den Briefen an seine Söhne Michael und Christopher, als diese im Zweiten Weltkrieg selbst Soldaten waren, oft über seine eigenen Kriegserlebnisse berichtet, doch hat er weder eine Autobiografie noch Memoiren hinterlassen. Unter seinen Aufzeichnungen aus Kriegszeiten liefert ein knappes Tagebuch kaum mehr als Angaben über die Truppenbewegungen, an denen er während seines Einsatzes in Frankreich teilhatte. Andererseits gibt es eine Fülle sehr detaillierter Informationen über die Schlacht an der Somme, sowohl in veröffentlichter als auch archivalischer Form, und so konnte ich die Monate, die Tolkien dort verbrachte, recht präzise nachze ichnen – die Wege verfolgen, die er mit seinem Bataillon an bestimmten Tagen zurücklegte und einzelne Ereignisse und Szenen rekonstruieren.
Es sollte hier angemerkt werden, dass zwar das Quellenmaterial zu den Bataillonen von Smith und Gilson bereits ausführlich gesichtet und von Michael Stedman bzw. Alfred Peacock veröffentlicht wurde, zu Tolkiens Bataillon jedoch seit mehr als fünfzig Jahren kein vergleichbarer Versuch unternommen wurde. Überhaupt gibt es meines Wissens nach keine Arbeit, die sich in vergleichbarem Ausmaß auf die Berichte von Augenzeugen stützt, und so schildert dieses Buch erstmals die Erlebnisse der 11th Lancashire Fusiliers an der Somme. Da es mir aber nicht zuvorderst um militärische Einzelheiten ging, habe ich mich bemüht, den Text nicht mit den Namen von Schützengräben und anderen verloren gegangenen Orientierungspunkten (von denen es oft verschiedene Varianten im Französischen, dem offiziellen und dem umgangssprachlichen Englisch gibt), mit geografischen Bezügen oder der genauen Aufstellung der Divisionen und Brigaden zu überfrachten.
Allein das immense weltweite Interesse an Tolkien scheint mir als Rechtfertigung für eine solche Arbeit zu genügen; doch sie wird hoffentlich auch all jenen nützlich sein, die sich für Tolkiens Schilderungen der mythischen Schlachten interessieren, vom alten Beleriand bis zu Rhûn und Harad; und all denen, die meine Überzeugung teilen, dass der Erste Weltkrieg bei der Entstehung von Mittelerde eine entscheidende Rolle spielte.
Im Verlauf meiner Forschungen erschien es schließlich nicht mehr verwunderlich, doch zugleich nicht weniger außergewöhnlich, dass Tolkien gerade inmitten des Ersten Weltkriegs seine Vorstellung von einer vergangenen Welt entwickelte. Kurz gefasst bin ich der Überzeugung, dass Tolkien mit seiner Mythologie viel Erhaltenswertes aus den Trümmern der Geschichte rettete. Doch er tat weit mehr, als nur die Tradition der alten Elfengeschichten zu erhalten: Er erschuf sie in neuer Form und erweckte sie im Zeitalter der Moderne zu neuem Leben.
Der biografische Anteil des Buches war allerdings schließlich so umfangreich, dass es mir am besten erschien, meine Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Leben und Werk auf einige wenige Kommentare zu beschränken und sie dafür ausführlich in einem »Postskriptum« darzulegen. Wer Tolkiens Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gelesen hat und auch den Hobbit, den Herrn der Ringe oder das Silmarillion und seine Vorläufer kennt, wird bei Bedarf selbst genauer schlussfolgern können, in welcher Weise diese Geschichten vom Krieg beeinflusst wurden.
Vielleicht hätte ein solches Vorgehen auch Tolkiens Zustimmung gefunden, wenn er denn die biografische Interpretation seines Lebens überhaupt geduldet hätte. Einige Jahre nach der Veröffentlichung des Herrn der Ringe antwortete er auf eine Anfrage:
Ich habe etwas gegen diese moderne Tendenz in der Kritik, mit ihrem übertriebenen Interesse an den Einzelheiten aus dem Leben von Schriftstellern und Künstlern. Sie lenken nur die Aufmerksamkeit vom Werk eines Autors ab … und werden am Ende dann, wie man heute oft sieht, zum hauptsächlichen Interesse. Aber nur der Schutzengel eines Autors, vielleicht sogar nur Gott selbst könnte die wahre Beziehung zwischen den persönlichen Lebensumständen und den Werken eines Autors aufdröseln. Der Autor selbst kann es nicht (obwohl er mehr weiß als jeder Nachforschende), und ein sogenannter »Psychologe« schon gar nicht.
Ich maße mir keinerlei göttlichen Einblick in Tolkiens Geist an und gebe auch nicht vor, sein Psychiater zu sein. Ich war nicht auf schockierende oder skandalöse Einzelheiten aus, sondern habe mich immer nur auf die Dinge konzentriert, die meiner Meinung bei der Entstehung seines Legendariums eine Rolle gespielt haben. Ich hoffe, dass ich ein wenig Licht auf das Mysterium dieser Entstehung werfen konnte – indem ich beschrieb, wie ein fantasiebegabtes Genie die große Krise erlebte.
Alle Interpretationen und Auslegungen geben meine eigenen Ansichten wieder, nicht diejenigen von Tolkiens Familie oder von Tolkien Estate. Ich bedanke mich jedoch für die Erlaubnis, aus Tolkiens unveröffentlichten und veröffentlichten Schriften zu zitieren.
Auch darüber hinaus ist beim Schreiben des Buches eine große Dankesschuld entstanden. Zuallererst möchte ich Douglas A. Anderson, David Brawn und Andrew Palmer für ihren Rat und ihre Unterstützung danken, die über jede Verpflichtung und jeden Freundschaftsdienst hinausging. Ohne ihre Hilfe sowie die von Carl F. Hostetter und Charles Noad hätte ich dieses Buch nie vollenden können. Ganz besonders möchte ich meiner Dankbarkeit gegenüber Christopher Tolkien Ausdruck geben, der nicht nur großzügig die persönlichen Schriften seines Vaters, sondern auch einen beträchtlichen Teil seiner eigenen Zeit mit mir teilte; seine scharfsinnigen Kommentare haben mich vor so manchen Fallstricken bewahrt und die letztendliche Fassung von Tolkien und der Erste Weltkrieg geprägt. Bedanken möchte ich mich auch bei Julia Margretts und Frances Harper, die mir leihweise Briefe und Fotografien von R.Q. Gilson überlassen haben. Und ich danke Christophers Wisemans Witwe Patricia und ihrer Tochter Susan Wood, die sich entgegenkommenderweise mit meinen Fragen befassten und mir erlaubten, aus seinen Briefen zu zitieren.
David Doughan, Verlyn Flieger, Wayne G. Hammond, John D. Rateliff, Christina Scull und Tom Shippey haben mir alle mit ihrer Sachkenntnis und ihrem Verständnis der vielfältigen Aspekte von Tolkiens Leben und seinem Werk geholfen. Insbesondere die wegweisende Arbeit des Letzteren, Der Weg nach Mittelerde, hat mein Verständnis von Tolkiens Werk erweitert. Ohne die Hilfe von Christopher Gilson,...